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Kapitel 2

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Am Tag der Abreise frühstückten sie morgens in aller Ruhe. Die Koffer hatten sie bereits am Abend zuvor gepackt. Als Pascal das Gepäck ins Auto trug, fiel Leonie ein, dass sie ihre Eltern noch nicht über ihre Urlaubspläne informiert hatte. Sie griff nach dem Telefon, ihr Vater meldete sich.

„Hallo, Paps“, begrüßte sie ihn fröhlich. „Weißt du, wozu wir uns spontan entschlossen haben?“

„Ich bin doch kein Hellseher, mein Kleines“, antwortete ihr Vater, der sich längst an die Überraschungen seiner Tochter, die er über alles liebte, gewöhnt hatte. „Spann mich nicht auf die Folter!“

„Wir fahren ein paar Tage weg und holen unseren Hochzeitstag nach.“

„Das ist eine gute Idee. Wo soll es denn hingehen, falls ich dich erreichen muss?“

„Wir fahren ans Ende der Welt, Paps. Meine Handynummer hast du, falls du sie benötigst.“

„Ende der Welt? Das kann überall sein. Wohin genau?“, wollte ihr Vater wissen.

„Das Ende der Welt befindet sich für mich in der Abgeschiedenheit der Berge. Ich bin gespannt, wie es dort aussieht. Hoffentlich ist die Erde wirklich eine Kugel und keine Scheibe, damit ich nicht über den Rand falle, ins Weltall plumpse und mir den Kopf an einem Meteoriten stoße.“

„Was hast du dir in den Kaffee geschüttet, mein Kind?“ Ihr Vater lachte laut. „Aber mal im Ernst: Solltest du dennoch über den Rand stolpern, so würdest du mit Sicherheit der schönste und hellste Stern werden, der nachts am Firmament leuchtet.“

„Paps, rede nicht solchen Unsinn!“, maulte Leonie. „Ich möchte noch ein wenig meine Kreise auf dem Erdball ziehen, hier strahlen und nicht im All. Aber danke für diese charmante Illusion.“

„Dass du aber so einfach wegfährst, ohne mir einen Abschiedskuss zu geben, werde ich dir nie verzeihen“, schmollte der Vater.

„Ach, Paps“, schmeichelte sie.

„Kommst du endlich?“, rief Pascal in diesem Moment mit einer Stimme, die leichten Ärger verriet. Er konnte zu warten gar nicht leiden, insbesondere wenn Leonie am Telefon kein Ende fand. „Ich bin schon lange fertig mit Packen. Telefonieren kannst du auch im Auto, wie du weißt.“

Zur gleichen Zeit sagte ihr Vater: „Ich wünsche euch einen schönen Urlaub. Melde dich bitte von dort, damit ich weiß, dass es dir gut geht. Und grüße Pascal von mir.“

„Mach ich, Paps, und gib Mama einen Kuss von mir!“

Leonie legte schnell den Hörer auf, ergriff ihren Reiserucksack und stürmte die Treppe hinunter aus dem Haus. Pascal stand wartend am Wagen und knurrte: „Dass ich das noch erleben darf …“

Anstatt einer Antwort gab Leonie ihm einen zärtlichen Kuss und stieg ein.

„Nichts vergessen?“, fragte Pascal überflüssigerweise, denn Leonie galt als Organisationswunder, wo immer etwas auszurichten war.

„Mein Vater klang so irritiert am Telefon darüber, dass wir nichts haben verlauten lassen. Lass uns noch bei meinen Eltern vorbeifahren, um uns zu verabschieden. Es ist doch kein großer Umweg.“ Bittend sah Leonie ihren Mann an.

„Wenn das kein längerer Aufenthalt wird, meinetwegen“, grummelte Pascal. Er wollte die gute Stimmung nicht gefährden.

Ihr Vater begrüßte sie erfreut an der Haustür: „Ich hätte dir nie verziehen, meine kleine Löwin, wenn du diesen unwesentlichen Schwenker nicht noch vollzogen hättest.“

Er nahm sie in den Arm, strich ihr über ihre rotblonde Löwenmähne und gab ihr einen Kuss.

„Ach, Paps, du wirst doch wohl ein paar Tage ohne mich auskommen.“

Inzwischen war auch ihre Mutter aus dem Haus gekommen.

„Ihr fahrt in Urlaub?“, fragte sie, „einfach so? Müssen wir uns um euer Haus kümmern, Blumen gießen? Wie lange bleibt ihr denn?“

Pascal unterbrach ihren Redeschwall: „Es ist alles geregelt, Mutter, mach dir keine Sorgen. Wir sind zwar eure Kinder, gehen aber nicht mehr in den Kindergarten.“ Er hasste jegliche Art von Bemutterung. „Nun müssen wir aber los, wir wollen uns heute Abend eine Opernaufführung ansehen und möchten rechtzeitig unsere Zwischenstation erreichen.“

Leonie küsste ihren Vater noch einmal, überaus innig sogar, dann ihre Mutter. Auch Pascal verabschiedete sich von seinen Schwiegereltern mit einem Kuss. Schließlich stiegen sie ein und winkten, bis sie hinter der nächsten Straßenkreuzung abgebogen waren.

„Findest du diese plötzliche Idee nicht etwas merkwürdig, Lieber?“, fragte Leni Markgraf ihren Mann, als sie zurück ins Haus gingen. „Leonie erzählt dir doch sonst immer alles. Baut sie neuerdings zu dir dieselbe Distanz auf wie zu mir?“

Johann Markgraf ließ die Frage unbeantwortet im Raum schweben. In der Tat war es das erste Mal, dass Leonie ihn nicht in ihre Pläne eingeweiht hatte. Sie wird es schlichtweg vergessen haben, hakte er das Thema für sich ab.

Im Wagen fragte Pascal, nachdem sie auf die Autobahn aufgefahren waren: „Welches Hotel hast du für heute Abend gebucht, Liebes?“

„Wo wir schon einmal übernachtet haben. Erinnerst du dich?“

„Oh ja, das war eine wunderschöne Nacht, falls mich meine Erinnerung nicht im Stich lässt.“

„Ja.“ Leonie sah aus dem Fenster. „Damals konnten wir uns einmal Zeit füreinander nehmen.“

„Das werden wir auch dieses Mal“, versicherte Pascal. „Hier und heute fangen wir damit an. Versprochen! Jedenfalls will ich nicht der Hemmschuh sein.“

„Hier?“, Leonie lachte. „Dann halt auf dem nächsten Rastplatz an!“

„Auf der Autobahn?“ Pascal sah spitzbübisch feixend zu ihr hinüber.

„Parkplatzsex soll en vogue sein, habe ich gelesen.“ Leonie grinste verschmitzt.

„Was du alles so liest …“

Dabei ließ Pascal es bewenden. Sie einigten sich darauf, bis zum Hotel zu warten. Er steuerte den Wagen ohne Hast südwärts.

Während der Fahrt riss ihre Unterhaltung immer mehr ab, Pascal konzentrierte sich auf den Verkehr, Leonie duselte ein wenig ein. An einer Raststätte legten sie einen Zwischenstopp ein, um sich die Beine zu vertreten und einen Imbiss einzunehmen.

Am späten Nachmittag erreichten sie die Unterkunft, die Leonie ausgewählt hatte: ein bekanntes Fünfsternehotel, in dem allerlei Prominente und solche, die sich dafür hielten, nächtigten und sich verwöhnen ließen.

„Was machen wir jetzt?“, fragte Leonie. „Sicher möchtest du dich ein wenig ausruhen, nachdem du mich so wunderbar hierher kutschierst hast. Ich glaube, ich habe unterwegs sogar geschlafen.“

„Ich möchte am liebsten nur meine Beine ein bisschen ausstrecken, das habe ich mir doch wohl verdient?“

Leonie küsste ihn. Sie entledigten sich ihrer Oberbekleidung und legten sich auf ihre Betten. Pascal döste sofort ein. Leonie nahm eine Illustrierte zur Hand, gab aber vorsichtshalber eine Weckzeit in ihr Handy ein. Sie wollte sich ohne Hast schön machen für den Opernabend, für Pascal, auch für sich. Trotz ihrer angeborenen Zurückhaltung genoss sie die Blicke, die Männer ihr zuwarfen.

Leonie erschrak, als sich ihr Handy schrill meldete, denn sie war in einen Halbschlaf gefallen. Die Illustrierte lag auf dem Boden neben dem Bett.

Sie streckte sich, warf einen Blick auf Pascal, der friedlich schlummerte, und begab sich ins Bad. Dort ließ sie sich in der komfortabel ausgestatteten Dusche von deren Düsen von oben und allen Seiten bestrahlten. Das warme Wasser sprudelte sanft über ihre Haut, eine Labsal nach der Autofahrt. Sie schäumte sich genüsslich mit einem sündhaft teuren Duschgel ein, das sie vor der Abfahrt noch in einer Parfümerie erstanden hatte, das ihre Haut mit einem sommerfrischen Duft versah.

Noch länger hätte sie verweilen mögen, doch ein Blick auf die Uhr, die in der Kabine an der Wand hing, erinnerte sie daran, dass sie mit ihren Abendvorbereitungen noch lange nicht fertig war. Außerdem musste sich Pascal auch noch frisch machen.

Sie stellte sich vor den großen Spiegel und föhnte ihr schulterlanges rotblondes Haar. Danach legte sie dezent Schminke auf und parfümierte sich. Ein letzter Blick in den Spiegel: Sie nickte ihrem Spiegelbild zu. Ihr sportlich durchtrainierter Körper, mit Brüsten, nicht zu groß, nicht zu klein, ähnelte dem harmonischen Bild einer klassischen Statue. „Du kannst dich sehen lassen, Leonie Lambert“, bescheinigte sie zufrieden ihrem Spiegelbild. Sie verließ das Bad, um es Pascal zu überlassen.

Als sie den Schlafraum betrat und er sie in ihrer verlockenden Nacktheit erblickte, konnte er nicht anders, als nach ihr zu greifen. Sie entwand sich ihm jedoch und machte ihn auf die fortgeschrittene Uhrzeit aufmerksam. Widerstrebend knurrte Pascal: „Beschwere dich nachher nicht, dass ich dich vernachlässige!“

Lachend gab sie zurück: „Wer hat denn vorgezogen, eine Stunde zu schlafen? Ich hätte schon Lust gehabt … Nun beeil dich ein bisschen, sonst gehe ich ohne dich in die Oper.“

Sie entnahm dem Koffer ihre hauchzarten Dessous, mit denen sie ihre elfenhafte Sinnlichkeit Geltung verlieh, und streifte sie über. Darüber ein neues, raffiniert geschnittenes Kleid, das sie sich erst neulich zugelegt hatte, lang, schwarz, figurbetont, im Schulterbereich und Dekolleté verführerisch freizügig. Dazu wählte sie ein buntes Seidentuch, um ihre Schultern zu bedecken, und hochhackige Sandaletten. Als Schmuck legte sie eine schlichte Goldkette mit einem Bernsteinherzen an. Eine letzte kritische Begutachtung im Spiegel: perfekt!

Leonie bemerkte erst, dass Pascal bereits eine Weile nackt in der Tür stand und sie bewunderte, als er murmelte: „Umwerfend. Ich bin hin- und hergerissen.“

„Umwerfen kannst du mich später“, wehrte sie ihn ab, als er auf sie zukam. „Vergiss nicht, dass wir in die Oper wollen! Deswegen sind wir doch hier.“

Als auch Pascal endlich angekleidet war, wie immer ohne Krawatte – einen Smoking besaß er nicht einmal, hätte ihn auch niemals getragen –, fragte er grinsend: „Tragen dich diese Schuhe die paar Meter unfallfrei hinüber ins Opernhaus oder soll ich ein Taxi kommen lassen?“

„Blödmann, wenn schon erwarte ich, dass du mich trägst“, entgegnete sie, schnappte nach ihrem Handtäschchen mit den Utensilien, ohne die sie niemals das Haus verließ, und ging los.

Die Temperatur draußen war noch angenehm warm, die meisten Besucher, die auf das Opernhaus zuströmten, waren sommerlich elegant gekleidet.

Als sie sich in den Besucherstrom einreihten, fiel Leonie auf, dass man sie immer wieder verblüfft anstarrte und zu tuscheln begann. Sie dachte sich nichts dabei, hatte sich längst daran gewöhnt, Aufmerksamkeit zu erregen. Als ihr Blick auf das Plakat fiel, das den Fliegenden Holländer ankündigte, fuhr sie zusammen. Sie blieb stehen, ihre Augen konnten sich von dem Aushang nicht lösen. Sie erbleichte.

„Ist dir nicht gut?“, fragte Pascal, dem die plötzliche Veränderung nicht entgangen war.

Leonie reagierte auf seine Frage nicht, schien sie nicht einmal vernommen zu haben, stierte nur auf das Plakat und rührte sich nicht von der Stelle.

„Leonie!“ Er griff nach ihrem Oberarm. „Was ist los mit dir?“

Sie erwachte aus ihrer Starre und setzte sich mit weichen Knien wieder in Bewegung.

„Oh, entschuldige bitte, es ist alles in bester Ordnung. Lass uns unsere Plätze einnehmen. Ich bin sehr auf die Aufführung gespannt.“

Pascal schüttelte den Kopf, ging aber nicht weiter auf ihr merkwürdiges Verhalten ein.

Als sie Platz genommen hatten, versank Leonie ins Grübeln. Konnte es Zufall sein, was sie auf dem Plakat gesehen und was sie aus der Fassung gebracht hatte? Sie vermeinte sogar, eine innere Stimme zu vernehmen, die ihr bekannt vorkam. Der Holländer, den die Ankündigung zeigte, sah genauso aus wie der Mann, der ihr in letzter Zeit immer wieder in ihren Träumen erschienen war und nach ihr gerufen hatte. Zudem hatte die Senta in dieser Besetzung, Inga Persson, eine unverkennbare Ähnlichkeit mit ihr, was selbst Pascal aufgefallen war. Was ging hier vor? Sie hatte noch nie an Zufälle geglaubt.

Das Erscheinen des Dirigenten und die sofort einsetzende Ouvertüre unterbrachen für einen Moment ihr Grübeln, doch es gelang ihr nicht, in die Musik einzutauchen, wie es sonst immer der Fall war. Ihr Kopf war nicht frei, ihr Herz pochte wild. Sie fürchtete gar, dass die Leute, die neben ihr saßen, das Pochen vernehmen konnten.

Als im ersten Akt der Holländer die Bühne betrat und seinen großen Monolog anstimmte, davon sang, dass seine Frist um sei, war es um sie geschehen. Godfree gestaltete den Mann, von dem sie seit Wochen träumte. Er war der Geheimnisvolle, der mit ihr in Verbindung getreten war: die hagere Gestalt, die langen schwarzen Haare, die bis auf seine Schultern reichten, vor allem dieser stechende, hypnotisierende Blick. Unfassbar diese Ähnlichkeit!

Wie konnte dieser Sänger in ihre Träume gelangt sein, obwohl sie ihn nie zuvor gesehen hatte, nicht einmal auf einem Foto? Oder war er ein Zwilling ihrer Traumerscheinung? „Die Frist ist um“, hatte er bei seinem Auftritt gesungen. War es nur die Rolle, die er zu verkörpern hatte, oder war sie gemeint, war sie angesprochen, galt die Botschaft ihr? Oder war alles nur das Trugbild eines verwirrten Geistes, ihres Geistes? Befand sie sich auf dem Weg, verrückt zu werden? Nahmen Dämonen von ihr Besitz? Dazu ihre verblüffende Ähnlichkeit mit der Senta auf der Bühne.

Kalte und heiße Schauder liefen abwechselnd ihren Rücken hinunter. Als der erste Akt beendet war und die Lichter aufleuchteten, kam es ihr vor, als wäre sie gerade aus einem Albtraum erwacht.

Wie aus weiter Ferne hörte sie Pascals Stimme: „Wollen wir ein Glas Sekt trinken, Liebes?“

„Ja, gerne“, antwortete sie automatisch, „stell dich schon mal an, ich gehe derweil mal für Damen. Du weißt schon.“

Sie musste sich dringend ein wenig frisch machen, aufgewühlt, wie sie sich fühlte. Ihr Gesicht war von den Eindrücken, die auf sie einwirkten, mit einem feinen Schweißfilm überzogen. Auch im Toilettenraum bemerkte sie die heimlichen Blicke, die auf sie gerichtet waren, konnte den Grund inzwischen allerdings nachvollziehen. Als sie wieder ins Foyer hinaustrat, wartete Pascal bereits mit zwei Gläsern in der Hand auf sie. Sie gesellte sich zu ihm, nahm dankbar das Glas entgegen und leerte es in einem Zug.

„Hat dich der Holländer so durstig gemacht?“, fragte er schmunzelnd. „Die Luft ist in der Tat ziemlich trocken im Parkett. Noch ein Glas Sekt oder lieber ein Wasser?“

„Wasser, bitte“, antwortete sie geistesabwesend. Pascal reihte sich in die Wartenden vor der Getränketheke ein.

„Wie gefällt dir der Godfree? Du bist bei Gesangssolisten gewöhnlich ja noch kritischer als ich“, fragte er, nachdem er mit einer Flasche Wasser zurückgekommen war.

Leonie erschrak. Das hatte Pascal nicht verdient, dass sie so geistesabwesend war. „Seine Stimme ist gut“, versuchte sie sich auf den Small Talk zu konzentrieren. „Irgendwie sehr erotisch, finde ich. Er verkörpert die Rolle, als hätte Wagner sie für ihn geschrieben.“

„Höre ich da ein Aber?“

Leonie überlegte einen Moment, wie sie sich ausdrücken sollte, bevor sie den Satz vollendete: „Aber er ist mir irgendwie …“, sie zögerte unsicher, „unheimlich.“

„Unheimlich? Geht die Fantasie mal wieder mit meiner schönen Frau durch? Die Rolle an sich ist unheimlich, zumindest in den Augen von Seeleuten.“

Leonie ließ die Frage offen, der Gong rief sie zurück auf ihre Plätze.

Im zweiten Akt, der eine Spinnstube zeigte, hing ein überdimensional großes Bild des Holländers an der Wand. Der Blick seiner Augen stach ihr mitten ins Herz. Als die Senta in ihrer Auftrittsarie ihre Sehnsucht nach dem Fremden auf dem Gemälde besang, war Leonie, als sei sie es, die all ihr Sehnen, all ihr Verlangen, all die Sinnlichkeit, zu der sie fähig war, in verträumten Gesang umsetzte.

Im dritten Satz bescherte Senta, bescherte Leonie in ihrer Fantasie dem Holländer jene Erlösung, deretwegen er viele Jahre das Meer als Schrecken aller Seeleute befahren hatte auf der Suche nach ihr.

Erlösung!

Dieses Wort ging Leonie nicht mehr aus dem Kopf. Suchte sie etwa auch danach wie die Protagonistin? Aber Erlösung wovon? War sie nicht glücklich? Hatte sie nicht einen lieben Mann, Eltern, die sie vergötterten, ein gutes Leben, einen Beruf, der sie ausfüllte? Ihr schien der Kopf zu zerspringen, so sehr quälten sie Fragen, auf die sie keine Antworten fand. Oder war es der geheimnisvolle Fremde, der in ihren Träumen nach Erlösung suchte? Erwartete er ihren Beistand? Warum?

Erst der stürmische Applaus am Ende der Vorstellung riss sie aus ihren Wachträumen. Nach minutenlangen Ovationen gaben ihr beim Aufstehen die Knie nach. Sie hakte sich bei Pascal ein, benötigte Halt.

„Wollen wir noch irgendwo etwas essen gehen?“, hörte sie ihn von weither fragen und bemerkte seinen besorgten Blick. „Du siehst aus, als hättest du großen Hunger.“

„Sei mir nicht böse, aber mir ist nicht danach zumute. Mich hat urplötzlich eine Migräne befallen. Ich fürchte fast, der Abend ist für mich gelaufen.“

„Gut, dann gehen wir zurück ins Hotel und trinken an der Bar noch einen Absacker. Vielleicht können wir dort auch noch einen kleinen Imbiss zu uns nehmen“, schlug Pascal vor. „Etwas essen muss ich noch, mein Magen beschwert sich unüberhörbar über Vernachlässigung.“

Im Hotel angekommen, setzten sie sich an ein Tischchen an der Bar. Pascal bestellte sich einen Whisky und für Leonie einen alkoholarmen Cocktail. Leonie entschied sich, doch noch einen Toast zu nehmen, während Pascal sich ein Pfeffersteak mit Pommes und Salat sowie eine Karaffe Rotwein bestellte.

Nachdem sie gegessen hatten, sagte Leonie: „Pascal, sei mir, bitte, nicht böse, ich möchte mich hinlegen. Du kannst gerne an der Bar bleiben, wenn du magst. Es sitzen noch ein paar attraktive Damen hier, wie dir kaum entgangen sein dürfte.“

„Deine Großzügigkeit weiß ich sehr zu schätzen, aber wir haben morgen einen anstrengenden Tag vor uns“, antwortete er. „Ich denke, ich sollte auch ausgeruht sein. Ich gehe mit dir hoch.“

Als Leonie in ihrem hauchfeinem Negligé aus dem Bad kam und sich ins Bett legte, drehte sich Pascal zu ihr um und holte Luft: „Liebes, ich kenne ein ziemlich gutes Mittel gegen Migräne.“

„Bitte, heute nicht“, wehrte sie ab, „wir haben doch noch viele Stunden Gelegenheit in unserem Urlaub.“

Sie küsste ihn eher flüchtig denn zärtlich. Er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass sie wieder weit weg war. Verdrossen nahm er ein Magazin zur Hand und las noch einen längeren Artikel, der ihn interessierte.

Leonie hingegen tat, als ob sie eingeschlafen wäre, doch quälten sie Gedanken, die auf sie einstürmten, die einzuordnen ihr nicht gelang. Endlich fiel sie in einen unruhigen Schlaf.

Finisterre

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