Читать книгу Finisterre - Claus Karst - Страница 7
Kapitel 3
ОглавлениеAm nächsten Morgen erwachte Leonie früh. Ihr Schlaf hatte ihr nur wenig Erholung gebracht. Ein Blick in den Spiegel ließ sie zusammenfahren. Unter ihren Augen hatten sich dunkle Ränder gebildet, ihre Gesichtshaut kam ihr fahl vor, trotz der gesunden Farbe, die ansonsten ihre Haut zierte.
Pascal lag noch im Bett und beobachtete sie heimlich. Ihr Aussehen gefiel ihm gar nicht. War sie plötzlich etwa krank geworden? Als sie von daheim losgefahren waren, schien sie fröhlich und guter Dinge gewesen zu sein wie schon lange nicht mehr, schien sich auf die Zeit des gemeinsamen Losgelöstseins von der täglichen Routine zu freuen.
Er überlegte, wann er ihre Veränderung bemerkt hatte. In der Oper? Was konnte dort passiert sein? Er nahm sich vor, sie danach zu fragen, aber nicht jetzt.
„Geht es dir besser heute Morgen, mein Schatz?“, erkundigte er sich fürsorglich.
„Ich denke, nach einer ausgiebigen Dusche und einem kleinen Frühstück wird es mir besser gehen. Die Kopfschmerzen sind auf dem Weg, sich zu verziehen.“
Sie kam herüber zu ihm ans Bett, beugte sich hinunter, hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Schnell schlüpfte sie ins Bad, ehe er nach ihr greifen konnte.
Bald darauf hörte Pascal das Wasser in der Dusche rauschen. Er suchte und fand seine Brille. Ein flüchtiger Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass es noch früh war. Er schälte sich ebenfalls aus den Bettlaken, zog seinen Jogginganzug an und rief ins Bad: „Lass dir Zeit! Ich jogge eine Runde. Wir sitzen heute noch lange genug im Auto, fürchte ich. Das Frühstück schmeckt mir danach auch besser.“
„Mach das, bis gleich“, rief sie zurück. „Pass auf, dass du nicht stolperst und dir ein Bein brichst.“
Wie kommt sie nur auf diese Idee?, fragte er sich und lief los. Er hatte bei der Ankunft am Tag zuvor gesehen, dass vom Hotel aus eine Rundstrecke markiert war. Das Laufen im Wald tat ihm gut und pumpte Sauerstoff in seine Lunge. Er genoss die körperliche Anstrengung. Sie verdrängte die Gedanken, die er sich um Leonie und ihr Verhalten machte. Sie hatten sich schließlich vorgenommen, die Urlaubstage zu einer Auffrischung ihrer Beziehung zu nutzen. Doch heute Morgen schien es ihm fast, als wäre sie froh, wenn er sie in Ruhe ließe. Konnte das alles nur an ihrer Migräne liegen? Oder lagen noch andere Gründe vor? Pascal schüttelte den Kopf und beschleunigte seinen Schritt. Das Laufen war genau das, was er brauchte, um auf andere Gedanken zu kommen.
Nachdem Leonie sich abgetrocknet und eingecremt hatte, fühlte sie sich zwar besser, doch ihr Spiegelbild behagte ihr nach wie vor nicht. Es muss doch nicht jeder sehen, was in mir vorgeht, sagte sie sich und hellte ihre Augenränder mit Schminke auf. Auf ihre Wangen legte sie ein wenig Rouge, um ihre Blässe zu verdecken, was sie sonst nie tat. Als sie ihr Make-up vervollständigt hatte, hörte sie, dass Pascal die Zimmertür aufschloss. Schnell streifte sie ihren Bademantel über. Sie wollte ihn nicht auf Gedanken bringen, mit denen sie sich im Moment nicht anfreunden konnte. Sich ihm erneut verweigern, wollte sie erst recht nicht.
„Oh, du bist ja schon fast fertig!“, rief Pascal.
Schnell verschwand er ins Bad, während Leonie sich für die Weiterreise bequeme Kleidung anzog. Pascal ließ nicht lange auf sich warten. Sie fuhren mit dem Lift hinunter in den Frühstücksraum, wo sie der Duft von Kaffee und ein reichhaltiges Büfett empfingen.
Während Leonie nur einen Toast, etwas Müsli mit Obst und einen Joghurt aus dem Angebot wählte, bediente sich Pascal reichlich vom Rührei mit Krabben, nahm dazu zwei Brötchen, Lachs, rohen Schinken, Käse, Tomaten und zur Abrundung ein Schüsselchen Quark mit Obst. Als er sah, wie Leonie lustlos in ihrem Müsli herumstocherte, fragte er besorgt: „Bedrückt dich etwas, Leonie? Du scheinst mir irgendwie abwesend. Oder ist die Migräne noch nicht verflogen?“
„Mach dir keine Sorgen, Pascal, ich bin noch ein wenig schlapp von gestern. Ich denke, die Luftveränderung wird mir guttun. Ein paar Tage Erholung habe ich wirklich mal nötig.“
„Das wollen wir hoffen.“ Pascal fand ihre Stimmung so ungewöhnlich, dass er begann, sich Sorgen zu machen. Es ging etwas in ihr vor, worüber sie offensichtlich mit ihm nicht sprechen wollte.
„Magst du mir immer noch nicht verraten, wohin die Reise geht?“, fragte er, als sie nach dem Frühstück das Hotel verlassen hatten und im Wagen saßen.
„Ich hatte dir doch gesagt, wir fahren ans Ende der Welt. Lass dich überraschen!“
„Wie soll ich das Ende der Welt finden, ohne eine Ahnung zu haben, wohin ich das Auto lenken soll?“ Ihre Geheimnistuerei ging ihm allmählich auf die Nerven.
Leonie lehnte sich in ihrem Sitz zurück und seufzte: „Ich bin einmal mehr begeistert, dass wir uns diesen Wagen gekauft haben. Mit ihm macht das Reisen Spaß. Er ist wirklich bequem, besonders für Beifahrer. Er verleitet mich immer dazu, einzuschlafen, was natürlich auch an dem vorzüglichen Kutscher liegen mag.“
Pascal warf ihr einen zweifelnden Blick zu. Wie sollte er den Weg finden, wenn sie jetzt auch noch einschlief? Er stieß einen Seufzer aus und fuhr einfach nur stur in Richtung Süden, in die Berge. Sie würde sich schon bemerkbar machen, wenn er eine falsche Richtung einschlug.
An der Grenze zwang sie der Kauf einer Vignette zu einem kurzen Aufenthalt. Leonie erwachte und rekelte sich. Von dort aus leitete sie Pascal noch eine Weile über die Autobahn. Schließlich wies sie ihn an, die nächste Ausfahrt zu nehmen. Die Weiterfahrt führte sie über Landstraßen immer weiter in die Bergwelt hinauf von urbanen Lebensformen weg. Pascal wunderte sich, woher seine Frau den Weg kannte, erst recht, was sie veranlasst haben könnte, einen Urlaub in dieser gottverlassenen Gegend verbringen zu wollen.
Schließlich bogen sie von der Straße ab in eine düstere Wegstrecke, auf der die Weiterfahrt über eine ziemlich schlechte Fahrbahn verlief. Sie fuhren durch ein enges, dicht bewaldetes, leicht ansteigendes Tal. Leonie versuchte, seinen Unmut zu dämpfen, versicherte ihm, dass die Welt oben in der Hochebene sonniger und freundlicher aussehe.
Die Talstraße endete abrupt und völlig überraschend in einem Wendekreis, wo mächtig steile und schroffe Felswände ein unüberwindliches Hindernis für jedes weitere Fortkommen bildeten. Pascal beschlich eine Ahnung vom Endpunkt der Welt. Ihn fröstelte.
„Sind wir schon da?“, fragte er vorsichtshalber. „Ich hätte mir das Ende der Welt eher wie eine Startrampe ins All, in ein Nichts oder ins Jenseits vorgestellt.“
„Warte ab, Liebster“, entgegnete Leonie. „Siehst du nicht den Weg dort, der von hier abzweigt? Da müssen wir noch hoch.“
Pascal quälte den Wagen über einen engen, steilen Schotterweg unzählige Serpentinen hinauf ins Hochland, wo sie ein hügeliges Gelände, das ringsum von kahlen Bergen umgeben war, erwartete. Immer wieder fragte er sich, wie es Leonie möglich gewesen war, diesen Weg ohne Karte zu finden. Seine Nerven lagen blank, doch er riss sich zusammen, stellte keine Fragen.
Ungeschützte, schwindelerregende Abhänge und eine nur unter Lebensgefahr passierbare Baustelle trieben ihm den Schweiß auf die Stirn.
„Was für ein Glück, dass unser Wagen über Vierradantrieb verfügt“, murmelte Pascal, während er sich konzentrierte. Der Blick, den er Leonie zuwarf, konnte seinen Ärger nicht verhehlen.
„Ich stelle mir gerade vor, wir wären mit einem für solche Fahrten ungeeigneten Fahrzeug angereist. Hätte man uns dann das zweifelhafte Vergnügen eines Aufstiegs auf Eselsrücken zugemutet?“, fragte er bissig.
Leonie reagierte nicht. Sie spürte, dass sie ihrem Ziel nahe war. Ihr Herz klopfte aufgeregt. Eine Zeit lang war sie wieder mit ihrem Traumbild beschäftigt, das sich nun als allgegenwärtig zeigte, ihr den Weg wies und sich aus ihrem Kopf nicht mehr verbannen ließ.
Auf dem Anstieg hatte sie verstärkt gegen Übelkeit anzukämpfen. Sie war nicht schwindelfrei, ihre ängstlichen Blicke hinunter in die Abgründe am Rande der Wegstrecke setzten ihr mehr zu, als ihr lieb war. Tapfer und erfolgreich wehrte sie sich jedoch gegen den Brechreiz. Sie wollte sich Pascal gegenüber keinesfalls eine Blöße geben, denn auch sie war inzwischen erstaunt über den Weg zu der Stätte, die sie als Urlaubsort gewählt hatte. Vor Reiseantritt hatte ihre Fantasie keine konkreten Vorstellungen über diesen geheimnisvollen Ort zugelassen, jetzt erfasste sie, wie er sich vor den Augen von Besuchern darstellte.
Bei der Ankunft in dem zu ihrer Überraschung aufwendig renovierten bergländischen Gasthof mit seinen blumengeschmückten Balkonen lag, um die Unannehmlichkeiten des Tages zu vervollständigen, ihre Reservierung nicht vor.
Als sie darauf hinwies, eine Bestätigungskarte erhalten zu haben, die sie leider vergessen hätte, ließ der Wirt, der jede Freundlichkeit vermissen ließ, sie ein erst kürzlich renoviertes Zimmer beziehen. Er erweckte plötzlich den Eindruck, er kenne den Grund, der sie hierher gelockt hatte.
„Der scheint das Geld seiner Gäste wohl nicht nötig zu haben“, flüsterte Pascal, als der Wirt ihnen mit Leonies Koffern in den Händen den Weg aufs Zimmer zeigte. „Oder aber er hat im Lotto gewonnen, falls hier in der Einöde auch Lotterien veranstaltet werden.“
An dem großzügig geschnittenen Zimmer war nichts auszusetzen. Das Sitzmobiliar, ein Sofa und ein Sessel, war bequem und komfortabel, die Betten sauber. Es duftete nach Frische, das Bad war geschmackvoll neu gefliest und mit modernen Armaturen ausgestattet.
„Zumindest das Zimmer ist nicht zu beanstanden“, registrierte Pascal nach eingehender Prüfung, auf die er in keinem Hotel verzichtete. Dabei ließen seine Finger selbst die Kontrolle der Schränke nicht aus, um nach vergessenem Staub zu fahnden.
„Pascal, bist du etwa zum Meckern mit mir in Urlaub gefahren?“, stichelte Leonie, der diese Marotte, auf die er selbst zu Hause nicht verzichtete, auf die Nerven ging.
„Seit wann kennst du mich, Schatz?“, gab Pascal zurück und lächelte. „Bevorzugst du es, in einem versifften Bett zu nächtigen und deine Kleidung in einem verstaubten Schrank unterzubringen?“
„Ich bin froh, dass ich dich habe, mein geliebter Kontrolleur. Wer weiß, was mir sonst in Zimmern wie diesem alles widerfahren würde, angefangen von … Ich sag lieber nicht, was mir jetzt alles durch den Kopf geistert.“
Während sie miteinander frotzelten, sich ihre Stimmung allmählich entkrampfte, packten sie die Koffer aus und verstauten deren Inhalt in den Schränken.
„Wollen wir uns vor dem Abendbrot ein wenig die Beine vertreten?“, fragte Pascal. „Mir ist nach der langen Fahrt nach Bewegung zumute.“
Leonie stimmte zu, wenn auch nicht gerade mit großer Begeisterung. Sie zogen sich an und schlenderten durchs Dorf.
„Fällt dir etwas auf?“, fragte Pascal nach einer Weile, die sie schweigend zurückgelegt hatten.
„Hm“, antwortete Leonie. Sie konnte sich denken, worauf Pascal anspielte, aber aussprechen wollte sie ihre Erkenntnis nicht.
Er blickte sie stirnrunzelnd von der Seite an.
„Nun?“
„Wir scheinen zur falschen Zeit unterwegs zu sein, denke ich, wenn ich mich hier umschaue. Wahrscheinlich sind die meisten Menschen hier noch bei der Arbeit oder ruhen sich in ihren Häusern von ihrem Werktag aus. Anders kann ich mir nicht erklären, warum wir hier keine Menschenseele zu Gesicht bekommen.“.
„Seit wann kannst du Seelen sehen, Liebste?“, erkundigte sich Pascal, dem es kaum noch gelang, der Situation, in die Leonie sie gelotst hatte, gute Seiten abzugewinnen. Sein Unwohlsein stieg mit jeder Sekunde an.
Sie gingen zurück ins Hotel und ließen sich eine Brotzeit und zwei Flaschen Rotwein aufs Zimmer bringen. „Obwohl ich einen ruhigen Urlaub durchaus zu schätzen weiß, scheint es mir hier entschieden zu ruhig zu sein. Oder willst du mir wirklich weismachen, dass es dir hier gefällt?“ Pascal entkorkte den Wein und schenkte ein.
Leonie versteifte sich darauf, diesen Ort wegen der hier herrschenden Ruhe mit vollem Bedacht ausgewählt zu haben. Schließlich, erinnerte sie ihn, wollen sie die Zeit nutzen, um ihre Beziehung aufzufrischen.
„Meinst du mit ‚Zeit nutzen‘ etwa Sex rund um die Uhr?“, unterbrach sie Pascal, ohne eine Antwort zu erwarten, lehnte sich auf dem Sofa zurück und schwenkte das Glas in seiner Hand. „Etwas anderes können wir hier nämlich kaum unternehmen.“
Ihm war durchaus klar, dass er besser geschwiegen hätte, aber er fühlte sich inzwischen so angespannt und unwohl an diesem Ort, dass er alle Harmoniegesetze ihrer Ehe missachtete.
Als der Streit seinem Höhepunkt zustrebte, hievte sich Leonie abrupt aus dem Sessel und verschwand im Bad. Sie blieb so lange fort und es war so ruhig, dass Pascal gerade beschlossen hatte, nach ihr zu sehen, als sie zurückkam. Sie schwebte in einem Negligé, das mehr von ihrer Schönheit offenbarte als verbarg, ins Zimmer, als ob ihr Flügel gewachsen wären. Dazu sang sie mit einer glockenhellen Sopranstimme, engelsgleich, ein Lied in einer selbst ersonnenen Sprache, die nur die Geister in ihrem schönen Kopf verstehen konnten.
Verwundert blickte Pascal auf Leonies Glas. Sie hatte den Wein nicht angerührt, sie musste vollkommen nüchtern sein. Und dann das?
Nachdem sie sich noch ein paar Mal vor ihm auf den Fußspitzen wie eine Primaballerina in Kreis gedreht hatte, blieb sie vor ihm stehen und streckte sich verführerisch.
Ihr Auftritt, so absurd und ungewöhnlich er Pascal auch vorkam, verbannte allen Ärger. Er hatte schon lange Zeit nicht mehr erlebt, dass sie für ihn sang und ihn damit in ihre Welt mitnahm.
Ohne sich zu rühren, starrte er sie hingerissen an. Sie war nach wie vor seine Traumfrau – trotz ihrer gelegentlichen Marotten. Er stand auf, ging zu ihr und führte sie zum Bett. Sie liebten sich lange, wild und voller Leidenschaft. Pascal konnte sich jedoch des Gefühls nicht erwehren, dass Leonie trotz ihrer Begierde, Hingabe und Sinnlichkeit mit ihren Gedanken nicht bei ihm war.
Was war nur mit ihr los? Sah er etwa Gespenster oder bildete er sie sich ein? Leonies Verhalten belastete ihn mehr, als ihm lieb war. Er hoffte, in den nächsten Tagen in der Einsamkeit dieser Bergwelt herauszufinden, was vor sich ging.