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Kapitel 5

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Sophie erwartete ihn stirnrunzelnd. Ob sie den unangenehmen kleinen Zwischenfall mit Ines geahnt hatte, konnte er nicht ausschließen. Pascal erwähnte ihn mit keinem Wort. Er sog die morgendliche Bergluft in seine Lungen und war heilfroh, der Beklemmung des Hauses erst einmal entronnen zu sein.

„Dann wollen wir mal …“, sagte er.

Sie machten sich auf den Weg. Als sie die wieder menschenleere Dorfstraße hinunterschlenderten, begleitete sie das bedrückende Gefühl, sie würden aus zahllosen Fenstern beobachtet.

Plötzlich raste mit großer Geschwindigkeit ein Wagen Richtung Dorfausgang an ihnen vorbei, ein japanischer Geländewagen. Er entschwand ihren Blicken dort, wo die Dorfstraße in einen kaum sichtbaren Wirtschaftsweg in Richtung der Berge überging.

„Das ist unser Wagen!“, rief Sophie. „Yves!“

Tränen schossen aus ihren Augen und liefen ihre Wangen hinunter. „Warum macht Yves das, was habe ich ihm getan?“, fragte sie bestürzt.

Pascal legte freundschaftlich einen Arm um ihre Schulter und tröstete: „Ich weiß zwar nicht, wie Yves aussieht, aber er saß nicht in dem Wagen. Wenn ich mich nicht restlos täusche, befanden sich darin zwei Männer in Uniform.“

„Uniformierte? Gendarmen vielleicht?“

„Ich weiß es nicht, Sophie, ich habe sie nicht genau erkennen können. Der Wagen fuhr zu schnell und wirbelte zu viel Staub auf.“

Bei seiner Antwort erschrak Pascal plötzlich, als sich eine Erinnerung bei ihm meldete. Glücklicherweise bemerkte Sophie nichts davon. Uniformierte! War sein Albtraum in der vergangenen Nacht etwa eine Vorahnung gewesen?

Die Bürgermeisterei befand sich am Kirchplatz, der Kirche direkt gegenüber. Die Tür stand offen. Sie betraten das Gebäude, Dielen knarrten. Von oben schallte ihnen eine resolute Frauenstimme entgegen.

„Die Treppe hoch und dann links!“

Sie taten, wie geheißen. Die Frau, die so aussah, wie ihre Stimme klang, begrüßte sie distanziert und fragte, ob sie es seien, die um einen Termin beim Bürgermeister nachgesucht hätten. Sophie bejahte. Die Frau klopfte zweimal laut an die Tür eines Nebenzimmers und führte die Ankömmlinge hinein.

Der Bürgermeister, eine mickrige Gestalt mit weißem Vollbart und fliehendem Blick, der an seinen Gästen vorbei zu flackern schien, so als fürchte er sich vor ihnen, saß in einem Jägeranzug hinter seinem Eichenschreibtisch. Das Kissen auf seinem Stuhl ließ ihn größer erscheinen, als er war, oder als er sich einredete zu sein.

„Treten Sie ein und nehmen Sie Platz!“, forderte er seine Besucher auf. „Was kann ich für Sie tun?“

Nachdem die beiden Urlauber sich vorgestellt hatten, kam Sophie Dumont auf das Verschwinden ihres Verlobten Yves Gaillard zu sprechen. Unverblümt machte sie ihrer Verärgerung Luft und verlieh ihrer Meinung eindringlich Ausdruck, dass die Gendarmerie ihrer Einschätzung nach nicht alles Erdenkliche tue, um nach seinem Verbleib zu forschen.

Pascal war erstaunt über die Energie, mit der sie ihr Anliegen vorbrachte. Ihr Ärger, mehr noch ihre Besorgnis verliehen ihr eine Kraft, die ihr gar nicht anzusehen war.

„Hm“, brummte der Bürgermeister, wiegte seinen Kopf und kratzte sich bedächtig den Bart. „Ich habe davon gehört, doch ist in meinem Ort noch nie jemand verloren gegangen“, versicherte er und schaute dabei auf seine Hände, um den Blicken der Besucher auszuweichen. „Nicht einmal einer der Dorfbewohner“, fügte er hinzu und lachte plötzlich gackernd, als hätte er einen Witz gemacht. „Wissen Sie, der Tourismus ist hier eine nicht unwesentliche Einnahmequelle. Wir können es uns gar nicht leisten, Urlauber verschwinden zu lassen und dadurch ins Gerede zu kommen.“

Pascal fuhr ihm grob dazwischen, hatte kein Verständnis für den vermeintlichen Witz. „Von Tourismus kann in Ihrem Dorf doch wohl kaum die Rede sein. Ich erblicke hier außer Madame Dumont keinen einzigen Touristen. Im Gegenteil, sie kommen abhanden. Noch nicht einmal die Bewohner des Dorfes lassen sich sehen. Ich bin bisher in meinem Leben noch nie auf einen Ort gestoßen, der sich so leer, so unbewohnt zeigte.“

„Die Dorfbewohner haben zu arbeiten, mein Herr. Ich gebe Ihnen mein Wort, dass ich mich selbst intensiv um das Anliegen von Madame Dumont kümmern und veranlassen werde, die Suche nach dem Verschwundenen zu verstärken. Umgehend werde ich mich mit der Gendarmerie ins Benehmen setzen, vor allem auch die Bergbauern auffordern, ihre Augen offen zu halten. Wir sind hier zwar am Ende der Welt, wie es oft heißt. Wir sind aber auch eine Gemeinschaft, die darauf angewiesen ist, dass jeder auf den anderen aufpasst und jeder jedem hilft, wenn Hilfe vonnöten ist. Ansonsten können wir hier oben gar nicht überleben. Seien Sie versichert, Madame, dass Ihr Verlobter bald wieder auftauchen wird. Wir haben zahlreiche Hütten im Gelände eingerichtet, in denen jedermann Schutz finden kann, aus welchen Notwendigkeiten auch immer.“

Die energische Angestellte betrat in diesem Moment den Raum und legte dem Bürgermeister ein Schriftstück auf den Tisch.

„Muss das jetzt sein?“, fuhr er sie grantig an, ohne sie anzusehen.

„Du wolltest doch …“

Sie sprach den Satz nicht zu Ende, sondern verließ wütend das Büro und schlug die Tür zu.

„Ich muss Ihnen noch etwas berichten“, nahm Sophie das Gespräch wieder auf. „Soeben fuhr jemand mit unserem Wagen durchs Dorf, zwei Uniformierte, wie es den Anschein hatte.“

Pascal beobachtete den Bürgermeister aufmerksam. Es war trotz seines Bartes nicht zu übersehen, dass die Nachricht ihn erbleichen ließ.

„Sind Sie sicher, dass es Ihr Wagen war?“, fragte er. Seine Unsicherheit war nicht zu überhören.

„Glauben Sie etwa, ich kenne unser Auto nicht?“, gab Sophie patzig zurück.

„Das wollte ich damit nicht gesagt haben, um Gottes willen, Madame, aber Sie könnten sich ja geirrt haben. Eine Erklärung kann ich Ihnen dafür zu meinem tiefsten Bedauern nicht liefern. Dazu müsste ich selbst Augenzeuge gewesen sein. Bitte seien Sie versichert, dass ich alles Notwendige veranlassen werde“, beteuerte er erneut, erhob sich und fügte hinzu: „Ich habe noch Termine, Sie verstehen? Sie glauben gar nicht, was selbst in einem Ort wie diesem ein Mann wie ich an Aufgaben zu bewältigen hat.“

Auch wenn sie sich nur schwerlich vorstellen konnten, welche wichtigen Termine seiner am Ende der Welt harrten, bedankten sie sich für die zugesagte Unterstützung und verabschiedeten sich.

Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, griff der Bürgermeister zu seinem Telefon und wählte eine mehrstellige Nummer.

„Die Lebenspartner der beiden verschwundenen Touristen stellen überall Fragen. Das ist nicht gut. Wie sollen wir uns verhalten?, fragte er in den Hörer.“

Er lauschte aufmerksam der Antwort und nickte beflissen mit dem Kopf.

„Und noch etwas: Ich kann nicht gutheißen, dass der Wagen dieses Belgiers benutzt wird.“

Wieder hörte er seinem Gesprächspartner zu, wobei sich sein Gesicht rot färbte. Nachdem er aufgelegt hatte, ließ er sich auf seinen Stuhl fallen.

„Das kann so nicht weitergehen“, brummelte er in seinen Bart, griff nach einer Cognacflasche in seinem Schreibtisch und nahm gierig einen großen Schluck. „Aber was kann ich dagegen machen? Ich bin nur der Bürgermeister und habe mich nach den herrschenden Gesetzen zu richten“, sprach er sich Trost zu.

Auf der immer noch verlassenen Dorfstraße angelangt, fragte Sophie: „Was halten Sie von unserem Gespräch?“

Pascal war sich nicht sicher, wie er seine Eindrücke einordnen, erst recht nicht, wie er sie formulieren sollte, ohne Sophies Ängste, aber auch eigene zu schüren. Es gelang ihm nicht, seine unguten Ahnungen zu verdrängen.

„Was meinen Sie?“, antwortete er mit einer Gegenfrage, um Zeit zu gewinnen. Noch wollte er über seine Zweifel nicht sprechen, nicht, solange kein einziger konkreter Anhaltspunkt vorlag, der die schlimmen Befürchtungen bestätigte.

„Wird der Bürgermeister uns eine Hilfe sein können?“

„Ich habe eher den Eindruck, dass er es als seine vordringlichste Aufgabe ansieht, uns zu beruhigen. Ich denke, wir sollten selbst die Initiative ergreifen und jeden, der uns über den Weg läuft, befragen.“ Er sah sich skeptisch um. „Na gut, vielleicht könnten wir auch durchs Gelände streifen, wenn wir niemandem begegnen. Lassen Sie uns aber erst einmal zum Berghof zurückgehen, um nachzusehen, ob meine Frau endlich zurück ist. Sie wird sicherlich gerne bei der Suche nach Ihrem Verlobten behilflich sein.“

Mit gemischten Gefühlen eilten sie zum Gasthof zurück. Am Empfang war niemand zu sehen, als sie eintrafen. Weder Leonie, ganz zu schweigen Yves waren wieder aufgetaucht. Sie läuteten, aber erst nach etwa einer Viertelstunde erschien Bruckner mit hochrotem Kopf und sichtbar ob der Störung verärgert. Er hatte ebenfalls keine Neuigkeiten für sie.

Pascal bat den Wirt, das Telefon des Gasthofs benutzen zu dürfen, da er einen dringenden Anruf vorzunehmen habe und die Mobiltelefone offensichtlich keinen Empfang hätten.

„Tut mir leid“, sagte Bruckner, „wir haben seit gestern eine Störung. Das passiert hier oben in den Bergen leider immer wieder und schadet nicht nur uns, sondern auch dem Tourismus, wie ich einräumen muss. Wahrscheinlich haben die Murmeltiere am Kabel geknabbert, oder bei den Straßenbauarbeiten ist die Leitung beschädigt worden. Wer weiß das schon? Ich gebe Ihnen Bescheid, sobald das Telefon wieder funktioniert. Dann können Sie selbstverständlich gerne telefonieren.“

Pascal wurde das Gefühl nicht los, dass er log.

„In diesem verdammten Kaff stimmt etwas nicht!“, raunte er Sophie zu. „Wir werden jetzt die Zeit nutzen und von Haus zu Haus gehen, um alle Leute zu befragen, die wir antreffen. Irgendjemand muss doch etwas gesehen oder bemerkt haben. Ich hatte eben auf unserem Weg hierher den untrüglichen Eindruck, dass wir von jedem Haus aus beobachtet wurden. Mit der Gendarmerie sollten wir beginnen, um uns zu erkundigen, welche Maßnahmen sie bisher ergriffen hat oder welche weiteren sie zu ergreifen gedenkt. Vor allem möchte ich gerne wissen, ob der Herr Bürgermeister ihr wirklich Dampf gemacht hat. Vielleicht können wir ja behilflich sein.“

„Geben Sie mir, bitte, ein paar Minuten, Herr Lambert“, bat Sophie. „Ich möchte etwas anderes anziehen.“

„Gerne. Ich warte draußen unter dem uralten Bergahorn vor dem Haus. Der scheint hier schon ebenso lange zu stehen wie die Berge.“

„Das haben Sie schön gesagt“, meinte Sophie. „Alte Bäume könnten sicher viele Geschichten aus vergangenen Zeiten erzählen.“

Pascal nickte, ging nach draußen und setzte sich auf die verwitterte Holzbank unter dem knorrigen Baum, während Sophie auf ihr Zimmer ging.

Ihre Zimmertür stand offen. Befremdet trat sie ein und hörte jemanden im Bad hantieren. Sie stieß die Tür auf und fand Ines auf dem Boden kniend die Fliesen schrubben.

„Schöne Unterwäsche haben Sie, Madame“, bemerkte Ines unverfroren und machte kein Hehl daraus, dass ihr in den Zimmern nichts entging.

„Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie gefälligst Ihre Finger von meinen Sachen ließen, sonst müsste ich mit Ihrem Chef darüber sprechen“, konterte Sophie verärgert und bedachte die Bedienstete mit einem vernichtenden Blick.

Ines war jedoch nicht zu erschüttern. Bevor sie das Zimmer verließ, sagte sie: „Eines Tages werde ich mir auch schöne Wäsche leisten können, eines nicht mehr fernen Tages.“

Sophie tauschte ihr Kleid gegen Jeans und einen leichten Pullover aus. Sie überprüfte ihr Aussehen mit einem flüchtigen Blick in den Spiegel, richtete ihre Haare mit den Händen, griff nach einem kleinen Rucksack und verließ das Haus. Pascal saß auf der Bank und versuchte vergeblich, eine Telefonverbindung mit seinem Handy herzustellen.

Als Sophie ihn bei diesem Versuch sah, bemerkte sie: „Das können Sie sich sparen, Herr Lambert. Der Mobilfunk funktioniert hier nicht. Erst im kommenden Jahr soll eine zuverlässige Empfangsstation errichtet werden, wurde mir versichert. Ich finde, Handys sollten überall in den Bergen funktionieren, allein schon, um in Notfällen die Bergwacht herbeirufen zu können, aber man scheint es damit hier wohl nicht allzu eilig zu haben.“

„Sie haben vollkommen recht“, ereiferte sich Pascal. „Ich überlege bereits, ob wir nicht in die Kreisstadt fahren sollten, um die übergeordneten Behörden in Kenntnis zu setzen, dort Hilfe zu erbitten und auf die Missstände hier aufmerksam zu machen.“

„Ihnen ist doch sicher bei der Herfahrt die Baustelle beim Anstieg zum Dorf nicht entgangen? Hat man Sie nicht informiert, dass die Straße ab heute für zwei oder drei Tage gesperrt werden muss, falls es nicht noch länger dauern wird. So lange wird das Dorf von der Außenwelt abgeschnitten sein!“

„Nein, hat man nicht, aber das passt durchaus ins Bild. Umso mehr sollten wir uns bemühen, unsere eigenen Nachforschungen voranzutreiben. Sie sind zwar nicht motorisiert, solange Ihr Verlobter nicht zurück ist, ich verfüge aber über einen geländegängigen Wagen, mit dem wir die Umgebung absuchen können.“

„Danke für Ihr Angebot. Das Verschwinden von Yves ist das Schlimmste, was mir hier widerfahren konnte. Solange keine Gewissheit besteht oder ich ihn wieder in die Arme schließen kann, ist an eine Heimreise nicht zu denken. Ich fühle mich hier gefangen.“

„Lassen Sie uns nicht den Teufel an die Wand malen, dafür gibt es noch keinen konkreten Grund, Sophie. Darf ich Sie Sophie nennen?“

„Ja, gerne, das wollte ich Ihnen schon längst angeboten haben.“

„Ich heiße Pascal. Wir sind also durchaus mobil, vorausgesetzt, dass wir uns mit einer ausreichenden Menge Diesel versorgen können. Eine Tankstelle habe ich nämlich hier nirgendwo gesehen. Ich hoffe, dass die Bauern uns notfalls aushelfen. Sie bunkern gewiss Treibstoff.“

„Wo wollen wir mit der Suche beginnen, Pascal?“

„Zuerst gehen wir zur Gendarmeriestation, um uns dort nach dem Stand der Dinge zu erkundigen. Sie wissen, wo sich die Station befindet?“

„Ja, natürlich. Kommen Sie!“

Energisch setzte sie sich in Bewegung. Pascal musste sich mühen, um mit ihr Schritt zu halten.

„Haben Sie nicht auch den Eindruck, dass die Leere auf der Straße bedrückend ist?“ Sophie sah ihn an und schüttelte sich, als friere sie. „Man kommt sich so unwillkommen vor, eine fragwürdige Auslegung von Tourismus. Hin und wieder lässt sich zwar eine Frau sehen, aber womit die Männer sich den lieben langen Tag beschäftigen, ist mir ein Rätsel. Abends lassen sie ihn allerdings gerne in der Gaststube des Berghofs ausklingen, sitzen dort, schweigend meistens miteinander und trinken. Abgesehen von den Abenden, an denen dieser seltsame, geisterhafte Betrieb herrscht wie vor drei Tagen.“

Als sie an der Gendarmeriestation ankamen, konnten sie nicht fassen, was sie dort zu Gesicht bekamen. An die Tür war eine Mitteilung geheftet, die besagte, dass der Posten gegenwärtig wegen vordringlicher Landschaftspflegearbeiten geschlossen sei, an denen sich ausnahmslos alle Bewohner des Dorfes wie jedes Jahr zu beteiligen hätten.

„Das kann doch wohl nicht wahr sein!“, empörte sich Pascal. „Lassen Sie uns noch einmal den Bürgermeister aufsuchen! Jetzt reichtʼs! Das lassen wir uns auf keinen Fall bieten! Pflegearbeiten! Dass ich nicht lache!“

Die Tür der Bürgermeisterei fanden sie ebenfalls verschlossen vor, auch dort war demselbe Hinweis auf die kollektive Pflicht zu lesen.

Während sie noch sprachlos die Mitteilung an der Tür anstarrten, sahen sie eine alte gebeugte Frau in einem langen schwarzen Rock und einer bunten Bluse ihnen langsam entgegenschlurfen. Ihre ungewöhnlich dunkle Gesichtshaut war verknittert, ihre Lippen grellrot geschminkt. Tiefschwarze schulterlange Haare, für ihr Alter überraschend, mit nur wenigen grauen Strähnen umrahmten ihren Kopf. Lange goldene Ohrringe baumelten an ihren Ohren. Um ihren faltigen Hals trug sie mehrere Ketten, an ihren Armen breite Armreifen.

Pascal ging auf sie zu und sprach sie an: „Darf ich Sie etwas fragen, liebe Frau?“

Die Angesprochene ging ohne Reaktion weiter, blieb dann jedoch abrupt stehen, musterte Pascal eindringlich, hielt die rechte Hand hinter ihr Ohr und krächzte: „Hä?“

Pascal wiederholte seine Frage. Die Alte krähte zurück: „Liebe Frau? Wer ist das denn? Ich sehe hier nirgendwo eine liebe Frau. Hihihi!“

„Das wird wohl nichts“, flüsterte Sophie, doch Pascal ließ sich nicht beirren: „Haben Sie in der Frühe zufällig eine Fremde, eine Urlauberin, in einem Jogginganzug gesehen?“

Sie schien zu überlegen oder mit ihren Gedanken wer weiß wohin geflogen zu sein. Pascal und Sophie warteten geduldig. Unvermittelt orakelte die Alte:

„Wenn in der Früh die Sonn’ erwacht,

und endet eine düstre Nacht,

dann waren Geister, müsst’s mir glauben,

dabei, ein Menschenkind zu rauben.

Hier solltet niemandem ihr trauen,

solltet auf Euch selbst nur bauen.

Hihihi …“

Während Pascal und Sophie die Alte noch fassungslos anstarrten, drehte sie sich jählings ab, um sich davonzumachen.

„Moment noch!“, rief Pascal ihr hinterher. „Bitte, nur noch eine Frage. Wie habe ich Ihre Andeutugen zu verstehen? Haben Sie meine Frau gesehen?“

Die Alte wandte sich noch einmal um und antwortete, nunmehr mit überraschend tiefer und klarer Stimme, offensichtlich ohne Hörprobleme: „Ich habe heute Morgen eine Fremde gesehen. Sie lief über die Dorfstraße hinauf in Richtung der Berge. Oben, am Ende der Straße, habe ich beobachtet, dass sie in einen Wagen stieg, der neben ihr angehalten hatte. Ich habe allerdings nicht erkennen können, wer sie war. Mehr kann ich Ihnen leider nicht sagen.“

„Können Sie mir beschreiben, wie sie gekleidet war oder welche Haarfarbe sie hatte?“

„Damit kann ich nicht dienen, mein Herr“. Sie schüttelte den Kopf. „In meinem Alter sehen die Augen nicht mehr alles. Manches wollen sie auch nicht mehr sehen.“

Sophie unterbrach die Alte: „Wissen Sie vielleicht etwas darüber, wo sich mein Mann aufhalten könnte? Er ist seit Tagen mitsamt unserem Wagen verschwunden. Er wollte die Landschaft fotografieren.“

Sie sprach mit Absicht von ihrem Mann, um nicht erst ihre persönlichen Verhältnisse aufklären zu müssen.

„In diesem Dorf wissen immer alle Leute alles oder auch nichts“, erwiderte die Fremde geheimnisvoll. „Fragen Sie die Bewohner, fragen Sie! Vielleicht erhalten Sie eine Antwort, wahrscheinlich eher nicht. Jetzt muss ich aber weiter“, fügte sie hastig hinzu. „Wir werden heute noch ein Unwetter bekommen. Ja, ja, Ihr Mann. In dieser Gegend findet manch einer seinen Rückweg nicht mehr. Die Leute sprechen nicht ohne Grund vom Tal des Vergessens.“

Damit ließ sie die beiden stehen und verschwand in einem nahen Hauseingang, wo eine schwere Tür hinter ihr ins Schloss fiel.

„Was meint sie wohl mit dem Tal des Vergessens?“, grübelte Sophie. „Das hört sich sehr rätselhaft an und hat vermutlich wenig Gutes zu bedeuten, wie alles, was hier geschieht.“

„Dann sollten wir nachfragen, bevor auch wir dem Vergessen anheimfallen“, schlug Pascal vor. Er war froh, die Situation mit einem kleinen Scherz auflockern zu können. Sie eilten hinüber zu dem Haus, in das die Alte gegangen war, und pochten an die Tür. Niemand reagierte auf ihr Klopfen. Ein weiteres Mal hämmerten sie dagegen, wesentlich heftiger.

„Die Alte schien ein bisschen schwerhörig zu sein, jedenfalls tat sie so“, bemerkte Pascal und klopfte noch einmal.

„Wer ist da?“, erkundigte sich nach wenigen Augenblicken eine übellaunige Frauenstimme.

Pascal nickte Sophie zu, die rief: „Hier sind die Touristen, mit denen Sie gerade gesprochen haben, wir möchten Ihnen gerne noch eine Frage stellen. Wenn Sie bitte so freundlich wären?“

„Ich kenne keine Touristen“, behauptete die Stimme.

„Aber wir haben doch gerade auf der Straße miteinander geschwatzt“, beharrte Sophie. Pascal flüsterte ihr zu: „Scheint was dran zu sein an dem Vergessen.“

„Sie müssen sich irren.“

„Bitte, sind Sie doch so freundlich und öffnen uns, damit wir uns unterhalten können“, flehte Sophie.

Sie hörten, wie ein Riegel geschoben wurde. Eine Frau lugte durch den sich öffnenden Spalt. Nachdem sie die beiden Touristen eine Weile misstrauisch beäugt hatte, trat sie einen Schritt heraus. Sie sah verhärmt aus, ungepflegt, eine Frau mittleren Alters mit strähnigen Haaren. Immer wieder warf sie einen ängstlichen Blick auf die Dorfstraße, als wolle sie nicht mit den Fremden gesehen werden. Schließlich senkte sie ihren Kopf und blickte gehemmt zu Boden. An ihrem Rockzipfel hing ein offensichtlich behindertes Kind, das sich hinter ihrer Schürze zu verstecken versuchte.

„Entschuldigen Sie, bitte, die Störung. Soeben haben wir auf der Straße mit einer älteren Frau gesprochen, die in dieses Haus gegangen ist. Wir würden ihr gerne noch eine Frage stellen.“

„Wie bitte?“, fragte die Frau entgeistert. „In diesem Haus lebe ich seit Ewigkeiten“, dabei schlug sie ein Kreuzzeichen, „mit meinem Mann und meinen sieben Kindern. Sonst wohnt hier niemand. Ich weiß nicht, von wem Sie sprechen.“

Bevor Sophie etwas sagen konnte, stieß Pascal sie unauffällig an, schüttelte kaum merklich den Kopf und wandte sich an die Frau: „Dann entschuldigen Sie, bitte, unsere versehentliche Störung. Wir haben uns wohl in der Tür geirrt. Gestatten Sie mir aber dennoch eine Frage, die wir allen Dorfbewohnern stellen: Haben Sie heute in der Früh eine Urlauberin im Jogginganzug gesehen? Ich spreche von meiner Frau, die den Sonnenaufgang miterleben wollte und noch nicht wieder zurückgekehrt ist. Ich fürchte, sie hat sich verlaufen.“

Die Frau schien zu erbleichen, druckste herum und antwortete schließlich: „In diesem Dorf sieht niemand nichts und hört niemand nichts. Ich kann Ihnen leider nicht weiterhelfen.“

Pascal hatte längst aufgehört, sich über die abweisende Haltung der Dorfbewohner zu wundern. Er war sich sicher, dass dieses Dorf ein Geheimnis barg, die Bewohner alles daransetzten, es vor Fremden zu hüten. Er war jedoch ein Kämpfer. Unterkriegen ließ er sich nicht so leicht, von diesen Bergbewohnern aus der Steinzeit erst recht nicht. Längst hatte er sich vorgenommen, ihr Geheimnis zu lüften. Notfalls würde er von zu Hause aus einige Hebel in Bewegung setzen, verfügte er doch über beste Kontakte. Bahnte sich vielleicht sogar der Stoff für eine spannende Story an? Als Journalist hatte er immer Bedarf an interessantem Stoff, selbst wenn sein Fachgebiet nicht betroffen war.

Als die Frau die Tür wieder schließen wollte, stellte Sophie energisch ihren Fuß dazwischen und fragte merklich ungehalten: „Selbst wenn in diesem Ort niemand etwas sieht und niemand etwas hört, so können Sie mir vielleicht sagen, ob Sie von meinem Mann, der vor Tagen mit seinem Auto weggefahren und noch nicht wieder zurückgekommen ist, auch nichts gesehen oder gehört haben? Oder verschwinden hier etwa alle Fremden, ohne Spuren zu hinterlassen?“

„Ich bedaure, es tut mir leid“, entgegnete die Frau, trat Sophie unerwartet mit voller Wucht vors Schienbein und knallte die Tür vor ihrer Nase zu.

Sophie sackte in die Knie und hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht das Bein. Sie sah Pascal entgeistert an. Sie zitterte am ganzen Körper, als sie das Schweigen unterbrach. „Vor wem oder was hatte die Frau mit dem Kind eine solche Angst? Ich muss mich zusammenreißen, sonst werde ich hier verrückt. Was mag Yves wohl zugestoßen sein? Warum lässt er mir keine Nachricht zukommen? Ob ich ihn je wiedersehen werde?“ Tränen liefen ihr übers Gesicht. „Bitte, helfen Sie mir! Ich halte diese Angst nicht mehr aus!“

Pascal legte tröstend seinen Arm um ihre Schultern. Sie lehnte den Kopf an seine Brust und ließ ihren Tränen freien Lauf. Nach ein paar Minuten rüttelte ein letztes heftiges Schluchzen noch einmal ihren Körper durch; dann riss sie sich zusammen, hob trotzig ihren Kopf und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

„Lassen Sie uns zum Gasthof zurückgehen und schauen, ob Leonie nicht doch wieder zurück ist“, drängte Pascal. „Anschließend sollten wir uns überlegen, was wir an diesem feindseligen Ort am Ende der Welt tun können. Außerdem, sehen Sie dort die dunkle Regenfront, die sich über der Bergkette zusammenbraut? Ich fürchte, ein Unwetter kommt bald auf uns zu, und zwar sehr bald. Die Alte warnte davor. In strömendem Regen erscheint es mir wenig sinnvoll, mit dem Auto oder zu Fuß auf die Suche zu gehen. Wenn wir uns auf den Weg machen, sollten wir schon etwas sehen können, vor allem benötigen wir ein richtig gutes Fernglas.“

„Wir haben, glaube ich, eins dabei“, überlegte Sophie. „Ich muss allerdings nachsehen, ob Yves es nicht mitgenommen hat.“

Als sie den Berghof wieder erreicht hatten, lief ihnen Ines am Empfang über den Weg. Sie hatte die strenge Frisur gelöst, eine wilde schwarze Mähne fiel ihr auf die Schultern. Unter anderen Umständen hätte Pascal ihre Erscheinung als ausgesprochen rassig erachtet. Er konnte nicht leugnen, dass sie ihre Wirkung auf ihn nicht verfehlte. Im Stillen ärgerte er sich darüber.

„Ist meine Frau zurück?“, fragte er ohne jegliche Liebenswürdigkeit, auf die er sonst stets großen Wert legte.

„Nein, Monsieur“, antwortete Ines und feixte ihn unverschämt an, wobei ihre Hände über ihren Körper glitten. „Sie wird wohl vom rechten Weg abgewichen sein. Das soll selbst bei den treuesten Frauen dann und wann vorkommen.“

„Noch eine Frage“, unterbrach Pascal sie, ohne auf die unverschämte Bemerkung weiter einzugehen. „Wir haben eben den Wagen von Monsieur Gaillard durchs Dorf fahren gesehen. Aber nicht er saß darin, sondern zwei Uniformierte. Haben Sie eine Erklärung dafür?“

„Wahrscheinlich haben unsere Gendarmen den Wagen gestohlen. Wissen Sie, die werden ziemlich schlecht bezahlt.“

Belustigt über ihren Witz, wandte sie sich ab und ließ Sophie und Pascal am Empfang stehen.

„Ich möchte gerne mal wissen“, sagte Sophie, „wieso sich diese Bedienstete uns gegenüber ein solches Benehmen herausnehmen darf. In jedem anderen Gasthof oder Hotel wäre sie längst gefeuert worden. Auf ein gutes Trinkgeld scheint sie nicht angewiesen zu sein, sonst würde sie sich anders verhalten. Wenn wir erführen warum, würden wir vielleicht schon etwas mehr über das Dorf hier verstehen, vermute ich. Die ist doch nicht ohne Grund so selbstsicher. Sie scheint genau zu wissen, dass ihr nichts geschehen kann, wenn sie sich daneben benimmt.“

„Mit dieser Einschätzung können Sie durchaus richtig liegen, Sophie. Wir sollten sie im Auge behalten. Vielleicht gelingt es mir ja, sie aus der Reserve zu locken, ohne meine Unschuld zu verlieren. Dass Sie bei ihr Erfolg haben könnten, erscheint mir wenig wahrscheinlich“, fügte er schmunzelnd hinzu.

„Ich denke, Pascal, Sie sollten sich diese … diese Person besser vom Leib halten“, legte Sophie ihm ans Herz. „Und das meine ich im wahrsten Sinne des Wortes.“

Pascal empfand, dass Sophie mehr Nachdruck in diese Bemerkung gelegt hatte, als ihm lieb war. Er ermahnte sich, keine gefühlsmäßige Bindung zu ihr entstehen zu lassen. Schließlich waren sie auf der Suche nach Leonie und Yves, ihren Lebenspartnern. Nichts anderes zählte.

„Keine Sorge, ich weiß, wohin ich gehöre“, beruhigte er sie. „Ein Abenteurer bin ich nicht, nie gewesen. Was halten Sie davon, ein wenig zu ruhen und abzuwarten, wie sich das Wetter entwickelt? Wir könnten uns – sagen wir mal – in zwei Stunden wieder hier treffen. Dann sehen wir weiter.“

„Gut, einverstanden. In zwei Stunden.“

Sie stiegen gemeinsam die Treppe zu ihren Zimmern hinauf. Auf dem Gang vor ihren Türen strich Sophie freundschaftlich über Pascals Arm, bevor sie in ihr Zimmer trat. Er hörte, wie sich der Schlüssel im Türschloss drehte.

Pascal warf sich auf sein Bett. Wirre Gedanken schwirrten durch seinen Kopf, Gedanken, die sich nicht einfangen und einordnen lassen wollten. Er nahm ein Buch, versuchte zu lesen. Vorsichtshalber stellte er seinen Reisewecker, denn er wollte nicht, dass Sophie auf ihn warten musste.

Als nach kurzer Zeit draußen der Regen einsetzte und immer stärker gegen die Fensterscheiben prasselte, döste er von dem monotonen Geräusch ein, ohne die ersehnte Ruhe zu finden.

Finisterre

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