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Der Isis-Osiris-Mythos
ОглавлениеVon grundlegender Bedeutung für die Religion der Ägypter und für die mythische Einbettung der Alchemie ist der Isis-Osiris-Mythos. Isis ist die große Muttergöttin Ägyptens, die erste Tochter der Himmelsgöttin Nut und des Erdgottes Geb. Ihre Schwester war Nephthys, ihre Brüder waren Seth und Osiris. Sie beherrscht die Erde und ist den Menschen grundsätzlich wohlgesinnt. Osiris ist der mythische Urkönig Ägyptens, der den Menschen die Zivilisation bringt. Seine Schwesterfrau ist Isis. Der neidische Seth, Mann der Nephthys, der von seinem Vater anstelle des fruchtbaren Ägypten nur die Herrschaft über die Wüste erhielt, tötet Osiris und setzt diesen in einem Sarg verschlossen auf dem Nil aus. Osiris treibt über das Meer bis in die phönizische Stadt Byblos. Mit Hilfe des schakalköpfigen Anubis findet die trauernde Isis ihren Brudergemahl wieder und bringt ihn nach Ägypten zurück, wo Seth den Leichnam zerstückelt und die Teile verstreut. Der treue Anubis, Schutzgott der Balsamierer, hilft Isis erneut und es gelingt, Osiris zunächst zusammenzusetzen und dann wieder zum Leben zu erwecken. Von Osiris empfängt Isis nun den falkenköpfigen Gott Horus, den Urahn der Pharaonen. Osiris erlangt schließlich im Kampf mit Seth den Sieg und wird zum obersten Gott der Ägypter, muss jedoch im Totenreich bleiben. Dieses Drama wiederholt sich im Jahreslauf stets aufs Neue und erklärt die Zeiten der Dürre und des Mangels (der tote Osiris) und die der durch die Nilüberschwemmung eingeleiteten Periode der Fruchtbarkeit und der Fülle (der zum Leben erweckte und Horus zeugende Osiris). Auch im »Großen Werk«, also der Erzeugung (die zugleich auch eine Zeugung ist) des Steins der Weisen (lateinisch lapis philosophorum), wird die Materie in ihre Bestandteile zerlegt (getötet) und anschließend wieder neu und vollkommener zusammengefügt.
Die Legende und die Rolle, die Anubis darin spielt, verweisen auf den Ritus der Einbalsamierung: Zunächst steckt der Leichnam von Osiris längere Zeit in einem Sarg – diese Phase entspricht der siebzigtägigen Entwässerungsphase, in der die Leiche mit Salz bedeckt ist. Anschließend wird er zerstückelt, neu zusammengesetzt und zu neuem Leben erweckt. Dies entspricht dem Übergang vom Diesseits ins Totenreich und dem Vorgang der Einbalsamierung.