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ОглавлениеDiatonik bezeichnet einen Tonraum und Tonbewegungen aus Ganztönen und Halbtönen. Zur Veranschaulichung: Die weißen Tasten eines Tasteninstruments sind »diatonisch« (mit den schwarzen werden sie chromatisiert: um einen halben Ton erhöht und erniedrigt). Diatonik ist das Gegenprinzip von →Chromatik. Zu Chromatik wird Diatonik seit dem späten 16. Jahrhundert auch gern als Kontrast gesetzt. Eindrückliche Beispiele dafür geben Gesualdos textausdeutendes Madrigal (Bsp. 134), Frescobaldis Soggetto (Bsp. 194), Bachs Fugenthema (Bsp. 19).
Diminution ist eine Verkleinerung der Notenwerte, das Gegenteil von →Augmentation.
Dissonanz
1. Merkmale
In der zeittypisch plastischen Sprache bezeichneten manche Autoren des 18. Jahrhunderts Dissonanzen als »Übelklang«. Die Dissonanz (lat. dissonare = auseinanderklingen) meint die »üble« klangliche Eigenschaft simultan erklingender Intervalle und aus ihnen gebildeter Klänge. Das klangliche Gegenteil ist die Konsonanz (lat. consonare = zusammenklingen), für das 18. Jahrhundert ein »Wohlklang«.
Die Einschätzung, was als »Dissonanz« zu gelten hat, ist geschichtlichen Wandlungen unterworfen. Eine Quarte beispielsweise war im Quartorganum des 9. und 10. Jahrhunderts, das eine Choralmelodie mit parallelen Quarten versah, eine Konsonanz. Seit dem 14. Jahrhundert erhält sie dagegen den Stellenwert einer Dissonanz und wird entsprechend im Kontrapunkt, wie in diesem Duo aus einer Messe (1560) von Orlando di Lasso, als solche behandelt. Sie erscheint als |43| Durchgang (), unauffällig auf unbetonter Zeit, oder – in zweistimmigen Sätzen seltener – als vorbereiteter »Vorhalt« zur Terz (↓).
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Als dissonant gelten gemeinhin Sekunden und Septimen sowie alle verminderten und übermäßigen Intervalle. Sie sind unterschiedlich angespannt – eine kleine Sekunde ist schärfer als eine kleine Septime – und haben die Tendenz, sich in eine Konsonanz aufzulösen. In T. 2 von Lassos Duo löst sich das f1 der Unterstimme, das auf »Drei« dissonante Sekunde zum g1 wird, zur konsonanten Terz e1 auf.
Die Wirkung eines Klanges steht jedoch nicht abstrakt fest, sondern hängt von vielen Faktoren ab, unter anderem von Register, Besetzung, Lautstärke. Eine konsonante Terz, in höchster Lage von Flöten fortissimo gespielt, wirkt schrill; eine dissonante große Septime, in tiefer Lage von Celli pianissimo gespielt, wirkt nahezu sanft. Und kaum jemand wird die Takte aus Hindemiths Nachtstück (Bsp. 162b), obgleich knapp die Hälfte der Zusammenklänge Dissonanzen bilden, als besonders »dissonant« wahrnehmen, denn …
2. Bedeutung
Die Menge an Dissonanzen entscheidet mit über den Spannungsgrad einer Musik (siehe dazu auch den Artikel →Harmoniefremde Töne und die dortigen Musikbeispiele). In tonaler Musik können Dissonanzen aber mehr bedeuten als eine klangliche Schärfung, die in der nachfolgenden Konsonanz ihre Entspannung findet. Sie können beredt oder bildhaft sein. Der sprechende Sinn der scharfen Dissonanz in Schumanns Lied (Beispiel a unten; aus Bsp. 65) ist ebenso offenkundig wie beim Schlusstakt von Bachs Matthäus-Passion mit seinem Septimenvorhalt in der Flöte (b). Im Finale der 9. Symphonie türmt Beethoven die Töne von d-Moll und dessen vermindertem Septakkord (cis-e-g-b) zu einem aggressiven Klang auf, um dann den Sänger ausrufen zu lassen: »O Freunde, nicht diese Töne!« Im vierten Satz (»Sturm«) von Beethovens 6. Symphonie liegt im Bass eine repetierte Figur, die – ein unerhörter tonmalerischer Einfall – vier Sechzehntel mit einer Sechzehntelquintole zu dissonanten Verwischungen kombiniert (c).
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Für atonale Musik, die nicht mehr in einer bestimmten Tonart steht, sprach Arnold Schönberg von der »Emanzipation der Dissonanz« (Stil und Gedanke, Aufsätze zur Musik, hrsg. von Ivan Vojtech, o. O. 1976, S. 211 und 74). Schönberg verstand darunter »ihre Gleichstellung mit den konsonanten Klängen«:
Der Ausdruck Emanzipation der Dissonanz bezieht sich auf deren Faßlichkeit, die als gleichwertig mit der Faßlichkeit der Konsonanz angesehen wird. Ein Stil, der auf dieser Voraussetzung beruht, behandelt Dissonanzen genauso wie Konsonanzen und verzichtet auf ein tonales Zentrum.
Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang eine Bemerkung von Walter Kolneder (Anton Webern, Rodenkirchen 1961, S. 62) zu Weberns Nr. 5 der Sechs Bagatellen für Streichquartett op. 9 (1913), weil sie einsichtig macht, wie sehr Kategorisierungen vom Kontext abhängen,
wie störend in diesem Stil eine irrtümlich sich ereignende Konsonanz wirkt: auf der Platte hat sich der Bratscher in T. 6 im Schlüssel geirrt; anstelle der Kleinsekund g-as entsteht die hier »falsche« große Sexte b-g.
Dominante heißt der Durakkord auf der V. Stufe einer Dur- oder Molltonart. Zu einer Dominante gehört wesenhaft Dur, weil dessen große Terz als Leitton zurück strebt zur Grundtonart. Darum empfiehlt es sich, in einer Molltonart zwischen »V. Stufe« (= Mollakkord) und »Dominante« (= Durakkord) zu differenzieren.
Anregung zur Weiterarbeit
Die Übung fördert Wendigkeit im harmonischen Denken: so zügig wie möglich die Dominanten mit ihren Tönen in verschiedenen Dur- und Molltonarten benennen; auch entferntere Tonarten wählen, z. B. des-Moll, Gis-Dur, as-Moll, Fes-Dur …
|45| Dominantseptakkord
1. Merkmale
Bestimmend für einen Dominantseptakkord sind seine Strebetöne, seine Stellung, und seine Erscheinungsformen.
Eine →Dominante kann durch die hinzutretende kleine Septime intensiviert werden: In C-Dur wird aus der Dominante g-h-d der Dominantseptakkord g-h-d-f. (Im Folgenden steht für ihn sein kurzes Zeichen aus der Funktionstheorie: D7.) Neben dem aufwärts zielenden Leitton (L), dem h, ist mit der Septime (7), dem f, ein zusätzlicher, abwärts zielender Strebeton gegeben: Ein D7 drängt doppelt zur Grundtonart zurück.
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Jeder D7 kann »umgekehrt« werden, indem andere Töne als sein Grundton zur tiefsten Stimme werden. Die Namen der Umkehrungen verdanken sich den Intervallen übereinander vom Basston her, gezählt in der engen Darstellung eines Akkordes:
(a) Quintsextakkord, eigentlich Terz-Quint-Sext-Akkord: der Leitton liegt unten;
(b) Terzquartakkord, eigentlich Terz-Quart-Sext-Akkord: die Quinte liegt unten;
(c) Sekundakkord, eigentlich Sekund-Quart-Sext-Akkord: die Septime liegt unten.
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Wesentlich für einen D7 sind: der Grundton, die große Terz als Leitton und die Septime. Die Quinte ist nicht zwingend notwendig. Fehlt die Quinte, spricht man von einem unvollständigen Dominantseptakkord. So bringen die Takte 9–12 von Haydns Menuett (Bsp. 55), jeweils auf der »Zwei«, den D7 a-cis-e-g als a-cis-g, ohne die Quinte e.
Als verkürzten Dominantseptakkord versteht die Funktionstheorie (in C-Dur gedacht) den Klang h-d-f: Der Grundton, hier das g, fehle. Für h-d-f ist die Stellung d-f-h üblich. Für die Funktionstheorie ist d-f-h demnach ein verkürzter Dominantseptakkord (h-d-f) mit der Quinte (d) im Bass. Historisch gesehen ist diese Deutung verfehlt: In dem folgenden dreistimmigen Satz von Guillaume Dufay (um 1400–1474) bildet der vorletzte Klang a-c-fis einen Terzsextklang über a, der sich |46| nach G wendet. Bewahrt hat er sich in der →Oktavregel, die über der II. Stufe mit einer »6« eben diesen Klang fordert.
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Das vermeintlich belanglose Detail verdient deswegen Beachtung, weil es zeigt, wie musikalische Sachverhalte durch systemfixierte Sichtweisen verdeckt werden können. Die Klänge a-c-fis im Dufay-Satz und d-f-h in der Oktavregel sind Terzsextklänge auf der zweiten Stufe: Der Ton d im Bass von d-f-h ist keine »Quinte« eines »verkürzten D7«, sondern Grundton.
2. Bedeutung
Der D7 gewinnt seine spezifische Kraft aus dem Zusammentreffen von Leitton und Septime, die zur Auflösung drängen: Der D7 ist ein Spannungsakkord. Oft setzt Bach in seinen Chorälen zumal den Quintsextakkord ein, um rhetorisch zentrale Worte hervorzuheben (↑):
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Daneben gibt es aber schon bei Bach den D7, vor allem wenn er in Grundstellung auftritt, als Akkord klanglicher Süße; ein anrührendes Beispiel gibt der Schluss-Choral Ach Herr, lass Dein lieb Engelein aus der Johannes-Passion. Für diese Ausdrucksebene gibt es in der Romantik und im Impressionismus viele Beispiele. Die Septime im D7 ist nicht mehr Anspannung, sondern sinnlicher Schmelz. Aus dem Spannungsakkord wird ein Farbakkord. Hier drei eindrucksvolle Ausschnitte:
Schubert, Klaviersonate D-Dur op. 53 D 850, zweiter Satz, T. 56–59:
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|47| Drei Takte lang erklingt, in sich leicht bewegt, der D7 über h, ohne dass irgendetwas daraus folgte. Er löst sich nicht auf – er verwandelt sich: Sein Grundton h wird in berückendem Wechsel zur Terz von G-Dur. Der D7 ist farbige Fläche.
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Der »Tristan-Akkord«, auf der »Eins« im zweiten Takt des Tristan-Vorspiels, hat Generationen von Musikern zu Deutungsversuchen animiert. Fast übersehen wurde dabei die Merkwürdigkeit, dass er sich im Folgetakt in einen Dominantseptakkord entspannt. Ernst Kurth (Romantische Harmonik und ihre Krise in Wagners »Tristan«, 21923, S. 50) hat auf »die eigentümliche Erscheinung« aufmerksam gemacht, dass hier
ein Septakkord nach der vorangehenden Alterationsdissonanz als Auflösungsform eintritt, und zwar auch der Wirkung nach als eine Auflösung, die sich hier einem konsonanten Klangeindruck nähert.
Debussy, Prélude Nr. 7 (aus den Klavier-Préludes II), T. 4/5: Um die beiden Takte leichter lesbar und spielbar zu machen, sind sie hier vereinfacht wiedergegeben, ohne die Vorzeichen (sechs Kreuze) und auf nur zwei statt drei Systemen (»+8va« bedeutet, dass der Akkord gleichzeitig eine Oktave höher bzw. im Bass eine Oktave tiefer angeschlagen wird).
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Eine Kette von Dominantseptakkorden, immerzu Quintsextakkorden, die in denselben Klängen kreisen (Cis7, B7, As7, B7, wiederholt: Cis7, B7, As7, B7, verlängert um Fis7, F7) und im zweiten Takt zum Ausgangsklang Cis7, jetzt in Grundstellung, zurückkehren. (In der vorgezeichneten Tonart Fis-Dur fällt Debussys -Notation auf. Sie soll offenbar das Lesen erleichtern: B7, As7 und F7 sind »eigentlich« Ais7, Gis7 und Eis7). Was |48| passiert in diesem Klangkreis? Nichts. Kein erkennbarer Weg, kein Ziel, keine Strebung, keine Auflösung: Emanzipation der Farbe.
Anregungen zur Weiterarbeit
Übung
So zügig wie möglich in verschiedenen Dur- und Molltonarten die Dominantseptakkorde mit ihren Tönen benennen.
Musikbeispiele
Bitte zunächst ohne Partitur hören: die langsame Einleitung der 1. Symphonie C-Dur Beethovens. Es ist eine Provokation, dass er seinen symphonischen Erstling nicht, wie es sich gehören würde, mit C-Dur beginnt, sondern …
Schumanns Auf das Trinkglas eines verstorbenen Freundes, Nr. 6 des Liederzyklus Zwölf Gedichte von Justinus Kerner op. 35: Was geschieht gegen Ende (»Still geht der Mond …«) im Klavierpart, und was hat das zu tun mit der »mitternächt’gen Stunde«?
Dominantseptnonakkord
1. Merkmale
Strukturell zeigt der Akkord den Terzaufbau tonaler Akkorde. Er ist gebildet aus einem Durdreiklang mit kleiner Septime und None, in Dur mit großer, in Moll mit kleiner None.
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Historisch jedoch entstand die None nicht als weitere Terz über der Septime, sondern als Vorhalt. In Barock und Klassik war das übliche Praxis, sodass im eigenständigen Septnonakkord die None als unaufgelöster Vorhalt verstanden werden kann. Die folgenden Literaturbeispiele zeigen diese Vorhaltsbildung (Bach, Chromatische Fantasie und Fuge BWV 903, T. 44 und 72; Beethoven, Klaviersonate e-Moll op. 90, erster Satz, T. 70 [erneut T. 74]; Bach, Präludium d-Moll aus dem WK I, T. 17 f., hier für die melodische Linie es2-d2-c2-b1):
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Ist er vollständig, besteht der Septnonakkord aus fünf Tönen. In einem vierstimmigen Satz wird darum meist die Quinte fortgelassen, so bei Schumann, Kuriose Geschichte aus den Kinderszenen, T. 1 auf »Drei«: a-cis-[e]-g-h ohne die Quinte e, im Bass die Septime g (Beispiel a). Gelegentlich fällt auch der Grundton fort, sodass ein verkürzter Dominantseptnonakkord entsteht. Mendelssohns Auf ihrem Grab, Nr. 4 der Sechs Lieder im Freien zu singen op. 41, bringt im drittletzten Takt auf »Drei« [h]-dis-fis-a-cis ohne den Grundton h, der gerade auf »Zwei« erklungen war, im Bass die Septime a (Beispiel b).
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2. Bedeutung
Der Dominantseptnonakkord ist der Akkord der Romantik, als eigentlich einziger Klang, den die Romantik dem historischen Repertoire an Akkorden endgültig hinzugefügt hat, in Moll mit oft schneidendem Charakter, in Dur mit klanglicher Sinnlichkeit – wie in diesen beiden Schubert-Tänzen: Nr. 2 aus Sechzehn Deutsche op. 33 D 783, T. 1–4; Nr. 11 aus Zwölf Valses nobles op. 77 D 969, T. 9–12. Beide Viertakter sind vom Septnonakkord aus linear verklammert durch einen →Sekundgang in der Melodie, im ersten Tanz mit dem umspielten Gang h1-a1-g1-fis1, im zweiten Tanz geradliniger mit a2-g2-f2-e2.
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Das Weiche des Akkordes in Dur mag damit zusammenhängen, dass er in seiner harmonischen Bedeutung geschwächt ist, weil sich in ihm verschiedene Akkorde einer Tonart durchdringen. Der zweite Tanz Schuberts bringt in T. 9 den Akkord g-h-d-f-a, durch Verdoppelung der Töne d und f zu üppiger Siebenstimmigkeit aufgefüllt. In ihm wird die V. Stufe von C-Dur (g-h-d) abgetönt durch die IV. Stufe (f-a). Der Grundton dieser IV. Stufe (f) ist zugleich die kleine Septime der V. Stufe (g-h-d+f). Die Quinte der V. Stufe (d) ist zugleich die Sexte der IV. Stufe (f-a+d) oder, anders zugeordnet, Grundton der II. Stufe (d-f-a) … Diese Mischung nimmt dem Akkord seine harmonische Eindeutigkeit, schenkt ihm aber seine spezifische klangliche Qualität. Auch für die impressionistische Klangwelt Debussys ist darum der Septnonakkord bedeutsam. Ein Beispiel geben die Takte 14 ff. von Nuages, dem ersten Satz seiner drei orchestralen Nocturnes. Septnonakkorde gleiten abwärts, mit den fallenden Grundtönen h-as-ges, dann sequenziert zu es-c-b, verharren über dem erreichten B (T. 15/16: b-d-f-as-c), wechseln zum Nonenakkord über G (T. 17/18: g-d-f-a, ohne Terz, plus dem Ton c) – der wenig später weitere acht Takte einen Teppich bildet für die Melodie im Englischhorn (T. 21–28, hier nicht mehr abgebildet, nun als g-h-d-f-a). Das Ganze bleibt ohne irgendeine Konsequenz, es ist reines Farbenspiel.
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Anregungen zur Weiterarbeit
Übung
So zügig wie möglich in verschiedenen Dur- und Molltonarten die Dominantseptnonakkorde mit ihren Tönen benennen.
Musikbeispiele
Aus Schumanns Kinderszenen: Bittendes Kind (Hilfestellung: T. 1 = 3 = 13 = 15; T. 5 = 7), Glückes genug (T. 3, 11), Träumerei (T. 3 = 19; T. 10, 14, 22, 23, 24): Welche Erscheinungsform und welchen Ausdruck haben die Dominantseptnonakkorde?
Doppeldominante auch »Wechseldominante« genannt, ist die Dominante einer Dominante: in C-Dur zu der Dominante G-Dur deren Dominante D-Dur. Besonders wichtig ist sie bei Sätzen in Dur, die zu ihrer Dominante modulieren, weil die Doppeldominante den Weg dorthin anzeigt und dem erreichten Ziel »Dominante« den Stellenwert einer neuen »Tonika« geben kann.
Anregung zur Weiterarbeit
So zügig wie möglich in verschiedenen Dur- und Molltonarten die Doppeldominante mit ihren Tönen benennen. Tipp: entweder vom Grundton einer Tonart zwei Quinten aufwärts denken (D-Dur → a → e = E-Dur; e-Moll → h → fis = Fis-Dur) oder, schneller, auf der zweiten Stufe einer Tonart einen Durakkord errichten (F-Dur → II. Stufe = g → G-Dur; g-Moll → II. Stufe = a → A-Dur).
Doppelfuge ist eine Fuge, die nicht auf nur einem Thema, sondern auf zwei Themen beruht. Die Themen werden entweder nacheinander vorgestellt und dann vereint, oder sie erklingen sofort und stets zusammen, das eine Thema gleichsam als Kontrapunkt des anderen. Die Fuge gis-Moll in Bachs WK II stellt ihr zweites Thema in T. 61 vor und |52| verbindet Thema 1 und 2 ab T. 97. Der erste Satz von Mozarts Requiem bringt im Allegro eine Fuge, deren zwei Themen, auch textlich unterschieden (»Kyrie eleison« – »Christe eleison«), von Beginn an zusammen auftreten.
Doppelter Kontrapunkt liegt vor, wenn zwei Stimmen ihren Platz tauschen können – die obere wird, meist oktavversetzt, zur unteren und umgekehrt –, ohne dass sich daraus satztechnische Probleme oder Fehler (z. B. eine Quintenparallele, siehe S. 190) ergeben.
Anregungen zur Weiterarbeit
Bach, Invention f-Moll: vgl. T. 1–4 mit der Oktavversetzung beider Stimmen in T. 5–8. Was passiert in T. 17–20?
Entsprechendes gilt für den dreifachen Kontrapunkt, der sechs verschiedene Verbindungen der Themen kennt (1-2-3/1-3-2/…). Solch kunstvolle Kombinatorik zeigt Bachs kurzes Präludium A-Dur, Nr. 19 aus dem WK I. Es beginnt mit drei Gedanken: oben, unten, Mitte, vertauscht sie im vierten Takt zu: unten, Mitte, oben, im achten Takt zu … Welche der sechs Möglichkeiten setzt Bach ein?
Dreiklang
1. Merkmale
In seiner Grundform vereint ein Dreiklang zwei Terzen oder – vom Grundton her gesehen – Grundton, Terz und Quinte (a). Mit seiner Terz drückt er die Tongeschlechter Dur und Moll aus: Eine große Terz ergibt Dur, eine kleine Terz ergibt Moll (b).
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Ein Dreiklang kann seine Töne »umkehren« und dadurch drei Stellungen einnehmen: Bei der Grundstellung ist der Grundton – jener Ton, auf dem der Klang errichtet ist – auch der tiefste Ton: der Basston. Beim →Sextakkord ist die Terz der Basston. Beim →Quartsextakkord ist die Quinte der Basston.
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|53| Ein Dreiklang in Dur und Moll gilt als konsonant. Dissonant sind zwei andere Dreiklänge: Ein übermäßiger Dreiklang ist aufgebaut aus zwei großen Terzen (a). Ein verminderter Dreiklang ist aufgebaut aus zwei kleinen Terzen (b).
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2. Bedeutung
Im Barock gelegentlich in spielbetonten Stücken, in der Klassik äußerst häufig wird der Dreiklang – rein oder umspielt und gern entfaltet als Dreiklangsbrechung – zum Baustein von Themen oder Thementeilen. Sonaten von Domenico Scarlatti zaubern aus Dreiklängen fantasievollste Anfänge (Beispiel a bringt vier Ausschnitte). Die Idee von Bachs Invention a-Moll könnte man ohne Übertreibung eine »Studie über Drei- und Vierklänge« nennen. Oder man denke an das dritte Präludium BWV 999 aus der Sammlung Zwölf kleine Präludien (Beispiel b) und seine kunstvollere Version, das C-Dur-Präludium aus dem WK I. Klassische Themen sind oft vom Dreiklang her erfunden, wie der Beginn von Mozarts »Sonata facile« KV 545 (c) und Haydns C-Dur-Sonate Hob. XVI:35 (d).
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Verminderte und Übermäßige verkörpern besondere Charaktere. Ein verminderter Dreiklang ist in Dur auf der VII. Stufe (in C: h-d-f) und in Moll auf der II. Stufe zu Hause (in c: d-f-as). Gegenüber dem reinen Dreiklang wirkt er gepresster. Als Klang allein spielt er eine geringere Rolle als ein Übermäßiger: Der verminderte Dreiklang gewinnt seine volle rhetorische Kraft erst als Bestandteil eines →verminderten Septakkordes, wenn beispielsweise ein d-f-as durch eine weitere kleine Terz zu d-f-as-ces wird.
Ein übermäßiger besitzt gegenüber dem reinen Dreiklang eine eigenartig schillernde Farbe. Er hat keinen definierten Grundton. Klanglich bleibt er durch seine großen Terzen immer gleich, egal welcher Ton im Bass liegt. Zu Hause ist er nirgends, weil jeder seiner Töne als Leitton mit einem Halbton aufwärts oder als Vorhalt abwärts führen kann: c-e-gis (mit gis als Leitton zum a) gehört zu a-Moll, c-e-as (mit as als Vorhalt zum g) zu C-Dur, c-e-as (mit e als Leitton zum f) gehört zu f-Moll, c-e-as (mit e = fes als Vorhalt) … Arnold Schönberg zählt ihn in seiner Harmonielehre (1911) zu den vagierenden Akkorden, den wandernden Akkorden: »heimatlos zwischen den Gebieten der Tonarten herumstreichende Erscheinungen« (S. 311). Für Musik, die ihre tonalen Bezüge lockert oder preisgibt, war er darum der ideale Klang. Beispielhaft zeigt das Schönbergs Hornfanfare (Bsp. 6), die in einen Übermäßigen mündet. Beeindruckend ist der tonal undefinierte Anfang von Franz Liszts Faust-Symphonie (1857), einstimmig zunächst in Bratschen und Celli. Treffender konnte Faust kaum vorgestellt werden als mit dem aufgefächerten, chromatisch gerückten Übermäßigen, dessen (durch die halbtönige Sequenz) insgesamt zwölf Töne in T. 1/2 das chromatische Total ausbreiten (nur der Ton as kommt zweimal, in T. 2 wird er zum gis):
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|55| Anregungen zur Weiterarbeit
Verblüffend ist es, welch unterschiedliche Charaktere – verspielt, dramatisch, energisch, fließend – die Komponisten aus dem Dreiklang gewinnen, durch Rhythmus, Tempo, Dynamik, Artikulation (gestoßen oder gebunden gespielt), Register. Das verlockt zu Zweierlei:
Sich an eigene Entdeckungen zu machen: Welche weiteren Themen in Mozarts Klaviersonaten kommen vom Dreiklang her, und wie sieht es damit bei Beethoven oder Haydn aus?
Selbst Entsprechendes zu erfinden: Spielfiguren im Geiste Scarlattis, Themenanfänge und Themen im Geiste der Klassik zu schreiben oder am Instrument (das geht auch einstimmig auf Melodieinstrumenten!) zu improvisieren.
Dualismus bezeichnet drei unterschiedliche Gegensätzlichkeiten:
1. Im formalen Sinne meint Dualismus den Themendualismus im klassisch-romantischen Sonatensatz, die formbestimmende Gegenüberstellung zweier Themen, die charakterlich und harmonisch kontrastieren (→Sonatensatzform).
2. Im physikalischen Sinne meint Dualismus eine Theorie zur Herleitung des Tongeschlechts Moll. Das Problem, Moll zu begründen, ist bis heute ungelöst. Die →Obertöne enthalten den vom Grundton aufsteigenden Durdreiklang als 4., 5. und 6. Partialton, den Molldreiklang nicht (allenfalls, aber spät und unterbrochen und nicht als C-Klang, in den Tönen 10, 12 und 15). Der Dualismus nun nimmt eine »Untertonreihe« an, als Spiegelbild der Obertonreihe. Die Konstruktion einer Untertonreihe führt zu dem von der Quinte fallenden Molldreiklang.
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Untertöne sind aber physikalisch nicht belegbar, und dass Moll an seiner Quinte hängen statt auf seinem Grundton stehen soll, widerspricht jeder musikalischen Empfindung und Erfahrung.
Die Gegentheorie ist der Monismus. Anders als der Dualismus nimmt der Monismus keinen polaren Gegensatz zwischen Moll und Dur an, sondern leitet Moll von mehreren Durklängen ab. In a-c-e beispielsweise stamme a-e aus der Obertonreihe auf A, c-e aus der Obertonreihe auf C, und a-c könne auch vom F-Dur-Dreiklang f-a-c stammen.
|56| 3. Im lebensweltlich-philosophischen Sinne meint Dualismus ein Weltbild, das von der grundsätzlichen Zweiheit und Polarität aller Phänomene ausgeht: Tag – Nacht, Leben – Tod, Freude – Trauer, Licht – Finsternis, Anfang – Ende … Entsprechend ergeben sich für Musik elementare Prinzipien: hoch – tief, laut – leise, nah – fern, hell – dunkel, einstimmig – mehrstimmig, vokal – instrumental …
Anregung zur Weiterarbeit
Es fördert das musikalische Verstehen und dient sprachlicher Verfeinerung, über solche Gegensatzpaare nachzudenken und die Liste, die oben nur angerissen wurde, weiterzuführen. Die Paare beziehen sich auf den Ausdruck (beschwingt – traurig, streng – gelöst …) und die Art (klanglich – linear, kurz – lang …) von Musik.
Dur
1. Merkmale
Dur und Moll – seit dem 17. Jahrhundert Tongeschlechter genannt – bildeten sich um 1600 aus und prägten bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert die Durmolltonalität: ein Beziehungsgefüge von Tönen und Klängen, das auf den Grundformen Dur/Moll beruht. Sie lösen die alten Modi ab (→Kirchentonarten), in denen sie vorgezeichnet sind: Vorläufer des Moll sind Dorisch (d-e-f …) und Phrygisch (e-f-g …) mit ihrer kleinen Terz, Vorläufer von Dur sind Lydisch (f-g-a …) und Mixolydisch (g-a-h …) mit ihrer großen Terz.
Dur und Moll manifestieren sich klanglich im Dreiklang und linear in der Tonleiter. Jede Dur-Tonleiter verläuft in gleicher Weise: in sieben Tönen, die wieder zum Ausgangston führen (C-Dur: c-d-e-f-g-ah-c), mit einem Halbton zwischen dem dritten/vierten (e/f) und dem siebten/achten Ton (h/c, der siebte Ton ist der bedeutsame →Leitton, der zum Grundton zurück leitet). Jede Dur-Skala besteht demnach aus zwei gleich gebauten Viertongruppen, in C-Dur aus c-d-e-f und g-a-h-c.
Für Moll-Skalen hat sich eine problematische Unterscheidung eingebürgert: zwischen »reinem« Moll (a-Moll: a-h-c-d-e-f-g-a, ohne jedes Vorzeichen), »harmonischem« Moll (a-h-c-d-e-f-gis-a, der siebte Ton werde analog Dur zum Leitton erhöht, um eine stärkere Schlusswirkung zu erreichen) und »melodischem« Moll (a-h-c-d-e-fis-gis-a, der sechste Ton werde ebenfalls erhöht, um die melodisch sperrige übermäßige Sekunde f-gis zu umgehen). Für die kompositorische |57| Praxis ist diese Einteilung »unsinnig«, wie Diether de la Motte in seiner Harmonielehre (1976, S. 77 f.) zu Recht urteilt:
Noch nie […] gab es z. B. eine Komposition in harmonisch Moll. Moll existiert nicht als Tonleiter, sondern als Vorrat von 9 Tönen (Dur: 7 Töne), der jeder Moll-Komposition zur Verfügung steht. [a-h-c-d-e-f-fis-g-gis-a]
2. Bedeutung
Kleine und große Terzen prägen den Charakter von Moll und Dur: Moll gilt seit jeher als dunkel und traurig, Dur als hell und heiter. Für ungezählte Musik trifft das zu, so für die Anfänge dieser Symphonien: für das mitreißende Dur von Mendelssohns 4. Symphonie A-Dur (der »Italienischen«) oder das dramatische Moll in Mozarts später g-Moll-Symphonie KV 550. Die ausdrucksmäßige Polarität von Dur und Moll wurde gern als Sinnbild für ein Gegeneinander eingesetzt: im Einleitungssatz (Tonart c-Moll) zu Haydns Oratorium Die Schöpfung, wenn am Ende bei »und es ward Licht« überwältigend ein C-Dur-Akkord einbricht, oder in Beethovens 5. Symphonie mit dem viel beschworenen Gang »von Nacht zum Licht«, vom c-Moll des Anfangssatzes zum emphatischen C-Dur des Finales.
Die Welten von Dur und Moll und ihre bildhafte Kraft spielen in Schuberts Musik und zumal in seinen Liedern eine bedeutende Rolle. Drei Lieder seien angeführt: Der Lindenbaum (Nr. 5 des Zyklus Winterreise) schlägt von E-Dur, der Erinnerung an eine idyllisch scheinende Vergangenheit, nach e-Moll um (zu Beginn der zweiten Strophe), in die Gegenwart mit »tiefer Nacht« und »Dunkel«. Das Vergangene (E-Dur) hat einen choralartigen Satz, der Gegenwart (e-Moll) sind Triolen unterlegt, Symbol des Wanderns. In der Schlussstrophe des Liedes aber überlagert sich beides, das vergangene Dur und die gegenwärtigen Triolen. Das Umgekehrte war in Gute Nacht geschehen, dem Eingangslied der Winterreise. Das Moll der Anfangsstrophe (»Fremd bin ich eingezogen«) weicht dem Dur, mit dem die Schlussstrophe beginnt, aber es ist bloße Vorstellung (»Will dich im Traum nicht stören«) und wird auch hier von der Realität grundiert, den pochenden, das ganze Lied durchziehenden Achteln als Ausdruck unablässigen, wie getriebenen Wanderns. Schuberts Lied Der Tod und das Mädchen dagegen verwandelt sich: Dem Vorspiel in Moll, Verkörperung des Todes, antwortet das variierte Nachspiel in Dur. Aus der Bedrohung ist Trost geworden.
|58| Anregung zur Weiterarbeit
In Schuberts Winterreise stellen auch andere Lieder Tongeschlechter gegeneinander, unter anderem Auf dem Flusse, Rückblick, Der Wegweiser, Die Nebensonnen. Anregung: zumindest eines dieser Lieder singen, spielen, hören und über ihren Gebrauch von Dur/Moll nachdenken.
Durchbrochene Arbeit ist eine instrumentale Satztechnik primär der klassisch-romantischen Musik, bei der sich Ereignisse auf verschiedene Stimmen so verteilen, dass erst alles zusammen das musikalische Ganze ausmacht. In durchbrochener Arbeit äußern sich Momente von Polyphonie und Raum. Ein markantes Beispiel – das Notenbild verrät schon alles – sind die (mehrfach wiederkehrenden) Takte 25–28 im Scherzo von Beethovens 7. Symphonie. Sie treiben das Anfangsmotiv des Hauptthemas von unten nach oben, zugleich wie eine exaltierte »Imitation«, durch die Streicher:
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Komplexer ist der Anfang des vierten Satzes von Beethovens Streichquartett cis-Moll op. 131. Die Violinen übergeben einander in T. 1–6 ihre Schlusstöne als Anfangstöne, das – melodisch in die Höhe strebende – Weiterreichen verbindet sich zu einer Linie, in rhythmisch gleichen Partikeln. Einen sicheren Grund legen das Cello und die Bratsche, die ihren Liegeton erst in T. 5 verlässt. Die Violinen verkürzen ihr Partikel zu zwei Sechzehnteln plus einem Achtel (T. 7/8), deren Übernahme einen nun fallenden Zug ausbildet, und die Harmonik weitet und beschleunigt sich: Lediglich A- und E-Dur gab es in T. 1–5, jetzt aber (T. 6) D-Dur und Fis7 und in T. 7 einen harmonischen Wechsel auf jedem Achtel. Das linear Verwobene der durchbrochenen Arbeit mündet im Klang aller.
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Die durchbrochene Arbeit ist typisch für orchestrale Werke und Quartette, weil dort mehrere Instrumentengruppen beteiligt sind bzw. sich am »Gespräch« des Quartetts beteiligen, und sie ist typisch für die Präsentation →motivisch-thematischer Arbeit, weil sie die Verarbeitung in verschiedenen Stimmen hervorhebt.
Anregung zur Weiterarbeit
Beethoven, 1. Symphonie, erster Satz: Im Allegro beginnt (T. 53) das zweite Thema nach einer deutlichen Generalpause; der Themenkopf ist aufgeteilt auf Oboe und Flöte, bei der Wiederholung des achttaktigen Themas werden noch die Violinen einbezogen.
Besonders eindrucksvoll ist die durchbrochene Arbeit im »arbeitenden« Durchführungsteil (T. 122 ff. und vor allem T. 144 ff., jeweils zwischen Streichern und Holzbläsern).
|60| Durchführung Der Begriff wird für zwei Gattungen benutzt, obgleich sie ideell, charakterlich, kompositorisch grundverschieden sind: für den klassisch-romantischen Sonatensatz und für die barocke Fuge.
1. In der →Sonatensatzform meint »Durchführung« jenen Teil in der Mitte, in dem musikalische Gedanken der »Exposition« verarbeitet werden.
Das kompositorische Verfahren, die Durchführungstechnik, ist von der musikalischen Form, dem Durchführungsteil, zu unterscheiden: Auch andere Partien des Satzes können »arbeiten«, der erste Satz von Beethovens Klaviersonate D-Dur op. 10,3 bringt schon in den Takten 67–93 eine Durchführung der fallenden Viertongruppe des Satzanfangs. Je mehr sich jedoch Durchführungstechnik über einen Sonatensatz ausbreitet, desto mehr verliert dessen ursprüngliche Abfolge von »thematischer Aufstellung« und »thematischer Verarbeitung« ihre innere Begründung. Wenn »Durchführung« überall stattfindet, macht ein eigener Formteil keinen Sinn mehr. In letzter Konsequenz – wenn ein Satz durch und durch »thematisiert« ist und immerzu »arbeitet« – bleibt vom Sonatensatz nur noch das Prinzip »Durchführung« übrig (so in Alban Bergs einsätziger Sonate für Klavier op. 1, 1907/08).
2. In der →Fuge meint »Durchführung« jene Formteile, in denen das Fugenthema »durch« die Stimmen »geführt« wird. Diese Durchführungen werden durch Zwischenspiele miteinander verbunden. Die Durchführung am Fugenbeginn bezeichnen viele als Exposition. Doch ist das eine schiefe Anlehnung an die völlig anders geartete Sonatensatzform mit ihrem thematischen, einer Fuge fremden Konflikt und mit ihrem spezifischen Auf bau. Statt »Exposition« sollte man richtiger »erste Durchführung« sagen, wie schon Friedrich Wilhelm Marpurg in seiner Abhandlung von der Fuge (I, 1753, S. 113): »Die erste Durchführung eines Fugensatzes kostet wohl insgemein die wenigste Mühe.« Eine Durchführung – die erste in der Regel ausgenommen – hat keine verbindliche Stimmenzahl. Sie heißt daher
vollständig, wenn das Thema in allen Stimmen auftritt. Die erste Durchführung der dreistimmigen c-Moll-Fuge aus dem WK I bringt das Thema auch in drei Stimmen (Alt, Sopran, Bass); diese »Vollständigkeit« ist zu Beginn einer Fuge normal. Ein Themeneinsatz »zu viel« gilt als überzähliger Einsatz. In der dreistimmigen B-Dur-Fuge, WK I, ist – nach den Einsätzen in T. 1, 5 und 9 – der vierte Einsatz in T. 13 »überzählig«.
unvollständig, wenn das Thema in weniger als den gegebenen Stimmen auftritt. Die zweite Durchführung (T. 22 ff.) der dreistimmigen |61| B-Dur-Fuge, WK I, bringt das Thema nur in zwei Stimmen (Alt, Bass). Ein einzelner, für sich stehender Themeneinsatz (c-Moll-Fuge, WK I, T. 11 im Sopran und T. 26 im Bass) begründet noch keine »Durchführung«.
Was in solcher begrifflichen Auflistung ziemlich theoretisch wirkt, ist in konkreter Musik hoch bedeutsam: Die Menge an Einsätzen ist mitentscheidend für die thematische Dichte und Anspannung einer Fuge.
Anregung zur Weiterarbeit
Unter dem Aspekt »Thema«/»Nicht-Thema« erfahre man Bachs dreistimmige F-Dur-Fuge aus dem WK I. Was für eine Menge an Themeneinsätzen! T. 1, 5 und 10, und gleich darauf die nächste vollständige Durchführung (Beginn in T. 18). Wann um Himmels willen kommt denn einmal ein »richtiges« Zwischenspiel? Und was besagt das für Idee, Wirkung und Interpretation dieser Fuge?
Durchgang Der Durchgang wird zu den →harmoniefremden Tönen gerechnet. Er ist, auf unbetonter Zeit, ein mit Sekundschritt erreichter und in gleicher Richtung verlassener dissonanter Ton, der konsonante Töne verbindet. Ein Durchgang kann, wie im Bach-Choral Helft mir Gottes Güte preisen BWV 16, in einer oder mehr Stimmen auftreten (). Im dritten Takt auf »Vier und« erscheint, wie meist bei Bach, die Septime der Dominante als Durchgang.
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Eine spannungsreiche Abweichung von der Norm bringt in T. 1 und 2 ein »irregulärer« Durchgang (↑) – für die barocke Rhetorik ein transitus irregularis –, der im Bach’schen Satz häufig zu finden ist. Dissonanz und Konsonanz vertauschen ihre metrische Position. Statt auf »Eins und« kommen hier die dissonanten Töne e und fis betonter auf der »Zwei«, die Konsonanzen d und e dagegen unbetont auf »Zwei und«. Lineares und Klangliches greifen dabei kaum trennbar ineinander. Die Basstöne e und fis sind doppeldeutig: Kontrapunktisch gesehen sind sie |62| irreguläre Durchgänge. Mit gleichem Recht lassen sie sich auch harmonisch sehen, als Vorhalt zum folgenden d im Klang d-f-h bzw. e im Klang e-g-c.
Durchimitation Bei Durchimitation tritt das Prinzip der Imitation – dass Stimmen einander nachahmen – nicht nur vereinzelt auf, sondern erfasst einen ganzen mehrstimmigen Satz. Mehrfach nacheinander wandern verschiedene melodische Gestalten, einzelnen Textteilen zugehörig, durch die Stimmen. Musterbeispiele dafür geben geistliche und weltliche Chorwerke des 16. und 17. Jahrhunderts: durchimitierte Motetten und Messen sowie die damals ungemein beliebten Liedsätze als Gesellschaftslieder, auch Tenorlieder genannt, weil die Melodie meist im Tenor liegt. Die geistlichen Bicinien von Lasso (Bsp. 13 und Bsp. 85), die Messe von Josquin (Bsp. 102) und die Motette Lechners (Bsp. 150) zeigen die typische, auf das Wort bezogene Satztechnik: Grammatische oder rhetorische Einheiten erzeugen je einen neuen musikalischen Gedanken, der durchimitiert wird. Den Anfang eines Tenorliedes bringt Bsp. 14.
Durmolltonalität ist für die Musik des 17. bis 19. Jahrhunderts ein Ordnungs- und Sprachsystem, das sich auf verschiedenen Ebenen ausprägt:
in den Tongeschlechtern →Dur und Moll und den ihnen zugehörigen Tonarten, als Klangwelt und Raum der Musik;
in Dur- und Moll-Skalen als Grundlage des Melodischen;
in einem Zusammenhang stiftenden harmonischen Gefüge von Akkorden;
in der Beziehung auf ein übergeordnetes tonales Zentrum, die Tonika.
Durmolltonalität setzt sich mit diesen vier Eigenheiten einerseits ab von der alten Modalität (→Kirchentonarten) und auf der anderen historischen Seite von der Atonalität (→Atonal). Für Zwischenstadien, in denen Tonalität zwar noch vorhanden, aber schwach ausgebildet ist, spricht Arnold Schönberg in seiner Harmonielehre (1911, S. 460 f.) anschaulich von »schwebender« und »aufgehobener« Tonalität. (Unscharf wirkt im Vergleich dazu die gelegentlich anzutreffende Bezeichnung »erweiterte Tonalität«.) Schwebende Tonalität schwankt entweder zwischen Tonarten oder verbirgt sie. Schon das Finale von Beethovens Streichquartett op. 59,2 beginnt, nach Schönbergs Worten, »in einer |63| Art C-Dur, das aber fortwährend nach e-Moll hinübergreift«. In Wagners Tristan-Vorspiel wird »das a-Moll, obwohl es aus jeder Wendung herauszuhören ist, […] stets […] umschrieben, immer […] durch einen Trugschluß vermieden«. Für aufgehobene Tonalität verweist Schönberg unter anderem auf »die klassischen Durchführungen, wo der einzelne Moment zwar unbedingt eine Tonart ausspricht, aber so unbefestigt, daß sie jeden Augenblick verloren werden kann«. Sucht man dafür nach einer Vokabel, könnte man vielleicht von »schweifender« Tonalität sprechen.
Dynamik Die Lautstärke zählt neben Höhe, Dauer, Klangfarbe zu den primären Eigenschaften eines Tones. Grundarten der Dynamik sind:
Laustärkegrade: leise (p für piano, mit Abstufungen nach unten: pp = pianissimo, sehr leise, und nach oben: mp = mezzopiano, halbleise) – laut (f für forte, mit Abstufungen: ff = fortissimo, mf = mezzoforte);
Übergänge: lauter werden (crescendo, mit dem Zeichen ) – leiser werden (decrescendo, auch diminuendo, mit dem Zeichen );
abrupte Wechsel: fp = laut und sofort leise;
Akzente: sf oder sfz = sforzato = stark betont.
Das lernt und weiß jeder Musiker. Was soll daran bemerkenswert sein? Selbstverständliches kann zu Besonderem werden, wenn große Komponisten damit umgehen.
1. Flächen
Für die irrsinnigen Takte 143 ff. im zweiten Satz seines Streichquartetts op. 135 schreibt Beethoven ununterbrochen, 32 Takte lang, ff vor. Die Barbarei lässt nicht nach. Gegenstück: Im fünften Satz von Beethovens Streichquartett cis-Moll op. 131 kehrt das hektische Thema ganze fünf Mal wieder, und am Schluss des Satzes noch einmal, klanglich verwandelt: wieder im hohen Register, aber »sul ponticello« zu spielen (der Streicherbogen wird am Steg geführt, was den Ton eigenartig rau macht) und 16 Takte lang im pp (sempre = immer, notiert Beethoven ausdrücklich). Gespenstisch huschende Musik.
2. Differenzierung
ff–f–ppp–pp–erneut ff: Jedes Bild hat seine Dynamik. ff: ganzes Orchester, die thematischen, gewichtigen Akkordschläge, überraschend zu drei Takten gekürzt. f: überrumpelnd im vierten Takt ein Quartfall der Violinen, im Forte: die Enthauptung Egmonts, stockende Fermate.
|64| ppp: acht Takte Holzbläser, gleichmäßige, harmonisch offen bleibende Klangwechsel. So endet, durch und durch bildhaft, der Hauptteil von Beethovens Ouvertüre zu Egmont, bevor der überschäumende Schlussteil anhebt, im Pianissimo, und in wenigen Takten zum Fortissimo anschwillt, dessen triumphalen Ton er beibehält.
3. Zunahme
Unausführbar ist, was György Ligeti zu Beginn seines Cellokonzertes (1966) schreibt: pppppppp. Der Sinn jedoch ist klar: »Wie aus dem Nichts«, so Ligetis Anweisung, soll jener Ton kommen, mit dem der Solist allein beginnt und zu dem nach und nach Instrumente des Orchesters hinzutreten, jeweils »unmerklich« einsetzend. Radikal verfährt Alban Berg im dritten Akt seiner Oper Wozzeck (1914–1921) zwischen der zweiten und dritten Szene. Fünf Takte hindurch klingt nur das kleine h, von immer mehr Instrumenten aufgegriffen, in verkürzten Abständen (zwei Einsätze pro Takt, dann drei, schließlich vier), mit einem riesigen Crescendo vom pppp aus. Im sechsten Takt endet es durch einen heftigen akkordischen Schlag des vollen Orchesters, ein markanter, solistischer Rhythmus der großen Trommel darunter. Der musikalische Umschlag ist erschreckend.
4. Abnahme
Am Ende von Ligetis Cellokonzert verabschieden sich die Instrumente im ppp, und das Solocello beginnt seine Kadenz – aber was für eine! Eine 40 bis 50 Sekunden dauernde »Flüster-Kadenz«, stimmlos, ohne einen hörbaren Ton zu erzeugen, allmählich ersterbend (morendo), bis »Absolute Stille« erreicht ist. Alban Bergs Lyrische Suite für Streichquartett (1925/26) dünnt sich am Schluss aus, von der Vier- zur Dreizur Zwei- und zur Einstimmigkeit. Zurück bleibt im Piano die Bratsche »bis zum völligen Verlöschen« mit einem Terzpendel des-f, das aber – um nicht einen Grundton zu suggerieren – »keinesfalls« mit dem Ton des schließen soll.
5. Auskomponiert
Das erste der Nachtstücke op. 23 für Klavier von Schumann endet außergewöhnlich. Sein Anfangsgedanke, der mehrfach wiedergekehrt war, tritt ein letztes Mal auf, aber durchlöchert – einzelne Akkorde bleiben fort –, wie verwehende Bruchstücke, die sich ins pp zurückziehen. Beethoven gestaltet den Anfang seiner 9. Symphonie umgekehrt als komponiertes Crescendo. Der Satz beginnt im pp, die Streicher spielen |65| thematische Teilchen, ihr Crescendo wird gestützt durch die Einsätze der Klarinette, Oboe II, Flöte II, Flöte I – der Tonraum weitet sich nach oben –, bis im ff zum ersten Mal das Hauptthema ersteht. Solchen Prozess hat Richard Wagner in ein anschauliches Bild gefasst, in seiner Schrift Oper und Drama (Ausgabe Stuttgart 1984, hrsg. von Klaus Kropfinger, S. 113):
In seinen wichtigsten Werken stellt er [Beethoven] die Melodie keineswegs als etwas von vornherein Fertiges hin, sondern er lässt sie […] gewissermaßen vor unseren Augen gebären; er weiht uns in diesen Gebärungsakt ein, indem er ihn uns nach seiner organischen Notwendigkeit vorführt.
6. Offenheit
Renaissancekomponisten schrieben die Dynamik nicht vor, Komponisten des Barock äußerst selten. Doch besagt das noch nicht viel: Wenn etwas nicht aufgeschrieben wurde, heißt das nicht zwingend, dass es nicht praktiziert wurde – möglicherweise schien es zu selbstverständlich, war den Musikern ohnehin vertraut oder wurde mündlich weitergegeben. Nicht zu bestreiten ist jedoch, dass seit der Frühklassik die Notation dynamischer Anweisungen zunahm und verfeinert wurde. Schwierige Leerstellen gibt es dennoch genug. Für das solistische Thema des langsamen Satzes in seinem Klavierkonzert A-Dur KV 488 hat Mozart keine Dynamik angegeben. Generell ist das nicht so schlimm – niemand wird das Thema in einem robusten Forte vortragen –, aber speziell für den thematischen Schluss, der den →Neapolitaner von fis-Moll wiederholt (T. 9) und aufbricht (T. 10), ist Mozarts Zurückhaltung ein Verlust. Denn wie soll der aufwärts strebende Takt 10 gespielt werden: aufblühend mit weitendem Crescendo oder entschwindend mit ausblendendem Decrescendo?
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