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|11| Musik von A bis Z |12| A
ОглавлениеAuftakt: Musik erfahren
Mein Bruder, Jahrgang 1924, erzählte mir, von seinem Musikunterricht habe er lediglich das Wort »Quintenzirkel« behalten und wisse immer noch nicht, was es bedeutet. Das Gefühl, »unmusikalisch« zu sein, hat ihn nie verlassen.
Dergleichen Musikferne gibt es nicht mehr? Der Sohn meiner Nichte rief vor Kurzem verzweifelt an. Er scheiterte an der Hausaufgabe – neunte Klasse Gymnasium –, zu allen möglichen Akkorden Funktionsbuchstaben zusammenzustellen. Der Fünfzehnjährige begriff weder die Theorie noch ihre Zeichen noch den Sinn der Aufgabe.
Solche Fälle – ich könnte sie um unrühmliche Beispiele erweitern – sollen nicht als Argument dafür benutzt werden, begriffliche Unterweisungen generell infrage zu stellen. Zwar gibt es so etwas wie ein begriffloses Begreifen, und es wäre ebenso fragwürdig wie anmaßend, einem Laien, der von Theorie nichts weiß, musikalisches Verständnis abzusprechen. Doch im Grundsätzlichen sind Begriffe lebenswichtig. Sie dienen der Verständigung und ermöglichen Orientierung, sie spiegeln eine Weise des Denkens und beeinflussen ihrerseits das Denken. Darum sollte man um eine treffende Begrifflichkeit ringen, weil durch sie das Verstehen von Musik und Lebenswelt gefördert werden kann.
Musikalische Termini brauchen aber eine zweifache Ergänzung:
1. Begriffe müssen lebendig werden am konkreten Werk. Das Phänomen X mit dem Wort X abzustempeln, ohne die tatsächliche Musik weiter zu beachten, sagt noch nicht viel aus.
2. Ein Begriff braucht das musikalisch-sinnliche Erleben. Immanuel Kant hat es in seiner Critik der Urteilskraft (1781) unübertroffen ausgedrückt: »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.« Begriff und Anschauung brauchen einander, Begriffe allein sind genauso »leer« wie Anschauungen allein »blind«.
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Warum dieser kleine Text? Es geht ihm um eine Grundhaltung. Für den schulischen Musikunterricht gilt sie in besonderer Weise: Fatal wäre es, erschöpfte sich der Sinn von Unterricht darin, Schemata auswendig zu lernen, Begriffe abzuarbeiten, Analysen zu exerzieren.
|13| »Schemata« ja, aber nicht zum stumpfen Einpauken und Abfragen, sondern als eine mögliche Stütze für einen ersten Überblick.
»Begriffe« ja, aber das eigentliche Ziel kann es nicht sein, Fachtermini »an sich« zu vermitteln. Sie bilden eine Fokussierung musikalischer Anschauungen, und sie sind in der Regel kein Ausgangspunkt – so attraktiv es sein kann, einen Begriff an den Anfang zu stellen, um Nachdenken zu provozieren –, sondern ein Ergebnis. (In einem »Lexikon« – Preis der konzentrierten Schriftlichkeit – ist diese Reihenfolge äußerlich leider nicht durchzuhalten).
»Analyse« ja, aber in anschaulichen Beschreibungen und auf schülerbezogenen Zugangswegen. Musik darf nicht trocken eingeübt, sie muss gelebt werden. Szenische Umsetzung, Wiedergabe in Bewegung, Übertragung in unterschiedliche Sprachweisen – Poesie, Prosa, verbale Assoziationsfelder –, Abbildung in Zeichnungen, Darstellung als Pantomime … Alle solche Übersetzungen – sollen sie etwas taugen – setzen eine intensive Beschäftigung mit dem musikalischen Gegenstand voraus und formen eine eigene Beziehung zu ihm. Zwanglos kommen dadurch zwei grundlegende Aspekte zur Deckung: das Objekt (die Musik als Gegenüber) und das Subjekt (der Hörer in seiner persönlichen Haltung), Erfahrungen an der Musik selbst und Erfahrungen durch sie für den von ihr Betroffenen.
Entscheidend bleibt das sinnenhafte Erfahren. Der Quintenzirkel und die Funktionsbasteleien allein gingen schnurstracks an ihm vorbei. Musikalische Begegnungen aber sind durch nichts zu ersetzen.
Abspaltung ist ein kompositorisches Verfahren, das in dreifachem Sinne genutzt wird, um musikalischen Fortgang und Zusammenhang zu besorgen:
1. Zur Verarbeitung: Von einem musikalischen Gedanken wird ein Teilstück abgetrennt und für sich weiterverwendet. Im Thema von Mozarts Klaviersonate A-Dur KV 331 nutzen die Takte 3/4 und 7/8 das zweite melodisch-rhythmische Glied der Takte 1/2.
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2. Zur Verknüpfung: Um mit dem abgelösten Teil eine Brücke zum Folgenden zu schlagen. Den ersten Teil des Kopfsatzes seiner Klaviersonate B-Dur KV 570 beendet Mozart in F-Dur mit zwei Viertelschlägen, trennt die Viertelschläge ab – und verschiebt sie tonartlich, um geradezu überrumpelnd in Des-Dur anzukommen:
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In dieser Bedeutung findet sich die Abspaltung auch in Dichtungen, besonders häufig in Märchen: »Und [Dornröschen] lag in einem tiefen Schlaf. Und dieser Schlaf verbreitete sich über das ganze Schloss.«
3. Zur Erweiterung: Wie ein nachsinnendes Echo, das den Gedanken vertieft, ohne ihn fortzuführen. Im langsamen Satz in Beethovens 9. Symphonie klingt die Melodie der ersten Violinen in den Bläsern nach – viermal greifen sie auf, womit die Violinen geendet hatten. Hier die anfänglichen zwei Viertakter und ihre Nachklänge in der Klarinette:
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Anregungen zur Weiterarbeit
Mozart eröffnet seine Klaviersonate C-Dur KV 309 mit einem markanten, zweigliedrigen Unisono. Wo im weiteren Verlauf des Satzes spielt dieses Unisono eine gewichtige Rolle, und wo gibt es Abspaltungen?
Die Sonate Haydns in Bsp. 52 entwickelt ihr Thema mithilfe der Abspaltung.
|15| Brahms, 3. Symphonie F-Dur, Anfang des zweiten Satzes; für Partiturleser (bitte erst ohne Noten anhören): T. 1–24.
Akkord
1. Merkmale
Ein Akkord (accordare = übereinstimmen) ist ein Zusammenklang von drei oder mehr Tönen. Seine einfachste Form ist der dreitönige →Dreiklang. Viertönig ist der →Septakkord und fünftönig der →Dominantseptnonakkord. Besondere Akkorde sind der übermäßige Sextakkord und der übermäßige Quintsextakkord (→Übermäßig).
Einen Extremfall bilden Klänge, die das chromatische Total ausbreiten, also alle zwölf Töne der chromatischen Skala in sich enthalten. Bei nicht mehr an Tonarten gebundenen Bildungen ist es angemessener, von Klängen zu sprechen als von (tonal definierten) »Akkorden«.
Wie bei einem Intervall die Töne gleichzeitig oder nacheinander erklingen können, so kann sich ein Akkord als Zusammenklang präsentieren oder zum gebrochenen Klang auffächern. Beethovens Scherzo seiner Klaviersonate A-Dur op. 2,2 gewinnt daraus rhythmisch und inhaltlich unterschiedene Viertakter. Dabei wird (das ist ein häufiges Verfahren klassischer Themenbildung) ihr motivischer Gegensatz kombiniert mit einer harmonischen Umkehrung: Nach dem Gang von der Tonika zur Dominante in T. 1–4 führen die Takte 5–8 von der Dominante zur Tonika zurück. Das motivisch analoge a b | a b wird harmonisch anders, mit den gleichen Buchstaben ausgedrückt: a b | b a.
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Jeder tonale Akkord kann (wie unter →Dreiklang und →Dominantseptnonakkord beschrieben), seine Töne »umkehren« und dadurch in verschiedenen Stellungen auftreten, je nachdem, welcher Ton im Bass liegt.
|16| Akkorde sind ihrer klanglichen Qualität nach konsonant oder dissonant (→Dissonanz).
2. Bedeutung
Der Gedanke, tonale Akkorde auf einen Terzaufbau zurückzuführen, geht auf Jean-Philippe Rameaus Harmonielehre Traité de l’harmonie (1722) zurück. Die Schichtung von Terzen gilt für Akkorde als konstitutiv.
Dabei ergibt sich etwas Eigentümliches: Je mehr Terzen übereinandergestellt werden, desto mehr tritt das Moment von Farbe hervor. Aus c-e-g, dem reinen Durdreiklang, wird durch die kleine Septime b ein Dominantseptakkord (c-e-g-b). Tritt die None d hinzu, entsteht ein Dominantseptnonakkord (c-e-g-b-d), bei dem bereits das Sinnliche überwiegt. Geht die Terzenschichtung, hier mit den Tönen f und a, noch weiter – so geschieht es im Finale von Bruckners 6. Symphonie ab T. 359 –, verliert der Akkord erst recht jegliche Richtung. Ein Auflösungsstreben und die Struktur sind in Bruckners Finale aufgehoben zugunsten einer weichen Farbfläche.
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Wenn Terzen nicht mehr das Baumaterial von Akkorden abgeben, wäre es widersinnig – obgleich es mitunter versucht wurde –, Akkorde als Terzenschichtung darstellen zu wollen. Der →Quartenakkord ist aus reinen oder alterierten Quarten gefügt. Er gehört zum klanglichen Vokabular der Moderne. Wie ein Fanal des Neuen bringt Arnold Schönberg diesen Klang, melodisch zu sechs Tönen gebrochen, in seiner Kammersymphonie op. 9 (1906). Sie beginnt, nach vier einleitenden Takten, mit aufwärts stürmender Quartenmelodik des Horns, die über einem übermäßigen, tonal offenen Dreiklang (g-h-dis) der Holzbläser endet.
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Wie bei aller Musik ist auch beim Akkord alles Technische die eine Seite, das ästhetische Resultat die dazugehörige andere Seite. Wenn Debussy in seinem Prélude La Cathédrale engloutie (Nr. 10 der |17| Klavier-Préludes I) Dur- und Molldreiklänge über dem Orgelpunkt C parallel verschiebt, achtstimmig gesetzt und ganze 14 Takte hindurch, dann begründet diese Satztechnik einen gewaltigen Ausdruck: Es stellt sich der Eindruck von Monumentalität und räumlicher Weite ein.
Aleatorik ist der Oberbegriff für Musik, die nicht ein in sich geschlossenes, unveränderliches Werk darstellt, sondern in unterschiedlicher Weise Freiräume belässt, zur Entscheidung des Interpreten. Der Ausführende wird im Moment der Aufführung zum Mitkomponisten. Ziel ist ein offener, nicht in allem festgelegter Ablauf. Der Zufall, der dadurch ins Spiel kommt (lat. alea = Würfel), ist gewollt: »Warum«, schrieb Pierre Boulez, »diese Kraft« – den Zufall – »nicht zähmen, Ertrag und Rechenschaft ihr abverlangen?« In der Tat konnte die Aleatorik, indem sie das Spielvermögen, die Spontaneität und die Reaktionsmöglichkeiten der Ausführenden nutzte, zu musikalisch differenziertesten Ergebnissen gelangen – vor allem im Bereich des Rhythmus und eines freieren Zusammenspiels –, deren Ausnotierung äußerst kompliziert ausgefallen wäre.
Fantasievolle Mischungen von fixierten und variablen Teilen bildeten sich seit Ende der 1950er-Jahre aus. Das Maß an improvisatorischen Freiheiten war unterschiedlich und unter den Komponisten umstritten, vor allem zwischen den Wortführern Pierre Boulez und John Cage, der radikalere Freiheiten verfocht. Details konnten offengelassen werden (etwa die Wahl der Tonhöhen) oder die Form (etwa die Abfolge komponierter Abschnitte). Das präzise Übereinander einer Partitur konnte aufgehoben werden, wie in Witold Lutosławskis Venezianischen Spielen für Orchester (1961). Die Offenheit ging aber auch so weit, dass nur noch unterschiedlich genaue Spielregeln oder verbale Anstöße oder Texte vorgegeben wurden; ein extremes Beispiel ist Karlheinz Stockhausens reine, in Gedichtform gestaltete Textsammlung Aus den sieben Tagen (1968), in deren Untertitel Stockhausen gleichwohl von »Kompositionen« spricht.
Die Aleatorik hatte in den 1960er-Jahren ihre Blütezeit; sie darf inzwischen als historische Phase gewertet werden. Ihre Geschichtswirkung ist bedeutend. Debatten, die durch sie angestoßen wurden, haben sich noch keineswegs erledigt: über Sache und Begriff des musikalischen Werks, über Komposition und Interpretation und ihr Verhältnis zueinander, über Wesen und Definition von Kunst generell, über Begrenzung und Freiheit. Und Aleatorik entdeckte die Improvisation wieder. |18| Damals war sie (was aus der historischen Distanz heraus wahrscheinlich kaum noch verständlich zu machen ist) wahrhaft aufregend: Improvisieren wirkte als Abenteuer einer neu gewonnenen Freiheit und bedeutete zugleich, da ungewohnt und ungeübt, eine große musikalische Herausforderung.
Lesehinweis
Pierre Boulez, Alea, in: ders., Werkstatt-Texte, Frankfurt a. M./Berlin 1972, S. 100–113. Der Essay ist ein historisches Dokument, das erhellende Einblicke gibt in das damalige kompositorische Denken.
Anregungen zur Weiterarbeit
Improvisationen
Man kann sich improvisierend um Verschiedenes bemühen: um eine Chaconne (S. 35), Dreiklangsfiguren (S. 55), Klangketten (S. 160), einen pentatonischen Satz (S. 197), Themen (S. 201), veränderte Wiederholungen (S. 227).
Man kann sich aber auch lösen von musikalischen Vorgaben und z. B. ein Bild, einen Text, ein Naturschauspiel in einer Improvisation darstellen. Gerade auch, weil Interpretationen sonst immer mit fertigen Notentexten zu tun haben, ist ein solch ungebundenfreies Spiel, zu dem man nur Lust und ein Stück Selbstvertrauen braucht, ungemein erfrischend – und lehrreich.
Alla breve Im Alla breve wird ein fließender, beschwingter oder rascher gerader Takt musiziert, bei dem nicht die Viertel, sondern die Halbe als metrischer Puls gilt. Der durchgestrichene Halbkreis , ein Relikt der alten →Mensur, zeigt ein Alla breve an.
Ein Alla breve hat eine spezifische Qualität, die es von »normalen« Taktangaben abhebt: Ein Alla breve ist nicht einfach äußerlich »schneller« als ein Takt mit der Vorschrift »Allegro«, sondern besitzt einen besonderen Fluss: Sein inneres Bewegungsmaß ist anders durch die Halbe als Bezugsgröße. Musikalische Leichtigkeit kann ein Alla breve deshalb gleichermaßen unterstützen wie musikalische Erregung: Die Leichtfüßigkeit, mit der Mozarts Ouvertüre zur Entführung aus dem Serail im Presto beginnt (ihren Zweihalbetakt denkt man sogar eher in ganzen Takten), wird vom Alla breve ebenso unterstützt wie das furiose Prestissimo, mit dem Beethovens Klaviersonate op. 53 (»Waldstein«-Sonate) endet. Doch kann ein Alla breve auch anderes bewirken. Einen |19| Kontrast bildet es am Beginn von Beethovens »Lebe wohl«-Klaviersonate op. 81a: Das Allegro steht, nach dem Adagio der langsamen Einleitung, im Alla breve. Zur Steigerung dient es, wie auch sonst oft, im Scherzo aus Beethovens »Hammerklavier«-Sonate op. 106: Vom lebhaften Grundtempo im Dreivierteltakt wechselt der Satz am Ende zum Presto, notiert im Alla breve; und wieder im Tempo I folgt ein abschließender Viertakter, in dem das Hauptmotiv des Satzes gleichsam nach oben zu entschwinden scheint. Formbildend wird die Mensur in Heinrich Schütz’ Motette Ich weiß, daß mein Erlöser lebt aus der Geistlichen Chormusik (1648): Die Motette wechselt viermal zwischen Dreihalbe und einem Alla breve, jeweils Textteilen zugeordnet. Der Wechsel ist dadurch ähnlich rhetorisch begründet wie in Schütz’ Motette Die mit Tränen säen, die anfangs den »Tränen« im polyphonen Alla breve die »Freuden« im homophonen Dreihalbe entgegenstellt …
Alteration heißt die chromatische, d. h. halbtonmäßige Erhöhung (Hochalteration) oder Erniedrigung (Tiefalteration) eines Tones. Alteration kann Töne und Akkorde zwingender miteinander verbinden, kann aber auch koloristisch wirken: Übersteigerte Alteration schlägt um in Farbe. (Ähnliches passiert, wie unter →Akkord skizziert, bei Terzenschichtungen.) Der Durdreiklang auf dem Ton g (Akkord 1 im Notenbeispiel unten: g-h-d) besitzt mit seinem h einen Ton, der zum c leitet: g-h-d führt nach C-Dur. Wird die Quinte d zum dis hochalteriert, ist damit ein zusätzlicher Leitton gewonnen; zugleich entsteht ein übermäßiger Dreiklang (2: g-h-dis), der eine völlig andere Farbe als g-h-d besitzt. Tritt zum Grundton g noch die Septime f hinzu, ist ein weiterer Strebeton gegeben, zugleich mit einem neuen farblichen Einschlag (3). Möglich wäre noch eine weitere Alteration durch die gleichzeitig tiefalterierte Quinte des. Der Akkord 4 hat jetzt vier Strebetöne: h, dis, des und f, doch es ist kaum noch auszumachen, ob die Strebung oder die Farbe dominiert.
Das Klangspiel kann noch weitergehen. Fügt man g-h-d-f (5) die None a hinzu – es entsteht ein Dominantseptnonakkord (6) –, alteriert wiederum die Quinte d zu dis und zu des, wird aus dem sechstönigen Klang (7: g-h-des-dis-f-a), alle Töne zur Skala angeordnet, die sechstönige →Ganztonleiter g-a-h-des/cis-dis/es-f-[g] (8) mit ihrem farbintensiven, schwebenden Charakter. Sie tritt im Impressionismus bei Claude Debussy gern auf. Dieser ganze Vorgang leuchtet umso mehr ein angesichts des Ranges, den generell in Debussys Harmonik der |20| Septnonakkord (Bsp. 37) und sein Teilstück, der Dominantseptakkord (Bsp. 32), einnehmen.
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Anregungen zur Weiterarbeit
In Bachs Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach steht als Nr. 15 ein herausforderndes Menuett. Der erste, kanonisch beginnende Achttakter hat ab T. 4 eine chromatische Basslinie (h-b-a-as-g), ist ansonsten aber unauffällig. Der mittlere Achttakter verläuft harmonisch typisch, als fallende Quintschrittsequenz (C-f, B-Es). Dann aber: Der schließende Achttakter ist durchsetzt von Chromatik in Bass und Oberstimme. Reizvolle Aufgabe: die »implizite« Harmonik erkennen und den zweistimmigen Satz drei- bis vierstimmig darstellen.
Ambitus ist der Umfang, der individuell einer Stimme, allgemein den verschiedenen Stimmlagen sowie den Instrumenten in der Höhe und Tiefe zur Verfügung steht oder der in einem Musikstück auskomponiert ist.
Auch beim Ambitus begründen Normen das Besondere von Abweichungen. Der normale Umfang der vier Chorstimmen lässt sich ungefähr so begrenzen: Sopran c1 bis a2, Alt f bis d2, Tenor c bis a1, Bass E bis d1. György Ligeti aber fordert in seinem 16-stimmigen Chorstück Lux aeterna (1966, T. 94 ff.) dem ersten Sopran, kurz auch den Sopranen 2 und 3, ein zweigestrichenes h ab, für ganze acht Takte und im Piano. Die außergewöhnliche Höhe überlagert dem Satz ein glitzriges, wie überirdisches Klangband. Außergewöhnlich tief legt dagegen Carl Maria von Weber im Freischütz, Szene und Arie der Agathe, die Querflöten. Ihr tiefster Ton ist c1, und im Bereich c1 bis etwa g1 hat die Flöte einen hauchigen, wie körperlosen Klang. In der Regel wird dieser Bereich darum gemieden, doch bei Weber gewinnt er eine samtene Wärme: wenn die zwei Flöten in tiefen, parallel geführten Terzen (ab dis1-fis1) solistisch zu Agathes Lied »Leise, leise, fromme Weise« überleiten.
Große Expressivität verlangt nicht unbedingt nach großem Ambitus. Gerade eindringlichste Themen ziehen sich auf einen schmalen Umfang zurück. Der melodische Anfang von Schuberts zweitem seiner sechs Moments musicaux für Klavier op. 94 D 780 begnügt sich mit den |21| Tönen b, c, des, es, in einem fünfstimmigen Satz, der ganz auf Klang gestellt ist: die Melodie oktavverdoppelt und im Bass mit parallel geführten Dezimen, mit – in nur vier Takten – sechsmal demselben Es7- und zehnmal demselben As-Klang (dazu noch As-Dur einmal als Sextakkord) – anderes als Dominante und Tonika kommt ohnehin nicht vor – und mit dem kleinen es als durchgängigem Liegeton.
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Anregungen zur Weiterarbeit
Bach, WK I: die Fugenthemen cis-Moll und b-Moll (Bsp. 156), D-Dur (Bsp. 175), f-Moll, h-Moll. Was macht die Themen besonders expressiv?
Klavierlieder: Wo, wie und warum ist der Ambitus reduziert in Schumanns Ich hab’ im Traum geweinet (Nr. 13 der Dichterliebe op. 48) und in Schuberts Der Wegweiser (Nr. 20 der Winterreise)?
Klaviersonaten Beethovens: Wie und mit welcher Wirkung gestaltet ist der Ambitus in der Sonate in D-Dur op. 10,3, langsamer Satz, T. 1–9 und in der in cis-Moll op. 27,2 (»Mondschein«-Sonate), erster Satz?
Atonal ursprünglich als Schimpfwort gedacht, hat sich als neutrale Bezeichnung einer Musik etabliert, die nicht mehr in einer bestimmten Tonart steht. Arnold Schönberg wehrte sich (in seiner Harmonielehre, 1911, S. 486 f.), wenn auch erfolglos, gegen das Wort »atonal«:
Ich bin Musiker und habe mit Atonalem nichts zu tun. […] Ein Musikstück wird stets mindestens insoweit tonal sein müssen, als von Ton zu Ton eine Beziehung bestehen muß. […] Wenn man durchaus nach Namen sucht, könnte man an: polytonal oder pantonal denken.
Als frei atonal, auch post-tonal, wird gern die Musik der 1910er-Jahre bezeichnet, weil sie nicht mehr tonal, aber noch nicht – deswegen »frei« – gebunden ist im Sinne des zwölftönigen Komponierens, das Schönberg Anfang der 1920er-Jahre ausbildete (→Zwölftonmusik).
|22| Mit der Preisgabe der (Durmoll-)Tonalität um 1910 wurden zwangsläufig auch formale, harmonische, melodische Muster aufgegeben, die sich ihr verdankten. Die Komponisten waren damit genötigt, sich andere Ordnungssysteme zu erdenken. Die Form schrumpfte in frei atonaler Instrumentalmusik zu Miniaturen. (Umfänglicher konnte Vokalmusik sein, weil sie am Text einen formalen Halt fand). Der Verlust der formbildenden Kraft tonaler Harmonik führte zu individuellen Klangbildungen und begünstigte die Dominanz thematischer Vorgänge. Die Melodik wiederum differiert, merklich stärker als in durmolltonaler Musik, von Komponist zu Komponist: Anton Webern und Alban Berg sind auch darin unvergleichlich. Alles dies macht »atonale« Musik so einzigartig, weil sie sich von Werk zu Werk selbst erfinden musste und sich nicht an Gegebenes anlehnen konnte.
Gerungen wird allerdings immer noch um die Frage, inwieweit Musik der 1910er-Jahre tatsächlich »atonal« ist oder ob und in welchem Maße in ihr tonale und post-tonale Elemente ineinandergreifen.
Anregungen zur Weiterarbeit
Arnold Schönbergs Sechs kleine Klavierstücke op. 19 (1911) vermitteln einen Eindruck von der konzentrierten Kürze instrumentaler Miniaturen; das zweite Stück umfasst gerade mal neun Takte.
Alban Berg, Vier Stücke für Klarinette und Klavier op. 5 (1913).
Anton Webern, Fünf Stücke für Orchester op. 10 (1913), daraus zumindest das klanglich beeindruckende dritte und das extrem knappe vierte Stück. Die Stücke wollen nicht nur einmal, sondern mehrfach gehört werden.
Arnold Schönberg, Das Buch der hängenden Gärten op. 15 (1908/09) für eine Singstimme und Klavier.
Lesehinweis
Anton Webern, Der Weg zur Neuen Musik, hrsg. von Willi Reich, Wien 1960. Die Schrift ist ein Protokoll von Vorträgen, die Webern Anfang der 1930er-Jahre in einem Wiener Privathaus gehalten hat.
Augmentation bezeichnet die Vergrößerung rhythmischer Werte, in durmolltonaler Musik durchweg als Verdoppelung: Aus Achteln werden Viertel, aus Vierteln Halbe, aus Halben ganze Noten. Das Gegenteil ist Diminution, die entsprechende rhythmische Verkleinerung als Halbierung der Werte. Zwei kunstvolle Beispiele von Bach: In den |23| Takten 14–16 seiner Fuge c-Moll im WK II umschließen das originale Thema (Oberstimme) und dessen variierte Umkehrung (Unterstimme) das zu Vierteln augmentierte Thema (Mittelstimme). Und in der Invention C-Dur bringt die Oberstimme T. 3/4 eine Umkehrung (U) des Themenbeginns von T. 1, kombiniert im Bass mit der Augmentation (Aug) der ersten vier Töne, wobei die Achtelbewegung als solche wiederum in T. 1 in der zweiten Hälfte der Oberstimme vorbereitet ist.
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Anregungen zur Weiterarbeit
Schuberts Große C-Dur-Symphonie beginnt mit einem achttaktigen Hornruf (Bsp. 142). Wo enthält dieser Ruf eine Augmentation?
Brahms, erster Satz der 4. Symphonie: Die Takte 246–258 augmentieren die ersten vier Takte des Satzes zu zwölf Takten. Sie sind der Beginn der Reprise, die aber durch die Augmentation – und zusätzlich durch Instrumentation und Satzanlage – derart verändert ist, dass der Hörer sie nicht sofort als »Reprise« begreift und dann plötzlich merkt, dass er schon …
Beethoven, Klaviersonate op. 81a, erster Satz: Wo überall kehrt das »Lebe wohl«-Motiv aus T. 1/2 wieder, wo in augmentierter Form?
|24| Ausweichung meint ein kurzzeitiges Verlassen der Haupttonart, in Abgrenzung zur Modulation als langfristigem Tonartenwechsel. Der Begriff »Ausweichung« wurde im 18. Jahrhundert synonym gebraucht mit »Modulation«; seit dem späten 19. Jahrhundert ist es üblich, beide voneinander abzugrenzen. Die Unterscheidung ist jedoch problematisch, weil sich kaum sinnvoll fixieren lässt, ab welcher Dauer eines Tonartenwechsels welcher Begriff gelten soll.
Authentisch
1. Die vier ursprünglichen →Kirchentonarten Dorisch, Phrygisch, Lydisch, Mixolydisch sind authentische Tonarten, im Unterschied zu den von ihnen abgeleiteten plagalen Kirchentönen, welche die Vorsilbe »Hypo« (= unter) erhalten (Hypodorisch …).
2. Der authentische Ganzschluss eines Musikstücks hat die Abfolge Dominante – Tonika, im Unterschied zu dem weniger energischen plagalen Schluss mit der Folge Subdominante – Tonika (Musikbeispiele unter →Ganzschluss).
Zur Analyse von Musik
Ganzheitlich
Der Argwohn ist weit verbreitet, Analyse zerstöre eine Musik, weil sie deren Ganzheit auseinanderreiße. »Und hab’ ich […] meinen Lesern mit der Section etwas genützt?«, fragt Robert Schumann, der auch ein begnadeter Musikschriftsteller war, in seiner Besprechung von Berlioz’ Symphonie fantastique (Gesammelte Schriften, Reprint der Ausgabe 1854, Wiesbaden 1985, Bd. 1, S. 123), um sich gleich darauf selbst zu antworten: Denen, die das Werk nicht kennen, könne »durch eine zergliedernde Kritik« wenig »klar gemacht werden«; denen, die das Werk »oberflächlich durchgesehen« hätten, wollte er »ein paar Höhepuncte andeuten«; und denen, die es kennen, aber nicht »anerkennen«, wollte er die »Ordnung« darin und den »inneren Zusammenhang« nachweisen.
Bedeutet »analysieren« »sezieren«? Schumanns dreifache Antwort auf seine rhetorische Frage geht tief. Erstens muss die jeweilige Musik als Musik vertraut sein, sonst läuft eine Analyse ins Leere. Analyse leistet zweitens gute Dienste, indem sie auf einige besondere Stellen (»Höhepuncte«) aufmerksam macht. Sie wiederholt nicht das Selbstverständliche, sondern schaut auf das |25| Individuelle. Und schließlich verdeutlicht sie den musikalischen Organismus. Es geht um das innere Verstehen von Musik. Zu Beginn seines Berlioz-Textes nennt Schumann »vier Gesichtspuncte, unter denen man ein Musikwerk betrachten kann«:
»nach der Form (des Ganzen, der einzelnen Theile, der Periode, der Phrase)«: Schumanns Aufzählung geht vom formal Großen in das syntaktisch Kleine;
»nach der musikalischen Composition (Harmonie, Melodie, Satz, Arbeit, Styl)«: Genannt sind einige musikalische Eigenschaften und mit ihnen das »Material«, mit dem der Komponist umgeht;
»nach der besondern Idee, die der Künstler darstellen wollte«: »Idee« meint das, was gemeinhin mit »Sinn«, »Bedeutung«, »Inhalt« umschrieben wird;
»und nach dem Geiste, der über Form, Stoff und Idee waltet«.
»Die Form ist das Gefäß des Geistes«, ergänzt Schumann. Unwillkürlich fühlt man sich erinnert an jene Gleichung, die Eduard Hanslick 20 Jahre später in seiner musikästhetischen Schrift Vom Musikalisch-Schönen (1854, S. 35) notiert: »Das Componiren ist ein Arbeiten des Geistes in geistfähigem Material.« Schumanns »Geist« – den er als eine Klammer begreift, die alles zusammenhält – lässt sich vielleicht als Art und Größe von Denken, Haltung, Fantasie, Vorstellung, Kunstsinn verstehen.
Was hier auf den ersten Blick abgehoben wirken mag, ist für Analyse ganz konkret. Schumanns »Gesichtspuncte« haben immer noch ihre Gültigkeit, zumal in ihrer ganzheitlichen Schau: Eine musikalische Eigenschaft existiert nicht isoliert, sondern in Wechselwirkung mit anderen Eigenschaften. Entsprechend darf das Aufdecken musikalischer Strukturen nicht für sich stehen – ein bloßes »Sezieren« wäre in der Tat musikalisch tödlich –, sondern der »Stoff« ist einzubinden in »Idee« und »Geist« einer Komposition.
Aus dieser Einstellung heraus seien vier grundlegende Positionen skizziert.
Positionen
1. Seit den 1970er-Jahren setzte sich die Idee einer individuellen Analyse durch. Beide Worte sind gleich wichtig. »Individuell«: auf das einzelne Werk und sein Eigenes gerichtet, statt es als Beleg anzusehen für irgendeine Theorie; »Analyse«: als offenes Schauen und einen perspektivischen Reichtum, der mehr Kategorien umfasst – andere, auch ungewöhnliche, aber die Musik treffende – als die Standards Harmonik, Melodik, Rhythmik. »Perspektivenreich« hat andererseits ein zu wenig genutztes Gegenstück: nämlich eine Musik unter einem einzigen Gesichtspunkt durchzugehen, etwa dem der Schlusswendungen wie auf S. 198; eine musikalische Lupe kann beeindruckende Ergebnisse |26| zu Tage fördern. Im Verein mit »individueller Analyse« wurde die Geschichtlichkeit von Musik hervorgehoben, um musikalische Ereignisse nach ihrem historischen Ort zu differenzieren, statt sie in überzeitliche systematische Vorgaben zu pressen.
2. Es gibt allerdings verschiedene Meinungen zu der Frage, wie Analyse konkret verfahren soll, historisierend oder aktualisierend. Im ersten Fall geht sie von der Geschichte aus: wie ein Musikwerk zur Zeit seiner Entstehung gedacht und aufgeführt wurde. Im zweiten Fall geht sie von der Gegenwart aus: was ein Musikwerk den heutigen Menschen zu sagen hat. Historisieren kann Sinnschichten aufdecken, die von der Geschichte verschüttet wurden; es kann aber die Barriere nicht beseitigen, dass eine vergangene Zeit mit ihren Denk-, Spiel- und Hörgewohnheiten nicht rekonstruierbar ist. Aktualisieren kann ein Werk in seinen historischen Bedingungen verfehlen; es kann aber Neues, zuvor noch nicht Gesehenes an einem Notentext sichtbar machen oder verborgene Möglichkeiten des Wahrnehmens, Verstehens und Darstellens von Kunst entdecken. Anstelle rigoroser Historisierung – vor allem in der Aufführungspraxis alter Musik – scheint inzwischen eine vermittelnde Position zu dominieren, eingefangen im Wort von der »historischen Informiertheit«.
3. Analyse muss mehr sein als eine simple Nacherzählung des Notentextes. Offenkundiges (»In Takt 5 setzt das Cello ein.«) sollte eine Analyse nur dann anführen, wenn es etwas besagt. Das kann auch Unscheinbares betreffen. Wenn Schumann im titellosen Stück Nr. 21 aus dem Album für die Jugend in T. 3 ein überflüssiges Auflösungszeichen setzt, ist das eine Bemerkung wert: Ausdrücklich verhindern soll das Auflösungszeichen, dass der Spieler ein fis greift. Die ersten vier Takte sparen dadurch jegliche Chromatik aus, die erst mit dem fünften Takt eintritt, immer mehr zunimmt und den Satz voranzieht bis zu seiner großen Schlussgeste.
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4. Musikalische Sachverhalte zu erkennen, zu benennen und aufzulisten, erfüllt noch nicht den Anspruch von »Analyse« – auch wenn »erkennen« ihr erster Schritt ist. Analyse, die ihren Namen verdient, sollte sich um Deutung bemühen – mit dem Risiko von Fehlgriffen, aber mit dem Gewinn eines tieferen Verstehens.
|27| Blickwinkel
Beethovens Klaviersonate d-Moll op. 31,2 beginnt mit diesen sechs Takten:
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Die Takte werden gleich darauf (T. 7) von C-Dur aus variiert sequenziert und über chromatisch aufwärts strebendem Bass unaufhörlich weitergetrieben, bis schließlich (T. 21) im Bass, unter schwirrenden Triolen der Oberstimme, eine energische thematische Gestalt erscheint, ein (schon anfangs als Arpeggio präsentierter) aufsteigender Dreiklang. Zu dem Beginn der Sonate zitiere ich Äußerungen von fünf Autoren.
Paul Bekker schreibt in seiner Monographie Beethoven (1911, S. 151):
Ein einfacher Dominantdreiklang erklingt, dessen gespannt fragender Ausdruck noch durch die als Baßton verwendete Terz unheimlich verschärft wird. Und dieser mystischen Tiefe entsteigt eine gespenstige Erscheinung. […] Heftig abwehrende energische Achtelrhythmen, festgeschlagene Baßviertel drängen fort von dem drohenden Spuk. […] Doch das Phantom kehrt wieder, ernster noch mahnend durch die überraschende C-Dur-Wendung.
Über Bekkers »poetisierende Exegese« spottet August Halm zwei Jahre später in seinem Buch Von zwei Kulturen der Musik (1913, 31947, S. 70, 41, 48 f.): »Ich bitte: ein Gespenst mit einer C-dur-Wendung!« Halm hält dagegen:
Die Werte nun dieser D-moll-Sonate haben wir […] vor allem im Aufbau, in der Organisation aufzusuchen. […] Wie wäre es, wenn die Sonate mit dem 21. Takt eröffnet würde? Flach, nicht wahr? Dieser Takt, der sonst so mächtig wirkte, verlor jetzt seine Kraft, denn diese verdankt er eben dem Vorhergehenden, nicht sich selbst.
In seiner Schrift Beethoven in neuer Deutung (1934) zeigt sich Arnold Schering überzeugt von der Existenz eines realen literarischen Programms. Beethoven soll gesagt haben, in Shakespeares Sturm liege der Schlüssel zum Verständnis der Musik; seitdem trägt die Sonate den Beinamen »Sturm«-Sonate. Dem folgend sieht Schering (S. 81) Figuren von Shakespeares Sturm wiedergegeben:
|28| Beethoven gründet den ersten Teil der Sonate auf drei Symbolkomplexe. Den ersten bildet der in Sextakkordlage aufsteigende Dur-Akkord (1, 7); er ist das Wahrzeichen des wie Harfenmusik klingenden Lockzeichens Ariels. Zweitens: die aus Vorhaltmotiven entwickelten drängenden Achtelfiguren der Takte 3 ff., 9 ff., die das suchende Hin und Her des nach allen Richtungen spähenden Jünglings [Fernando] kennzeichnen. […] Drittens: die balladeske, triolenbegleitete Erzählung Ariels vom Tode des Vaters (21 ff.).
Carl Dahlhaus setzt sich in seinem Buch Ludwig van Beethoven und seine Zeit (1987) mehrfach mit der »Sturm«-Sonate auseinander; hier nur ein Zitat (S. 153 f.):
Es bleibt offen, ob Takt 1 eine Antizipation des Themas in Takt 21 oder umgekehrt Takt 21 eine sekundäre Variante von Takt 1 ist, ob also Takt 1 als Introduktion oder Takt 21 als – tonal den Übergang zur Dominante vermittelnder – Entwicklungsteil aufgefaßt werden muß. […] Die Dreiklangsbrechung in Takt 1 [ist] »noch nicht« und in Takt 21 »nicht mehr« Exposition des Themas.
Hans-Joachim Hinrichsen (Beethoven. Die Klaviersonaten, Kassel 2013, S. 209 ff.) hebt den Satzanfang als Brennpunkt hervor:
Es ist der Beginn, der alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, denn er birgt das innovative Potenzial: Mit der engräumigen Kopplung eines Largo- und eines Allegro-Abschnitts, die zugleich den Eindruck der Integration einer langsamen Einleitung erweckt, verbindet Beethoven erstmals zwei sehr heterogene Elemente zu einer einzigen Themengestalt.
Die fünf Autoren reden so unterschiedlich, weil jeder sein Augenmerk auf etwas anderes richtet: auf eine poetische Idee (Bekker); auf die formale Organisation (Halm); auf ein literarisches Programm (Schering); auf das Prozesshafte der Form (Dahlhaus); auf das Neue jenes »neuen Weges«, von dem Beethoven selbst gesprochen haben soll (Hinrichsen). Allgemeiner überlegt: Gelenkt und eingegrenzt wird eine Analyse durch unterschiedliche Erkenntnisinteressen. Ein Pädagoge, der ein Musikwerk unterrichten möchte, achtet auf anderes als ein Interpret, der es zu spielen hat, oder ein Komponist, den die Machart interessiert, oder ein Musikwissenschaftler, der an ihm das historische Phänomen X aufzeigen will. Diese Formen von Subjektivität sind kaum vermeidbar, und sie sind legitim, so lange die jeweiligen Erkenntnisse nicht absolut gesetzt werden.
|29| Jede Analyse muss sich des Problems bewusst bleiben, dass eine bestimmte Eingabe ein bestimmtes Ergebnis hervorbringt. Pointiert gesagt: Jeder kann finden, was er sucht. Die Funktionstheorie findet ihre Funktionen, die Stufentheorie ihre Stufen, die Hermeneutik ihre musikalische Aussage … Die Schwierigkeit, dass analytischer Blickwinkel und analytisches Resultat einander in gewisser Weise bedingen, lässt sich nicht beseitigen. Sie zwingt jedoch zu der Bescheidenheit, dass eine Analyse niemals die Totalität eines Werkes erfassen und niemals Endgültiges aussagen kann: Analysen sind begrenzt und vorläufig.