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Roswitha
ОглавлениеWhen all I want is you.
U2, All I Want Is You
Blondes Haar, athletischer Körper, immer in Bewegung und doch nur ein Schatten, der mich regelmäßig streifte. Sie saß im selben Kurs, wir lauschten den Ausführungen unseres Professors über die Geschichte der Olympischen Spiele, dennoch trafen sich unsere Blicke immer wieder. Anders als ich das kannte. Schüchtern und doch neugierig. Verhalten, aber doch interessiert. Zufällig, aber doch bewusst.
Abgesehen von ein paar Begrüßungsfloskeln unterhielten wir uns das ganze Semester lang nicht, dennoch war Roswitha der Grund, warum ich mich jede Woche neu auf die Lehrveranstaltung an der Sportuniversität freute. Irgendetwas zog mich an. An ihr, an der Situation, an der Ungewissheit, ob sich etwas daraus entwickeln könnte, egal, in welcher Art. Abseits unserer gemeinsamen Lehrveranstaltung sah ich meine blonde Schönheit nur als kurzen Lichtblick an mir vorbeihuschen. Im Leistungszentrum nach dem Training meiner Schwimmer, als sie mir von einer Lehrveranstaltung auf dem Parkplatz ein Lächeln zuschickte, im Supermarkt, von ihr unbemerkt, als ich sie beim Einladen der Lebensmittel in ihr Auto beobachtete, oder am Abend auf der Tanzfläche eines Nachtlokals, in dem ich meine Augen nicht von ihr lassen konnte. Ich sah sie allein, aber auch häufig in der Begleitung eines kleinen Kindes, offensichtlich ihres Sohnes, der mir vor allem wegen seiner dicken Backen und seinem schelmischen Grinsen sofort in Erinnerung blieb.
Als der Schatten fast an mir vorbeigezogen war, es war am Ende des Sommersemesters, bekam ich den wohl für mich bis dahin überraschendsten Telefonanruf. Roswitha war am anderen Ende der Leitung. Ich wusste nicht, woher sie meine Telefonnummer hatte, sie sprach völlig offen über ihren Wunsch, mich zu treffen, versuchte mir jedoch gleichzeitig zu erklären, dass es nur um ein Treffen ging, sie wolle mit mir sprechen. Es wirkte, als ginge es um etwas Fachliches. In mir herrschte Gefühlschaos. Aufgeregt, irritiert, gespannt, nervös, neugierig, schüchtern, stolz und überfordert zugleich traf ich mich wenige Tage später mit ihr zu einem Mittagessen, und sie sprach genau von jenen Gefühlen, die ich ebenso empfand.
Gefühlschaos.
Alles fühlte sich anders und neu an. Die Anziehungskraft zwischen uns war am ganzen Körper spürbar, in jedem Wort, in allen Bewegungen, sogar in den distanzierten Gesprächen, die mich bei unseren ersten Begegnungen vor den Kopf stießen. Ich konnte die Situation – die zierliche, aber doch nur so vor Lebensenergie sprühende, blonde Schönheit und meine eigene Haltung – nicht einordnen, ich verstand nicht, es war etwas komplett Neues.
Roswitha war ein Jahr älter als ich, verheiratet, und lebte mit dem Vater ihres Sohnes. Erst da begriff ich, dass mein Gefühlschaos überschaubar war – im Verhältnis zu ihrer Lebenssituation. Roswitha schwankte ständig zwischen den unterschiedlichsten Welten, Glücksgefühlen, Verpflichtungen, Verantwortungen und Schuldgefühlen, ich hingegen war einfach nur verliebt. Das allein war kompliziert und aufregend genug, nicht einmal in Ansätzen konnte ich ihr Chaos abschätzen, geschweige denn nachvollziehen.
Dennoch war ich in den nächsten Monaten glücklich. Ich war passiv und trotzdem offen, ich genoss das Gefühl unserer gemeinsamen Zuneigung, des tief und noch nie so empfundenen Gefühls der Zusammengehörigkeit, auch wenn wir uns selten sahen, uns körperlich immer distanziert begegneten. Ich fühlte mich als Glückspilz, ich war ihr auf einer unbekannten Ebene verbunden, dieses Gefühl wurde durch die Distanz nur verstärkt. Es gab mehr als nur die körperliche Zuneigung, mehr als den Drang nach Nähe, mehr als die Schmetterlinge im Bauch, und genau das machte mein Empfinden so besonders. Roswitha hingegen litt. Sie war in einer Situation gefangen, deren Ausweg sie nicht kannte, die sie nie haben wollte, in die sie hineingeschlittert war, ohne etwas dagegen tun zu können. Und vor allem: Sie kannte mich nicht. Was war ich für ein Mensch? Warum Clemens? Wieso jetzt? Es war irgendetwas auch in ihr, das uns zusammenhielt, trotz der schier unmöglichen Rahmenbedingungen. Es war einfach nur der falsche Zeitpunkt, mich kennenzulernen.
Aber ich war nun einmal da.
Roswitha ebenso.
Als Roswitha knapp eineinhalb Jahre nach unserem ersten Zusammentreffen geschieden wurde, die schmerzliche Trennung vom Kindsvater vollzogen und das Sorgerecht für ihren Sohn geregelt waren, war es für uns trotzdem weiterhin schwer. Wir waren sehr unterschiedliche Menschen. Auf der einen Seite eine extrovertierte, lebendige, gefühlsbetonte junge Frau, die sagte, was sie fühlte, direkt und unvermittelt, auf der anderen Seite der introvertierte, schweigsame, schüchterne und oft zurückgezogene, leicht arrogant wirkende Sportler, der noch nie ernsthaft in seinem Leben etwas teilen musste, schon gar nicht ein gemeinsames Leben. Ich war immer zwei Schritte hinter ihr. War ich mein bisheriges Leben lang Junggeselle gewesen, hatte immer allein gelebt, war Roswitha ein Beziehungsmensch. Ich hatte nie eine Beziehung gehabt, die länger als sechs Monate gehalten hatte, nun empfand ich seit über einem Jahr Schmetterlinge im Bauch, obwohl ich auf Distanz zu meiner Liebe lebte. Alles dauerte lange, war aber trotzdem intensiv. Wir gingen häufig miteinander joggen, sprachen wenig, genossen die Zweisamkeit, um uns dann erst eine Woche später wieder zu treffen. Wir saßen zusammen auf dem Gipfel eines Berges, Roswitha erzählte aus ihrem Leben, ich lauschte, während wir gemeinsam die frische Luft, die Wärme der Sonnenstrahlen und das Glitzern des Schnees in unsere Herzen ließen. Das verband.
Zum zweiten Mal in meinem Leben erfuhr ich Leidenschaft. Anders als im Sport, aber ebenso intensiv. Die junge Liebe zu Roswitha stellte meine Lebensweise vollständig auf den Kopf. Ich war fasziniert von der Intensität des Gefühls zu einer Frau, gefangen von ihrer Schönheit und Ausstrahlung, oft unbeholfen im Umgang mit den eigenen Gefühlen. Ich war 23 Jahre alt, nur auf Roswitha fokussiert und fühlte mich in unserer Gemeinsamkeit zeitbefreit. Ich empfand Nähe, Zuneigung und Geborgenheit in einer Form, die mir bisher fremd gewesen war.
Wir liebten uns, und wir stritten viel.
Meine Beziehung zu Roswitha führte mich in bisher nicht gekannte Situationen und auch Emotionen – schöne wie auch konfliktreiche. Ich durchlebte zum ersten Mal sehr intensive Auseinandersetzungen. Kein Mensch kam näher an mich heran, kein Mensch traf mich so in meinem Innersten, kein Mensch offenbarte mir Emotionen und Zuneigung intensiver als Roswitha. Es war für mich bisher unvorstellbar gewesen, alle meine Emotionen hinauszubrüllen, nie davor hatte ich das Gefühl verspürt, einen Gegenstand aus Verzweiflung, Wut, Ärger und Rage durch das Wohnzimmer zu schleudern. Andererseits war noch nie ein Mensch auf und neben mir gelegen, einfach weil er meine Nähe suchte, nie zuvor hatte ich einen Menschen derart intensiv gerochen, seine Lippen geschmeckt oder mich von einem Lachen so anstecken lassen wie durch Roswitha. Nie zuvor hatte ein Mensch hemmungslos in meiner Nähe geweint, Trost und Zuneigung gesucht, um sich von den Problemen des Alltags zu erholen, oder mir einfach nur Blumen geschenkt, weil er mich liebte.
Ich kannte dies aus meiner Herkunftsfamilie nicht. Ich ging meist jedem Konflikt aus dem Weg, zog mich zurück, kam nur selten aus mir heraus. Roswitha brachte mich an meine Grenzen, sie öffnete meine Grenzen. Ich wurde empfindsamer. Reflexion und Versöhnung waren eine Reise, die ich vor meiner Liebe zu ihr nicht gekannt hatte. Mehrmals schien uns in unseren ersten zwei Jahren der gemeinsame weitere Weg unmöglich, dennoch hielt uns unsere Anziehung wie ein Magnet zusammen. Wir wurden ein Paar.
Hart erkämpft, aber unzertrennlich.
Ein Team.
Trotz aller Unterschiede.
Oder gerade deswegen.