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Plattenepithelkarzinom

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It’s a town full of losers and I’m pulling out of here to win.

Bruce Springsteen, Thunder Road

Nur über meine Leiche. Mit mir hast du dir den falschen Gegner ausgesucht. Ich werde sicher nicht nachgeben. Ich bin nicht wie jeder. Ich bin Clemens. Was andere darüber denken, interessiert mich nicht. Was für andere gilt, muss noch lange nicht für mich gelten. Geht nicht, gibt es nicht. Wenn ich einmal scheitere, probiere ich es noch einmal. Und scheitere besser! Noch bin ich jung, wenn nicht jetzt, wann dann? Ich bin der Baumeister meines eigenen Glücks. Meiner Zukunft. Sei einfach geduldig, deine Chance wird kommen. Pause brauche ich keine. Ich bin da. Und bleibe da.

Nur über meine Leiche!

Dass ich so weit gehen würde können, dachte ich damals noch nicht.

Mit 18 Jahren fokussierte ich nichts anderes als das nächste Training. Zehn Trainingseinheiten in der Woche waren die Regel, in intensiven Vorbereitungszeiten oftmals mehr, selten – zwecks Erholung – auch weniger. Das erste Training früh am Morgen, ich kroch um 5 Uhr aus dem Bett, um 6 Uhr sprang ich ins einsame Wasser des Wiener Stadthallenbades. Meist zwei Stunden lang. Das frühe Aufstehen kostete mich mehr Überwindung, als mir lieb war. Dennoch ließ ich niemals ein Training aus. Um 8 Uhr stieg ich wieder aus dem Wasser und freute mich auf ein ausgiebiges Frühstück. Am späten Nachmittag schuftete ich eine Stunde in der Kraftkammer und wiederum zwei Stunden im Wasser, um ausgelaugt, erschöpft, aber zufrieden um 20.30 Uhr wieder in meinem kleinen Zimmer im 15. Wiener Gemeindebezirk zur Ruhe zu kommen. Mein Zimmer lag in einem katholischen Wohnheim, das von Schulbrüdern geleitet wurde und mir von Anfang an gespenstisch vorkam. Allein in meinem Zimmer sitzend, schaufelte ich mir abends so viele Kalorien, wie ich nur aufnehmen konnte, hinein. An den Abenden lag ich erledigt vor dem Fernseher in einem dauerhaft menschenleeren Gemeinschaftsraum und ließ mich von dem immer gleichen Fernsehangebot berieseln. Außer den etwas eigenartigen Gestalten der Schulbrüder begegnete ich niemandem in diesem seelenleeren Haus in der Nähe des Westbahnhofs. Es roch nach Einsamkeit. Ich sprach kein Wort an diesen Abenden. Vordergründig kümmerte es mich nicht weiter. Ich war mit meinem Sport beschäftigt, das allein füllte meinen Alltag aus.

Ich kochte selbst, aß allein, hatte einen eintönigen Tagesrhythmus, ging früh schlafen, um in den Morgenstunden halb verschlafen wieder zum Training zu gehen – über den Westbahnhof in die Stadthalle. Das Trainingsbecken befand sich im Keller. Es war dunkel, die Atmosphäre feuchtschwül und anonym. Ich empfand meine Trainingsstätte als bedrückend.

Alleingelassen mit meinen Träumen in einer fremden Stadt.

Um 6 Uhr morgens sprechen Menschen nicht – sie wachen auf. Sie ordnen ihre Gedanken und stellen sich auf den anstehenden Tag ein. Ich sprang ins Wasser. Man sah seine Trainingskollegen, grüßte sich, sprach aber nicht miteinander. Nach dem Training hetzten alle Sportler davon. Das Frühstück, die Arbeit, das Studium, der Beruf warteten. Zeit für Kommunikation blieb keine. Ich stand als Einziger in der Dusche, genoss die Wärme des Wassers auf meinen müden Schultern und blieb oft so lange, bis die Haut runzelig und aufgeweicht war. Ich liebte es. Das Duschen jedoch spülte die Einsamkeit auch nicht weg. Nach dem Frühstück fuhr ich zur Universität, war aber zu müde, um den Professoren zuzuhören. Die Vorlesungen in Politik und Geschichte waren anonym, sie konnten die Trägheit meines Geistes nicht vertreiben. Nach einigen Wochen scheiterte mein Versuch, sowohl den Körper als auch meinen Geist gleichermaßen zu fordern. Der Schlaf mit vollem Magen nach einem ausgiebigen Frühstück war weitaus verlockender als das Studium. Ich fuhr fortan nur mehr zum Mittagessen zur Universität, besuchte die Mensa, mied jedoch alle Hörsäle. Die Zeit bis zum Training am frühen Abend vertrieb ich mir mit Musikhören und dem Lesen von Fachbüchern und Journalen über Schwimmsport. Ich wollte meine sportliche Leistung verbessern. Das war der Grund für meinen Aufenthalt in Wien. Der Johnny Walker, den mir Herwig eines Morgens nach einer feuchtfröhlichen gemeinsamen Feier geschenkt hatte, stand unberührt, einsam und staubig auf meinem Fensterbrett. Der Whisky blickte traurig aus dem Fenster. Er hatte nichts zu tun.

Nie nahm ich mir einen Tag trainingsfrei, auch den Sonntag nutzte ich zur aktiven Regeneration. Gymnastik, Entspannung und oftmals ein ruhiger Lauf sollten meiner besseren Erholung dienen. Das Wasser war mein Element, die Schwimmhalle mein Zuhause – seit meinem achten Lebensjahr. Ich trainierte mehrmals täglich, um mich sportlich zu entwickeln, um mir meinen Kindheitstraum zu erfüllen:

Ich wollte zu den Olympischen Spielen.

Dennoch ging mir etwas ab. Ich nahm es nicht wahr, spürte nur sehr oft ein dumpfes Gefühl der Leere während meines monotonen Alltags in mir. Ich vermisste die spielerische Leichtigkeit meiner Trainingsjahre mit Herwig, das Lachen während unserer Wochenenden, den kindlichen Ehrgeiz in der intensiven, aber doch immer freundschaftlichen Austragung unserer Wettkämpfe. Mir fehlte mein Partner, der mich daran erinnerte, dass es jenseits des Leistens auch noch etwas anderes gab. Ich war in Wien, Herwig in Salzburg. Er fehlte mir.

Meine Leistungen verbesserten sich vor allem im Training, die Wettkampfergebnisse jedoch entsprachen nicht meinen Erwartungen. Nachdem ich ein halbes Jahr lang fünf bis sechs Stunden täglich trainiert hatte, bekam ich zudem Überlastungserscheinungen im Schultergürtel. Zur ständigen körperlichen Müdigkeit kamen nun auch Schmerzen und der Frust, meinen Trainingsplan abändern zu müssen. Eine Pause machen zu müssen. Training, der monotone Tagesablauf, Einsamkeit und der sture Wille, den eigenen ehrgeizigen Vorstellungen nachzulaufen, kulminierten in einem umfassenden Übertraining, dem ich mit noch verbissenerer Arbeit an meinem Körper begegnete. Obwohl meine geschwommenen Zeiten in den nächsten Monaten die besten meiner Laufbahn waren, waren sie dennoch weit davon entfernt, einen Profisportler aus mir zu machen. Ich war nicht nur enttäuscht, ich empfand mich als Verlierer. Als Versager. Ich war jung, ehrgeizig, jedoch hilflos und nun auch noch frustriert. Niemand stand mir zur Seite, hatte einen guten Rat oder einfach nur ein offenes Ohr.

Ich begann, mir auf die Zunge zu beißen. Zu Beginn nur selten, ab dem Frühjahr 1994 immer häufiger, immer auf dieselbe Stelle. Anfangs ignorierte ich die Wunde an der linken hinteren Zungenseite. Nach Wochen der immer gleichen Leiden fühlte sich der Schmerz zunehmend leichter an, ich gewöhnte mich an ihn. Ich biss weiterhin auf die größer werdende Wunde, die sich nun auch langsam von der Mundoberfläche absonderte. Sie erhob sich als weißes Geschwür, das sich jedoch nur bei genauem Hinsehen als abnormal darstellte. Also schaute ich nicht genauer hin. Ich verbiss mich in der Idee, mir selbst zu beweisen, dass sich die investierte Zeit und meine harte Arbeit auszahlen würden, und trainierte einfach weiter. Die Wettkampfergebnisse am Ende meines Schwimmjahres blieben bescheiden:

Mein Projekt war gescheitert, mein Wien-Aufenthalt eine Niederlage.

Ich kehrte nach Salzburg zurück mit der Absicht, nun ernsthaft zu studieren. Sportwissenschaft und Politikwissenschaft. Das rieten mir meine Vernunft und meine Eltern. In mir drinnen jedoch brodelte der gescheiterte Versuch, ein professioneller Sportler zu werden. Aufgeben war nicht meine Sache, war es noch nie gewesen. Auch wenn ich vorgab, nun Student zu sein, blieb ich im Training, arbeitete gemeinsam mit dem damaligen Salzburger Landestrainer weiter an der Verbesserung meiner schwimmspezifischen Fähigkeiten. Just for fun lautete meine Rechtfertigung nach außen, um weiterhin das umfangreiche Schwimmtraining zu absolvieren, in mir drinnen wollte ich aber nach wie vor Profi werden. Die Ergebnisse sprachen eine andere Sprache. Mein Körper verarbeitete all die Belastungen des Hochleistungssports nicht, er war der Summe der Reize nicht gewachsen, litt an dem Druck, den ich mir selbst aufbaute, das gesamte Wien-Projekt hatte Spuren hinterlassen. Doch ich merkte es zu spät.

Mein Geschwür auf der linken Zungenseite wuchs, es schmerzte zwar kaum, behinderte mich aber zunehmend beim Beißen und Kauen. Zu lange, gute sechs Monate lang, wucherte es bereits in meinem Mund. Es wurde Zeit, es von Experten überprüfen zu lassen. Am 5. Dezember 1994 ging ich deshalb zum ersten Mal in die Ambulanz der Mund-, Gesichts- und Kieferchirurgie des Landeskrankenhauses Salzburg. Die Diagnose konnte ich nicht fassen: ein bösartiger Tumor auf der Zunge! Ein Plattenepithelkarzinom.

Ich war 19 Jahre alt, hatte noch nie geraucht, mein Leben lang Sport betrieben – und hatte einen Krebs, der üblicherweise Kettenraucher im hohen Alter befällt. Die Ärzte grübelten ungläubig, konnten keine Antworten geben.

Der Krebs trat in mein Leben.

Einfach so.

Ich war mit der Verarbeitung dieser Diagnose überfordert, konnte die Tragweite nicht einschätzen. Was tun? Wie sollte ich mich verhalten? Hatte ich Fehler gemacht? Warum? Schnell realisierte ich, dass das Suchen nach einem Grund nichts brachte – es gab keine Erklärung. Die Beschäftigung mit dem Krebs empfand ich als ausschließlich negativ. Also konzentrierte ich mich auf das Positive. Der Tumor wurde sofort operativ entfernt, sie schnitten mir das Geschwür aus meiner linken Zungenhälfte. Ich blieb nur eine Woche im Krankenhaus. Die Wundschmerzen vergingen rasch, zu Weihnachten 1994 war der Krebs Geschichte. Danach beschloss ich, meinen Leistungssport endgültig zu beenden. Musste ihn beenden – auf Anraten meiner Ärzte und Eltern.

Zum ersten Mal stellte mich mein Körper vor eine vollendete Tatsache: kein Leistungssport. Ich musste schwer schlucken, aber es schmerzte weniger, als ich gedacht hatte, ich war sogar irgendwie dankbar, dass ich nun einen Grund für mein Scheitern hatte. Ich hatte nicht versagt. Mein Scheitern hatte einem externen Grund, nicht ich war schuld an meiner Niederlage: Ich hatte Krebs. Kaum löste sich mein Lebenswunsch, Schwimmprofi zu werden, in Luft auf, spürte ich eine öffnende Erleichterung.

Befreiung.

Ich bekam wieder Luft.

Ich spürte, wie der Krebs mich vom Druck des Leistens befreit hatte. Montag bis Donnerstag war ich nun der zielstrebige, gewissenhafte Student, ab Freitag jedoch ein junger Lebemann, der lachte, liebte und genoss. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Zeit. Viel Zeit! Zeit für meine Freunde, für das Studium, Zeit für das Nachtleben. Meine Krebserkrankung beendete im Alter von 19 Jahren meine aktive Schwimmkarriere und meinen Traum vom Profisport, nicht jedoch meinen Drang nach Einzigartigkeit, meine Lust am Leben und Ausprobieren.

Ich traf Herwig wieder öfter, jedoch nicht mehr in der Schwimmhalle. Wir hatten beide den aktiven Wettkampfsport beendet, spielten wieder Fußball und genossen an den gemeinsamen Wochenenden oft mehr Bier, als uns guttat. Ich war endlich wieder zu Hause. Ich lebte unbekümmert in den Tag hinein, trieb Sport nur nach Lust und Laune und gab mein Geld am Wochenende großzügig in Nachtlokalen aus. Ohne Verpflichtungen auf unseren Schultern, frei von allen Trainingszwängen sangen wir gemeinsam oft bis zum Sonnenaufgang „Those were the best days in my life“ und fühlten uns dabei unsterblich. Ich konnte schlafen, so lange ich wollte, essen, was mir schmeckte, und studieren, wie es mir passte. Jung, unbekümmert und ohne Verantwortung genoss ich die neu gewonnene Freiheit.

Nach meiner Tumoroperation traten weiterhin Gewebeveränderungen auf der Zunge auf, sogenannte Leukoplakien – eine Vorstufe von bösartigen Tumoren, immer wieder, ein ganzes Jahr lang, bis zum Jänner 1996. Die Ärzte waren ratlos, ich selbst bei den unangenehmen Kontrollterminen verunsichert. Ich schwankte zwischen der Leichtigkeit des Studentenlebens und der ständigen Angst vor meiner Krankheit. Auf Zeiten der Euphorie und der Lebenslust folgten Phasen der Unsicherheit, der Schmerzen und der Hilflosigkeit, die durch fünf weitere Operationen zur Entfernung der Leukoplakien ausgelöst wurden. Die Leukoplakien traten einfach auf. Aus dem Nichts. Niemand fand einen Zusammenhang zwischen den weißlichen Veränderungen und meinem Immunsystem. Also schnitten die Ärzte sie einfach aus der Zunge. Außerdem versuchten sie, die Leukoplakien zu veröden – das Unerwünschte einfach wegzubrennen. Aus dem Blick, aus dem Sinn. Die Ärzte taten genau das, was meiner eigenen Haltung entsprach. Auf die Frage nach dem Warum gab mir niemand eine Antwort.

Es war einfach so.

Punkt.

Die Laserbehandlungen, die diese weißlichen Veränderungen an der Zungenoberfläche wegbrannten, waren extrem schmerzhaft, doch mein Körper funktionierte gut, er regenerierte unglaublich schnell, die Erholung von den traumatischen Eingriffen dauerte nie lange, eine Woche maximal. Doch die ständigen Eingriffe hinterließen Spuren, sowohl in der Mundschleimhaut als auch in meinem Kopf.

Meine junge Seele war überfordert.

Und allein.

Unfähig, die ständigen Rückschläge richtig einzuschätzen, in laufender Sorge um meine Gesundheit, versuchte ich, mich noch mehr auf das Positive in meinem Leben zu konzentrieren. Ich begann, wieder mehr Sport zu treiben. Kein Schwimmtraining, aber die tägliche Einheit Krafttraining, Lauftraining oder Radtraining musste es immer sein. Das Training gab mir ein Gefühl von Stärke. Ich wurde kräftiger, schneller zu Fuß und auch auf dem Rad, widerstandsfähiger in allen Spielsportarten und empfand mich als belastungsresistenter. Meine körperliche Stärke half mir, die Gefahr einer erneuten Krebserkrankung zu vergessen. Zumindest bis zur nächsten Untersuchung.

Nach meiner sechsten Zungenoperation traf ich eine Entscheidung. Ich konnte nicht alle zwei Monate eine Operation ertragen, auch wenn es jedes Mal nur ein kleiner Eingriff war. Das Gewebe veränderte sich ständig, allein durch die neu entstehenden Narben. Weder die Ärzte noch ich selbst wussten mit Gewissheit, ob all die weißlichen Veränderungen auf meiner Zunge eine Gefahr darstellten.

Niemand kannte mein Immunsystem.

Ich auch nicht.

Da es keinen offensichtlichen Grund für mein Plattenepithelkarzinom gegeben hatte, auch keinen für die ständig auftretenden Leukoplakien, entschieden die Ärzte auf mein Drängen hin, die Veränderungen zu beobachten, anstatt sie zu operieren. Eine gute Entscheidung. Die Leukoplakien traten auch weiterhin auf, veränderten sich ständig in Größe und Form, meistens verschwanden sie wieder, um dann bald an anderer Stelle aufzutauchen. Der Blick in meinen Mund wurde zum Ritual meiner Morgenhygiene. Ebenso am Abend. Es gab unzählige Momente, in denen mir die Angst Streiche spielte: Ich begann zu schwitzen, der Blutdruck und mein Puls stiegen, ich lief alle fünf Minuten zum Spiegel, um meinen Mund zu kontrollieren. Ich schwankte zwischen Panik und Vernunft. Diese Anfälle dauerten oft mehrere Tage. Die Krebserkrankung, abgelegt in einer verschlossenen Gruselkammer meines Kopfes, kroch immer wieder in mein Bewusstsein. Es bedurfte vieler Überzeugung und noch mehr Willenskraft, meiner Angstschübe Herr zu werden.

Diese Situationen forderten mich.

Aber sie stärkten mich auch.

Langsam und beständig schulte ich meine Vernunft und meinen Willen. Ich musste die Panik besiegen. Einen Weg finden, um mit der Bedrohung umzugehen. Darüber zu sprechen, war für mich keine Lösung. Ich schenkte meiner Krankheit, die ich nicht als solche akzeptierte, keine Aufmerksamkeit mehr. Ich hatte immer das Gefühl: Je weniger ich dem Krebs und seinen Bedrohungen Platz biete, desto besser kann ich mich auf meine Stärken konzentrieren. Ich versuchte, den Krebs zu minimalisieren. Er war für mich ein lokales Problem, er hatte keinen Einfluss auf den Rest meines Körpers. Ich wollte ihm sprichwörtlich keinen Raum geben. Monat für Monat wurde ich stärker. Körperlich und seelisch. Meine Gruselkammer öffnete sich immer seltener, sie war da, doch ich nahm den Inhalt nicht mehr heraus. Ab und zu dachte ich noch an die Operationen, an die lähmende Unsicherheit, doch selbst die Kontrolluntersuchungen, die ich alle vier Monate über mich ergehen lassen musste, wurden zur Routine. Sie stressten mich nun weniger als unmittelbar nach meiner Krebsdiagnose.

Ich vermied das Wort Krebs bewusst. Nie nannte ich das Krebsgeschwür Krebs. Niemand konnte mir erklären, warum mich der Krebs heimgesucht hatte, ich hatte keine Verbindungen zu meiner Krankheit. Der Krebs war auch nicht durchgängig präsent. Er kam aus dem Nichts, ich musste mich eine Zeit lang mit ihm beschäftigen, so lange, bis ich ihn wieder in die Kammer schließen konnte. Er war kein dauerhafter Begleiter, vielmehr ein lästiger Zeitgenosse, der mir immer wieder auf mein Gemüt schlug, ohne durchgehend Schaden anzurichten.

Nach fünf Jahren – das ist der Zeitraum, nach dem Experten den Krebs als besiegt betrachten – ging ich nicht mehr zur Kontrolluntersuchung. Aufforderungen seitens des Landeskrankenhauses, weiterhin in ärztlicher Betreuung zu bleiben, ignorierte ich. Die Beschäftigung mit diesem Thema tat mir nicht gut. Ich hatte keinen Rückfall, die oberflächlichen Veränderungen auf meiner Zunge nahm ich zur Kenntnis, bevor ich sie schlussendlich ebenfalls ignorierte. Ich fühlte mich körperlich und seelisch so stark wie noch nie; ich beschloss, den Krebs endgültig aus meinem Leben zu streichen. Ich war 23 Jahre jung, rauchte nicht, war sportlich, hatte keine Risikofaktoren und ernährte mich ausgewogen.

Keine Kontrollen mehr, kein Arzt, kein Krebs – so einfach war das Leben.

Fortan genoss ich meine Studienzeit in vollen Zügen.

Ich arbeitete nun auch als Schwimmtrainer und stillte mit dieser Tätigkeit meinen immer noch brennenden Ehrgeiz. Dem Sport blieb ich somit treu, nun auf der anderen Seite des Beckens. Meist basierend auf Erfahrungen aus dem Studium, der eigenen Schwimmkarriere, oft auch durch simples Ausprobieren versuchte ich, meinen eigenen Stil als Trainer zu finden. Ich beging in meinen ersten Trainerjahren viele Fehler, korrigierte jedoch meist alle. Die Erfahrungen, die ich daraus gewinnen und mitnehmen konnte, waren Gold wert. Ich zog mein Wissen aus Eigenerfahrung. Ich bekam eine zweite Chance. Ich arbeitete daran, meine Ziele durch andere wahr werden zu lassen. Ich war derselbe junge Mensch mit denselben ehrgeizigen Zielen, den gleichen Antrieben. Als Athlet hatte ich meine Grenzen erkennen müssen, als Trainer schienen mir alle Möglichkeiten offen. Ich glaubte fest an die Möglichkeit, den Schlüssel zum Erfolg zu finden. Mit Hilfe des damaligen Landestrainers, der fachlich mein Mentor wurde, konnte ich gleichzeitig beobachten und frei von jedem Druck lernen. Ich wuchs im Schatten des Leistungssports langsam wieder in jenen Rhythmus hinein, der mir als Aktiver, als junger Schwimmer, zu intensiv geworden war.

Mein Ehrgeiz war wieder da.

RESET

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