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Hannah

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Du machst’s mir leicht.

Ich lieb dich so, so, so, so wie du bist.

Lemo, So wie du bist

Am 3. September 2002 erlebte ich den Höhepunkt meiner emotionalen Achterbahn. Ich saß im Kreißsaal unseres Krankenhauses, es war 5 Uhr morgens, Roswitha lag in der Badewanne und vollbrachte eine Leistung, die ich so nie davor und auch nie mehr danach miterlebt habe. Jeder Muskel in ihrem Körper gebar unser gemeinsames Kind, die Intensität einer Geburt war das eigentliche Wunder in meinem Leben, es mitzuerleben, veränderte mein Denken von Grund auf. Als ich meine Tochter Hannah zum ersten Mal im Arm hielt, war meine Zuneigung nicht in Worte zu fassen.

Ich spürte bedingungsloses Urvertrauen, das Urvertrauen eines neugeborenen Kindes. Was immer noch kommen würde, ich wusste, wofür ich gut war, was meine Aufgabe sein würde und wem ich als Vater immer eine Unterstützung sein würde. Ich war überwältigt und feierte mit Herwig, Philipp und meinen engsten Freunden ein ausgelassenes Fest. Philipp wurde Taufpate, ich spürte, es bedeutete ihm viel, ich sah seinen Stolz, der Taufpate des ersten Nachwuchses in unserer Familie sein zu dürfen. Hannah entzündete eine Kraft in mir, die ich davor noch niemals wahrgenommen hatte.

Diese Kraft wuchs beständig.

Ich musste nichts dazu beitragen, es geschah einfach.

Wenn ich nach dem Training abends nach Hause kam, liebte ich die wenigen Stunden Gemeinsamkeit mit Hannah. Ich freute mich auf die wettkampffreien Wochenenden mit meiner Familie. Diese Zeit gab mir Energie und war eine Oase der Erholung. Jeden Abend brachte ich Hannah ins Bett. Als sie noch im Gitterbett lag, hielt ich oft eine Stunde lang, gebeugt über ihrem Bett stehend, ihre Hand. Die Rückenschmerzen ignorierte ich. Eine oft sehr lange Prozedur, da Hannah nie müde war und das Einschlafen hinauszuzögern versuchte. Ich liebte ihre Überredungsversuche, länger aufbleiben zu dürfen, obwohl man ihr anmerkte, dass sie sich kaum noch wachhalten konnte. Wenn ich die Kinderzimmertür hinter uns schloss, stahlen wir beide uns in eine Phantasiewelt, die auch für mich eine Reise in meine Kindheit war.

Als sie alt genug war, um in ein großes Bett zu wechseln, legte ich mich immer zu ihr und erzählte ihr erfundene Geschichten über Sepp und Schorsch, zwei Freunde, die alle Krisen des Alltags gegen einen Bösewicht zu überstehen hatten und am Ende immer siegten. Der Bösewicht hatte die Gestalt eines Affen, der sich alles Erdenkliche einfallen ließ, um die beiden Freunde auseinanderzubringen, ihnen zu schaden. Der Retter in der Not war dann immer ihr weiser Freund Peter. Hannah fürchtete sich vor dem Affen, lachte mit Sepp und Schorsch und verehrte Peter. Diese 20 Minuten im Bett meiner Tochter waren der Brunnen meines Glücks. Ich erzählte ihr meine Abenteuergeschichten viele Jahre lang, bis in ihre frühe Pubertät. Sie repräsentierten ein immer gleiches Ritual und bedeuteten mir alles, ein Eintauchen in Entspannung und Erholung. Oft war ich derjenige, der nach Beendigung der Geschichte zuerst einschlief, und Hannah blieb nichts anderes übrig, als ebenfalls einzunicken.

In den Jahren nach der Geburt meiner Tochter begann ich, vermehrt zu arbeiten. Diese Zeit erlebte ich als die intensivste meines Lebens: auf der einen Seite Hannah aufwachsen zu sehen, ihre wachsende Neugier zu beobachten, und auf der anderen Seite die steigenden Anforderungen meines beruflichen Disputs gegen das und mit dem heimischen Verbandssystem und das ehrgeizige Streben nach Erfolg. So, wie ich es bereits als junger Mann mit Lukas erleben durfte, war Hannah für mich mein Rückzugsgebiet vom immer umfangreicher werdenden Berufsalltag. Doch Lukas hatte ich erst im Alter von drei Jahren kennengelernt, mir fehlten seine ersten Lebensjahre. Das holte ich nun mit Hannah nach und genoss gleichzeitig die immer größer werdende Energie des nun pubertierenden Lukas. Er wurde mit jedem Monat geschickter, kräftiger und vielfältiger, wir duellierten uns auf gleicher Höhe beim Tischtennis, spielten Tischfußball und Darts und kämpften wie zwei Gleichaltrige um den Gesamtsieg bei unserem Familientriathlon. Wenn ich zu müde war, um seine Energie zu stillen, ging er in den Keller und spielte oft eine Stunde lang auf seinen Drums, der Rhythmus war im ganzen Haus zu hören, doch anstatt dass es mich nervte, beruhigte es mich, in dem Wissen, dass Lukas seine Energie und gleichzeitig sein musisches Talent ausleben und weiterentwickeln konnte. Ich konnte abschalten – durch die Schläge seiner Drumsticks.

Ich stand meist früher auf als meine Familie. Roswitha, Lukas und Hannah weckte ich, wenn ich zur Schwimmhalle aufbrach, da wir um 7 Uhr unser erstes Training absolvierten. Um 11 Uhr war ich wieder zu Hause und nutzte die Zeit, in der Roswitha und Lukas in der Schule und Hannah im Kindergarten waren, um die Büroarbeit für den Verein zu erledigen und mich für meine Lehraufträge vorzubereiten. Um 12.30 Uhr verließ ich das Haus wieder, um für die Universität und anschließend für den Verein wieder in der Schwimmhalle zu arbeiten. Oft kam ich erst gegen 20 Uhr nach Hause und war so hungrig, dass ich eine Stunde lang völlig überhastet ein Sandwich nach dem anderen aß, um meinen Energiebedarf zu decken.

Hinzu kam, dass ich in der Nacht oft aus Sorge um mein berufliches Fortbestehen nicht entspannt schlafen konnte, der Kampf um Fördergelder und Wasserfläche ruhte nie, war aber eine unbedingte Voraussetzung zur Umsetzung meiner ehrgeizigen Ziele. Das komplexe System aus ständiger streitbedingter Existenzbedrohung und der Notwendigkeit einer raschen Weiterentwicklung gönnte mir keine Pause. Ich war weiter unter Dauerstress, übertauchte den inneren Druck mit ausgedehnten Sportaktivitäten. Sie sollten als Pausen dienen, waren aber vor allem körperliche Belastung. Wenn in einer Mittagspause zwischen meinen Vormittags- und Nachmittagstrainings Zeit blieb, füllte ich diese mit einer Ausdauereinheit. Ich warf einen Blick auf meine Uhr, rechnete mir die verbleibende Zeit bis zum nächsten Termin aus, hetzte in den Keller, zog mich hastig um, um in weniger als fünf Minuten fix und fertig auf meinem Rennrad zu sitzen. Oft telefonierte ich freihändig fahrend die ersten Minuten auf dem Rad, um einen Rückruf zu erledigen. Mein Herz pochte schon vor dem ersten Anstieg, jedoch nicht wegen der körperlichen Belastung, sondern weil es den anfallenden Stress bewältigen musste. Die Wettkampfmoral blieb in meinem persönlichen sportlichen Training immer präsent. Nicht als klassischer Zweikampf, sondern als Spiel gegen mich selbst. Es reizte mich, die Wattzahlen an meinem Fahrradergometer nach oben zu drehen, den Gaisberg noch schneller mit dem Rad zu erklimmen als bei meiner bisherigen Bestleistung.

Immer wollte ich ausprobieren, wie mein Körper auf noch höhere Intensität reagierte: Wann war zu viel zu viel?

Ein gefährliches Spiel.

Ich hatte nie gelernt, dass Pausen der Schlüssel zu dauerhaftem Erfolg sind. Ich arbeitete jahrelang auf hoher Drehzahl und mit enormer Intensität, sprang von Termin zu Termin und übersah alle Warnsignale meines Körpers. Er verkraftete zwar die langen Belastungsphasen, vergaß sie aber nicht. Im Glauben an meine eigene Unfehlbarkeit, in der falschen Annahme, durch vermehrten Einsatz auch vermehrten Erfolg zu generieren, ohne dabei meine eigenen Grenzen zu achten, nahm ich nicht wahr, dass dieser Rhythmus über meiner persönlichen Verträglichkeit lag. Schritt für Schritt verlor ich die Kontrolle. Ich saß in der Schwimmhalle, stoppte die Sportler, telefonierte gleichzeitig, um keine Zeit zu verlieren, versuchte zwischendurch, den Sportlern meine Anweisungen verständlich zu machen. Ich vermisste das intensive Beobachten, das ich in meiner Kindheit betrieben hatte, die träumerische Hingabe an den Sport und die erfüllende Beschäftigung mit dem Geschehen. Ich achtete nicht mehr auf meine Umgebung. Ich reflektierte nicht, setzte keine Prioritäten und erledigte nur mehr meinen Alltag. Ich gönnte es mir nicht, die vielen neuen Erfahrungen, die auf mich hereinprasselten, setzen zu lassen. Ich erlebte sie und schob sie gleich wieder zur Seite. Zu schnell kam der nächste Reiz und wartete auf Erledigung. Die Geschwindigkeit meines Alltags überholte mich. Zu dieser beruflichen, körperlichen und psychischen Dauerbelastung kam dann auch noch ein gesundheitlicher Keulenschlag dazu.

Zwölf Jahre nach seinem unerklärlichen Auftauchen war der Krebs wieder da.

Am 26. Jänner 2006 wurde ich erneut an der Zunge operiert. In den vergangenen Monaten war das Plattenepithel am Mundboden zu einem weiteren Tumor angewachsen. Große Teile meines linken Mundbodens und der linken Zungenseite mussten entfernt werden.

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