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Tanzen

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Do you remember, when we were kings,

Float like a butterfly, sting like a bee.

Brian McKnight, Diana King, When We Were Kings

In der Leidenschaft der Bewegung voll und ganz aufzugehen, tief in die Selbstverständlichkeit des Handelns einzutauchen und dabei die Leichtigkeit zu leben, alles rundherum auszublenden, den Moment zu genießen – ein gutes Gefühl.

Früh begann ich, diesem Drang nachzugeben. Als eines von drei Kindern, meine Schwester Monika war die Älteste, mein Bruder Philipp der Jüngste, faszinierte mich immer schon das Außergewöhnliche. Das fand ich rasch im Sport. Fußball, Tennis, Turnen, Tischtennis, Handball, zunehmend auch Ausdauersportarten wie Laufen und Schwimmen – ich wollte alles ausprobieren. Ich liebte das Gefühl der Schwerelosigkeit während einer Bewegung, ich tanzte wie von meinem Innersten gesteuert in dem Rhythmus einer Bewegung und genoss dabei das Ergebnis, das ich selbst produzieren konnte. Es passierte einfach, es fühlte sich in dem Moment nach meiner Bestimmung an, ich war ich, und das zu 100 Prozent. Bewegungen zu durchleben, Bewegungen zu beobachten, faszinierte mich.

Ich fühlte mich wie ein König in seinem Reich.

Als Kind konnte ich meine Leidenschaft nur selten mit meiner Familie teilen. Mein Bruder Philipp schielte, sein linkes Auge war oft zugeklebt, bevor er im Alter von wenigen Jahren eine dicke Brille bekam. Sport war für ihn eine echte Herausforderung, er konnte nicht Ball spielen, da er schlicht nicht sah, wann der Ball zu fangen war, ihm fehlte das dreidimensionale Sehen. Philipp faszinierte alles Handwerkliche, er liebte seine Modelleisenbahn und war unser Bob, der Baumeister. Auch wenn ich als kleines Kind immer meiner Schwester nacheiferte, so blieb ich mit meiner Sportfaszination rasch allein in meiner Familie. Meine Mutter lehnte jede Form von Leistungssport ab, verstand auch meine Begeisterung nicht. Nur mein Vater, ein erfolgreicher Handballer, später auch Trainer, nahm mich immer wieder zu seinen Handballspielen mit. Ich liebte es, am Spielfeldrand zu sitzen, das teils aggressive Treiben des Spiels zu beobachten, die Stärken und Schwächen einer Mannschaft zu entdecken. Am meisten jedoch inspirierte mich das Talent mancher Spieler, die Begabung, die sie von anderen unterschied. Unorthodoxe – jedoch erfolgreiche – Wurfmanöver, die über Sieg und Niederlage entschieden, fingen meinen Blick. Sofort erkannte ich die Leitfiguren eines Spiels, war begeistert von ihrem Auftreten und ihrer Präsenz. Ich träumte in jungen Jahren selbst davon, mitzuspielen, die Leidenschaft, mit der sich die Sportler engagierten, faszinierte mich. Doch ich sprach nicht über meine Begeisterung, auch nicht mit meinem Vater, der die Welt des Sports ebenso sehr liebte wie ich. Als Geschäftsführer und Eigentümer unserer Rupertus Buchhandlung hatte er wenig Zeit, war zudem ein introvertierter Mensch – auch das ein Grund, warum wir der gemeinsamen Faszination für Sport wenig nachgingen.

Also beobachtete ich allein.

Beobachten bedurfte der Ruhe und Zeit. Ich konzentrierte mich mit all meinen Sinnen auf ein Geschehen, versank darin und nahm nichts um mich herum wahr. Ich liebte den Zustand der Beobachtung, er stellte für mich den Beginn eines spannenden Lernprozesses dar, den Start in eine Reise, die ich am Ende des Weges immer selbst durchlebte. Nahm mich mein Vater nicht zum Handball mit, verfolgte ich an einem Sonntagnachmittag ein Fußballspiel der lokalen Mannschaften in unserem Stadtteil Nonntal. Das Ergebnis war sekundär, die Namen der Teams ebenso, ich war kein Fan einer Mannschaft, ich war Fan des Spiels. Der Spielverlauf, die Kommunikation, die taktische Umsetzung faszinierten mich mehr als das Warten auf Tore, die Zeit verflog während meiner Beobachtung wie von selbst. Wieder zu Hause, konnte ich das Spiel detailgetreu nacherzählen, Gesichter, Spielzüge und natürlich auch das finale Ergebnis blieben mir lange im Gedächtnis.

Als junger Mensch wollte ich alle Beobachtungen nachmachen, selbst ausprobieren. Ich wollte alles wissen, selbst Bewegungen spüren, erst dann war ich mir sicher, ob und wie eine Bewegung funktioniert, wie ein Erlebnis sich anfühlt oder wie meine Reaktion auf diese bestimmte Situation war. Ich lernte wesentlich mehr aus der Beobachtung menschlichen Verhaltens und der körperlichen Fähigkeiten der Spieler als über die singuläre Anweisung eines außenstehenden Trainers, Lehrers oder Übungsleiters. Immer wollte ich wissen, welche Wege ich zur Perfektion eines Freistoßes aus 20 Metern oder zur präzisen Durchführung eines Asses beim Tennisaufschlag gehen musste, um danach schelmisch und stolz mein Können meinem Gegenüber zu demonstrieren. Die Tricks der besten Tennisspieler, die sie ohne sichtbare Anstrengung in extremer Bedrängnis auf dem Tennisplatz vollführten, veranlassten mich dazu, den Tennisball stundenlang gegen eine Hausmauer zu spielen, in der Hoffnung, einen ähnlichen Schlag ausführen zu können wie meine Vorbilder.

Unmittelbar neben dem Eingang zu unserem Wohnblock, auf der Wiese davor, stand eine Klopfstange, zwei Meter hoch, drei Meter breit. Auf dem Absatz der Haustür, der durch drei Stufen leicht erhöht eine ideale Abschussposition bot, versuchte ich 100-fach Freistöße in das zehn Meter entfernte Klopfstangen-Tor zu schießen. Im Idealfall traf ich unter die linke obere Stange oder in die Kreuzecke. Der normale Schuss ins Tor ärgerte mich, es musste ein außergewöhnlicher Freistoß sein, erst dieser stellte mich zufrieden. Während des Spiels war ich völlig zeitbefreit, ich ging in meinem eigenen Wettkampf auf. So war ich in ein und derselben Person Mannschaft A und Mannschaft B oder spielte Tennis gegen mich selbst. Ich schoss Freistöße, einmal als FC Bayern München, das nächste Mal als SK Rapid Wien. Ich wollte mich fühlen wie Ivan Lendl, John McEnroe, Diego Maradona oder Antonín Panenka. Das schaffte ich nur, wenn ich den Ball annähernd auch in derselben Eleganz wie meine Idole ins Tor zwirbelte oder den Tennisaufschlag gegen die Hauswand mit derselben Raffinesse wie bei großen Tennisstars aussehen lassen konnte.

Probiere alles aus.

Wenn es nach dem zehnten Mal nicht funktioniert, dann vielleicht beim hundertsten Mal.

Auf diese Weise verbrachte ich fast alle Abende unter der Woche und die Nachmittage an den Wochenenden, ich liebte es, spielerisch vor mich hin zu träumen und lebte in meiner eigenen Welt.

Warum ich beim Schwimmsport hängen geblieben bin, kann ich nicht sagen. Wahrscheinlich wegen Herwig. Im Alter von zehn Jahren turnte ich zweimal wöchentlich in der Sportunion – mit mäßigem Erfolg. Dazu schwamm ich jeden Donnerstag bei der Schwimm Union Salzburg, und dort ich traf zum ersten Mal auf einen Menschen mit derselben spielerischen Leidenschaft. Herwig war ein Jahr jünger, kräftiger gebaut als ich, etwas kleiner, extrovertierter. Er war ebenso ehrgeizig, jedoch anders als ich oft auch jähzornig. Sein rundes Gesicht, sein hellblondes, kurzgeschorenes Haar und seine Liebe zum Spiel eroberten sofort mein Herz. Er wurde mein Freund. Mit ihm teilte ich rasch die Leidenschaft für alle möglichen Sportarten. Wir liebten es, uns in Wettkämpfen zu vergleichen, das verband uns nicht nur beim wöchentlichen Schwimmtraining, sondern auch an den schul- und trainingsfreien Tagen. An den Wochenenden trafen wir uns im Donnenbergpark und spielten Fußball. Wir versuchten, außergewöhnliche Tore zu schießen, Jubelposen einzuüben, Tricks zu perfektionieren und – wenn es möglich war – auch mit einer Gruppe fremder Fußballspieler ein Match zu spielen.

Eines Tages bot mir meine damalige Schwimmtrainerin an, ein zweites wöchentliches Training zu belegen, sie meinte, ich hätte Talent und würde gut in die nächsthöhere Trainingsgruppe passen. Das zweite Training fand jedoch am selben Nachmittag wie mein Turntraining statt, also musste ich mich entscheiden. Das Lob der Schwimmtrainerin und die Aussicht, mehr Zeit mit Herwig zu verbringen, erleichterten mir die Entscheidung. Aus anfänglich zweimal Schwimmen pro Woche wurde rasch eine tägliche Selbstverpflichtung. Nun war jeder Nachmittag ab 16 Uhr fürs Schwimmen reserviert. Um das Training regelmäßig absolvieren zu können, zwang ich mich, die Schule zur Zufriedenheit meiner Eltern zu erledigen; ich besuchte das Akademische Gymnasium am Rainberg. Meine Klassenkollegen nahmen mich kaum wahr, oft stand ich außerhalb der Klassengemeinschaft, gegenüber den Lehrern verhielt ich mich zurückhaltend. Ich war für sie nur anwesend, mehr nicht – das reichte, um Durchschnitt zu sein. Im Sportunterricht genoss ich Ansehen, mein vielseitiges Können, meine spürbare Leidenschaft für das Spiel und den Wettkampf sorgten für den nötigen Respekt meiner Altersgenossen.

Schon nach kurzer Zeit wollte ich noch mehr Sport machen, ein tägliches Training schien mir mit 15 Jahren zu wenig. Der Wechsel vom Akademischen Gymnasium in das Schulsportmodell Salzburg, das den Schülern ab der neunten Schulstufe zusätzlich Trainingseinheiten an zwei Vormittagen erlaubte, war mein Wunsch. Meine Eltern waren jedoch dagegen. Auch Herwig wechselte nicht in das Sportmodell, er besuchte ein normales Gymnasium, und irgendwann erlaubte der Schulalltag ihm kein tägliches Training mehr. Er beendete seine aktive Schwimmkarriere noch während seiner Schulzeit. Wir sahen uns nun unter der Woche kaum mehr, auf einmal fehlte mir ein Stück meiner Leidenschaft. Irgendetwas an der Leichtigkeit war verloren gegangen, das Training wurde mehr und mehr zu einer Aufgabe, die es bestmöglich zu erledigen galt. Ich konzentrierte mich auf die punktgenaue Umsetzung meines Trainingsplans, auf das Ergebnis meiner Trainingsaufgaben, versteifte mich auf geschwommene Zeiten, ich wollte schneller werden. Das unbeschwerte Spiel, das Herwig und ich in jeder Lebenssituation intuitiv gemeinsam zelebriert hatten, wich mehr und mehr aus meinem Alltag.

Nun konnte ich nicht mehr tanzen, ich begann zu leisten.

Ich verlor Herwig Schritt für Schritt aus meinem Alltag, dennoch trafen wir uns immer noch an den Wochenenden. Unsere Freundschaft blieb besonders für mich bestehen, auch abseits des Sports. Herwig stand immer an meiner Seite, ein gutes Gefühl.

Ein gleichaltriger Schwimmerkollege wechselte hingegen in die Schule mit dem Sportschwerpunkt und erkämpfte sich dadurch einen Trainingsvorsprung. Fehlende Trainingshäufigkeit versuchte ich nun durch verbesserte Qualität wettzumachen. Ich wollte immer das Maximum aus jedem einzelnen Training herausholen. Ich konnte regional den Anschluss halten, die Ergebnisse spiegelten mein Talent und meinen Einsatz wider, die geschwommenen Zeiten ebenso. Unabhängig von der sportlichen Weiterentwicklung fühlte ich mich in meinem Sport geborgen, er schenkte mir Selbstvertrauen, gab mir Halt und eröffnete mir die Möglichkeit, Erfolg und Anerkennung zu erlangen. In mir entwickelte sich der Gedanke, dass Sport auch meine Profession werden sollte, ich fühlte mich magisch angezogen von der Faszination des Wettkampfes, der Bühne, die der Sport den Sportlern schenkte, und der Geborgenheit, die mir mein Trainingsumfeld gab.

Ich hatte meinen Platz gefunden.

Nach der Matura – ich war zwar ein begabter, aber noch wenig erfolgreicher Schwimmer – setzte ich alles daran, nun endlich meine Grenzen auszuloten. Erst danach, so dachte ich, könnte ich wissen, ob ich genügend Kraft, Willen und vor allem Belastbarkeit hätte, um ein Spitzenschwimmer zu werden. Ich war gewillt, ein ganzes Jahr lang alles andere dem Leistungsschwimmen unterzuordnen. Aus diesem Grund zog ich nach Wien und begann umgehend, mein Trainingspensum zu verdoppeln.

Alles oder nichts.

Jetzt wollte ich es wissen.

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