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Kapitel Eins Bruderfeuer
ОглавлениеFinn ritt auf seinem Schlachtross hinter der Kutsche von Exarch Gamrion her. Sein Hintern fühlte sich wie Brei an. So hatte er sich die Arbeit eines Kampfpriesters nicht vorgestellt. Bei der Initiation im Tempel war er durch die Flammen des Heiligen Durhelian geschritten und durfte seitdem im Dienste seines Glaubens wirken. Hätte er damals geahnt, dass unzählige Eskorten auf ihn warteten, hätte er nicht auf den Vorzug seiner Weihe gedrängt. Es war bereits die vierte Eskorte ohne Ereignisse und es wurde nicht besser. Er blickte hoch zum Himmel, der sein Trübsal verdichtete. Die Wolkendecke mäanderte in kieselgrau und ließ sich von der Herbstbrise treiben. Schwarzbirkenzweige am Wegesrand wippten und klagten über das Dunkel des Tages. Seit einer Woche war Licht Mangelware. Und das eklige Essen machte es nicht besser. Drei Tage hintereinander gab es Hannok, einen Resteeintopf von der Beschaffenheit eines Schuhsohlenpürees.
Finn strich sich das silbrige Haar nach hinten und prüfte den Sitz seiner Lahras. Das traditionelle Kurzschwert der Kampfpriester, das sich zum Speer ausfahren ließ, ruhte an seiner Hüfte. Zusammen mit dem Plattenharnisch, den Armschienen und dem Indigoumhang fühlte Finn sich ganz von der Tristesse seiner Aufgabe verschluckt. Mit Eskorten ließ sich kein Ruhm erlangen.
»He, Finn«, meldete sich Bruder Eferus. Er hatte zu ihm aufgeschlossen und drosselte den Galopp seines Gauls zum Trab. »Wollen wir heute wieder mit der Ehrengarde des Exarchen Zwölf und Eins spielen? Letzte Nacht waren mir die Karten gewogen.«
Finn sah ihn missmutig an. »Beim Heiligen, ich bin blank! Du hast gut reden, deine Börse ist dicker als dein Ego. Ich weiß, dass du betrügst, aber leider nicht, wie du es anstellst.«
»Ich? Nein, ich bin ein Kampfpriester. Betrug ist mir fremd. Ich übe mich in innerer Betrachtung«, ereiferte Bruder Eferus sich und ahmte mit hochgezogenen Brauen Großmeister Raukhar nach. Dabei versuchte er sich in einer Unschuldsmiene – ohne Erfolg. Mit den hohen Wangenknochen und der Falkennase ähnelte sein Gesicht einer Hohnmaske. Die Narbe von der linken Schläfe bis zum Kinn tat ihr Übriges.
»Du bist mir so teuer wie ein Bruder. Ein Bruder, dem die Unschuld so gutsteht wie einem Huhn ein Sattel«, bemerkte Finn.
»Ich weiß, die Eskorten zermürben. Obwohl ich nächsten Sommer dreißig werde, habe ich die Mühsal nicht vergessen. Auch ich musste Viehsegnungen, das Einsammeln von Lebensmittelspenden, Pilgerfahrten und Botengänge über mich ergehen lassen. Danach begannen die Eskorten. In fünf Jahren bist du auch dreißig Sommer alt, dann wirst du merken, dass man dem Ganzen auch etwas Gutes abgewinnen kann. Plane deinen Genuss. Er wird dir nicht auf einem Goldtablett serviert. Manche unserer Brüder vertiefen sich in Gebete, andere meistern sich in der Waffen- und Gesellschaftspflege. Oder folge meinem Beispiel, rede mit den Gardisten und Händlern, lausche ihren Geschichten, von denen eine obskurer ist als die andere. Gestern hat mir ein Leibgardist des Exarchen erzählt, dass Frauen aus dem Norden von Tilayndor alabasterweiße Haut haben. Das ist, als würdest du es mit einer Statue treiben.«
»Kampfpriester dürfen keine Frauen haben.«
»Wenn wir in Wranis sind, zeige ich dir die Mutter aller Dämmerhöhlen. Die haben Frischware, die dir bestimmt gefallen wird.«
»Hörst du mir überhaupt zu?!«
»Ich höre deine Worte, aber fehlen dir denn nicht die Vorzüge aus der Novizenzeit? Frauen, Pfeifen voll Dämmerkraut, Schwarzbier, all die Dinge, denen du durch dein Gelübde abgesagt hast.«
»Ich … ja, kann sein.«
»Also, überlass dem Heiligen das Heiligsein, gönn dir was. Deine Menschlichkeit macht dich aus, nicht die Litanei von Großmeister Raukhar.«
»Hm, dass … « Finn wollte zu einer Erwiderung ansetzen, doch Bruder Eferus brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.
»Riechst du das?«, fragte Eferus und schnüffelte. »Schwefel. Bleib wachsam, Bruder. Ich werde die Leibgarde des Exarchen warnen.« Eferus gab seinem Gaul die Sporen und schloss zu den anderen auf.
Finn blickte sich um. Was hatte seinen Bruder alarmiert? Schwefel? War das nicht ein Zeichen für … Finn kam mit seinen Überlegungen nicht weit. Krummlinge preschten aus dem Waldrand und griffen die Eskorte an. Mit ihren dämonischen Körpern, aus sich ständig verdrehenden Ästen und Zweigen, stellten sie die Parodie des Menschen dar. Mit jedem Schritt knackten und knisterten ihre Körper, als schleife man einen Baumstamm durch den Wald.
Eines der Pferde verlor aus Angst die Disziplin, bäumte sich auf und warf seinen Reiter ab.
»Schützt den Exarchen!«, brüllte Jar Delinweyn, der Hauptmann der Leibgarde.
Schwertstahl blitzte und Heiliges Feuer von Eferus Lahras flammte auf.
Finn hämmerte das Herz bis zum Hals und in seinen Ohren rauschte das Blut. Endlich ergab sich eine Gelegenheit, sich zu beweisen. Er zog seine Lahras und ein Druck auf den kleinen Hebel an der Parierstange ließ den Griff zum Schaft herausschnappen.
»Die Dunkelheit naht, o Herr, verleihe mir das Licht, um gegen sie zu bestehen«, betete Finn. Einen Lidschlag später erstrahlte die Klinge seiner Lahras im Indigofeuer des Heiligen Durhelian. Ohne zu zögern, stieß Finn seinem Pferd die Fersen in die Flanke und preschte in den Waldrand hinein. Brombeerdornen und Eschenzweige griffen nach seinem Umhang und seinen Haaren. Er scherte nach links aus und griff die Krummlinge von hinten an.
Einer der Gegner wandte sich ihm zu. Wo das Gesicht sein sollte, sprossen Hörner, Baumpilze und Moose.
Finn stach zu. Flammen fraßen sich durch den Krummling und verzehrten die dämonische Existenz. Noch bevor der Krummling zu Asche zerfallen war, riss Finn an den Zügeln und schlug einen Angreifer mit der Hüfte seines Reittiers zur Seite. Die magische Gegenwart der Kreaturen zog und zerrte an Finns Mut, um ihn zur Panik und Flucht zu bewegen. Doch er hielt stand und kämpfte weiter.
Unter seinem Pferd knirschte es, als die Hufe auf die Brust eines Gefallenen drückten. Die Rüstung war so zerkratzt wie das Gesicht, das in Fetzen vom Schädel hing.
Finn unterdrückte einen Würgereiz. Eine Kralle grapschte nach seinen Stulpenstiefeln und versuchte, ihn vom Pferd zu zerren. Mit einem Daumendruck ließ Finn seine Waffe auf Kurzschwertgröße einschnappen und schlug dem Krummling auf den Schädel, dann blickte er nach vorn.
Bruder Eferus behauptete sich neben zwei berittenen Leibgardisten gegen die Angreifer. Sie standen abseits der Kutsche des Exarchen, an dessen Tür sich ein Krummling zu schaffen machten.
Finn trieb sein Reittier an, erreichte ihn und stieß dem Dämon die Lahras in den Nacken. Dann wendete er und wollte Bruder Eferus unterstützen, doch im Bruchteil einer Sekunde vergingen die Angreifer in einem Schwall aus Rauch und Asche.
»Bei den Verfluchten Sieben, was … «, stammelte Finn.
Jar Delinweyn sprang vom Pferd und beugte sich über einen Verwundeten.
»Gut gekämpft! Du siehst ein bisschen blass aus. Hat Waffenmeister Senash dir nichts über die Taktik der Krummlinge vermittelt?«, schnaufte Bruder Eferus.
Finn wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er sah Jar Delinweyn nach, der in die Kutsche stieg. Seine Männer zogen ihre Kampfgefährten von der Straße.
»Nein, nicht so ganz.«
»Sie machen am Anfang Druck, wenn sich das Blatt wendet, verpufft ihr Angriff im Nichts. Seien es die Krummlinge, Urhana, Skarsdämonen, Flüsterlinge oder andere Unnaturen. Senash hat mich gelehrt, dass es die Kultisten sind, die sie beschwören und gegen uns hetzen.«
»Ich habe keinen von denen gesehen.«
»Ist auch besser so. Kultisten sind Besessene, Getriebene, die keinen Schmerz kennen und im Namen der Dämonengötter das Antlitz der Jorvenlande besudeln. Hast du in Dämonologie nicht aufgepasst?«
»Ich … ich habe mich auf die Kampfkunst fixiert«, gestand Finn.
»Mach dir keine Sorgen. Solange du kämpfen kannst, kannst du auch überleben. Wissen lässt dir keine Körperteile nachwachsen. Wissen bringt dein Herz nicht wieder zum Schlagen.«
Jar Delinweyn stieg aus der Kutsche, nahm seinen Helm vom Kopf und richtete sich den blonden Pferdeschwanz. In seinem Bart trug er Zöpfe, die ihn als Sieger vieler Zweikämpfe auswiesen. »Wir reiten weiter bis zur Dämmerung. Dann dürften wir auf eine Zollstation treffen, wo wir übernachten werden. Er räusperte sich und spuckte Blut, bevor er weitersprach. »Ich habe noch nie Kampfpriester in der Schlacht erlebt. Ihr habt meinen Respekt. Der Exarch lässt Euch seinen Dank ausrichten und bittet Euch, heute Abend mit ihm zu speisen.«
»Wir nehmen die Einladung gern an, Jar Delinweyn«, antwortete Eferus.
»Was ist mit den Gefallenen?«, wollte Finn wissen.
»Die erhalten ein Kriegerbegräbnis, gleich hier, wo sie tapfer gekämpft haben und gefallen sind.«
Das Feuer des Kamins wärmte den Besprechungsraum der Stadtgarde, dessen gemauerte Wände mit überkreuzten Speeren, Schilden und Hasenfallen geschmückt waren.
Zwei Stadtgardisten eilten durch die Tür und trugen das Essen auf.
Finn schob ein Stück Fasanenbrust zwischen zwei Scheiben Schwarzbrot und liebäugelte mit dem Würzwein. Aber stattdessen entschied er sich für einen Becher Wasser und trat an den Kartentisch, an dem sich Bruder Eferus, Jar Delinweyn und der Exarch unterhielten.
In seiner amethystfarbenen Magierrobe überstrahlte Gamrion die Umstehenden. Goldranken wuchsen auf dem Stoff, vom Saum über den Fußknöcheln bis zu den Goldaufschlägen an Hals und Ärmeln. Er nahm kurz sein Barrett ab, fasste seinen Haarschopf zusammen und setzte sich die Kopfbedeckung wieder auf.
»Ich möchte keinen weiteren Überfall riskieren, wählt eine andere Route«, forderte der Exarch im Dialekt der Wranier. Sie hatten eine eigene Form Jorvisch zu sprechen, in der sie Sätzen einen Hauch von Melodie einflößten, als wollten sie einen Singvogel locken. Dazu unterstrichen seine Mandelaugen, die Klarheit und Weisheit vermittelten, seine wranische Herkunft.
»Mein Exarch mit Verlaub, das war kein Überfall. Dämonen attackieren keine Kutschen in Begleitung zweier Kampfpriester und einer Leibgarde, die das Zinnoberrot der Königstruppen trägt. In Tilayndor nennen wir so etwas einen Hinterhalt. Ich rate Euch, Eure Erkundungsreise abzubrechen.« Nach seiner Ausführung stürzte Jar Delinweyn seinen Würzwein in einem Zug hinunter und wischte sich den Vollbart mit dem Ärmel trocken.
»Dann sollten wir zurück und dieses Ereignis mit Regent Escheran in Wranis besprechen. Welchen Weg würdet Ihr mir raten, damit wir nicht riskieren, wieder in einen Hinterhalt zu geraten?«
»Ich würde Euch die Weiterreise über den Seeweg empfehlen. Bis nach Rugand haben wir noch eine halbe Tagesreise, von dort aus könnten wir auf ein Schiff übersetzen, das uns nach Wranis bringt.« Jar fuhr mit einem Finger nach Süden an der Küstenlinie entlang und tippte auf eine orangefarbene Krone, die um eine Dattelpalme prangte.
Bruder Eferus spülte einen Kanten Schwarzbrot mit Wasser herunter. »Mit Eurer Erlaubnis werden Bruder Finn und ich unseren Großmeister in Helinas über den Dämonenangriff in Kenntnis setzen. Vielleicht sind noch andere Reisende Opfer solcher Angriffe geworden.«
»Ebensolche Berichte sind der Anlass meiner Reise. Da die Königstruppen im Norden mit den marodierenden Barbarenstämmen beschäftigt sind, hat der König Söldnern den Schutz im Inneren der Jorvenlande übertragen. Allerdings gibt es seit einem Jahr vermehrt Beschwerden, dass die Mietklingen nicht nur wenig taugen, sondern auch selbst zu einer Gefahr werden. Regent Escheran aus Wranis erwartet von mir einen Bericht, den er dem König vortragen möchte. Ich dachte nicht, dass es so schlimm ist, dass sogar eskortierte Reisende angegriffen werden, daher brauche ich Euch an meiner Seite, Bruder Eferus. Wir wissen nicht, was uns auf dem Weg nach Wranis erwartet. Dennoch muss Euer Ordensführer von den Geschehnissen erfahren. Bruder Finn, bestellt Großmeister Raukhar meine Grüße.«
Finn nahm die Schriftrolle entgegen und sah zum Exarchen auf, der sogar Eferus überragte. »Ich werde Eure Botschaft überbringen.« Sein Kopf nickte, aber sein Herz trauerte um die Gelegenheit, seinen Mut an der Seite seines Ordensbruders beweisen zu dürfen. Andererseits war er froh, dass er nicht mit nach Rugand musste, wo er die schlechten Tage seiner Kindheit durchlebt hatte. Er richtete die Gürtelschnalle aus punziertem Messing an seiner Hose und verließ den Raum.
.
Wolkenrudel marmorierten den Himmel und ließen das Orange der Abenddämmerung durch ihre Lücken blitzen. Eine Herbstbrise wirbelte Finns Umhang umher und ließ ihn vor seinem Sichtfeld flattern.
Er hatte die Handelsstraße nach Helinas erreicht und trabte hinter einem Planwagen her, der sich durch die Furchen arbeitete, die unzählige Handelskarawanen in den Boden gepflügt hatten.
Finn hoffte, dass er beim Vorbeireiten nicht angesprochen und um einen Segen gebeten wurde, denn darauf hatte er mittlerweile noch weniger Lust als auf Eskorten.
Während er den Wagen einholte, scherte vor dem Klappergespann ein gepanzerter Reiter in Zinnoberrot aus. Dieser ließ sein Pferd neben den Wagen zurückfallen und ordnete die graumelierten Haare auf seinem Wuschelkopf. Seine Rüstung zierten unzählige Flickstellen. Ohne Zweifel ein Schlachtenveteran.
Finn sah sich um. Seltsam. War er ohne Geleit? Hatte er eine Mission? Oder wollte ihn sein Herr loswerden?
»Gehabt Euch wohl, edler Herr«, grüßte Finn.
Der Mann drehte sich im Sattel um. Er hatte die Ruhe weg. »Mit wem habe ich das zweifelhafte Vergnügen?«
»Ich bin Finn und wer seid Ihr, wenn ich fragen darf?«
»Jar Istram von Echterdingen. Und was führt Euch hierher?«
Er trug den Ehrentitel Jar, den nur die Helden des Königs im Stahlkreis erhielten. Dieser Mann war kein Niemand, auch dann nicht, wenn er sich selbst zerstörte. Sein Atem verpestete die Luft und peinigte Finns Nase. Die Fahne, die Jar von Saufingen vor sich hertrug, war nicht die seines Hauses. Es war nicht zu leugnen, dass dieser Mann seinen Absturz hinter sich hatte.
»Ich möchte nach Helinas«, antwortete Finn.
»Ah, zum Lichtfest, was?«
»Auch«, antwortete Finn einsilbig, da er das Interesse an dem gefallenen Jar verloren hatte. Zumindest gehörte dieser Mann nicht zum Heer der Scheinheiligen, die sich an Segenssprüchen ereiferten.
Jar Istram musterte ihn. Obwohl er sich mehr am Sattel festhielt und weniger darauf saß, zeugte der Glanz seiner Augen von Intelligenz. Er lächelte. »Sagt mal, Ihr kennt Euch nicht zufällig mit Frauen aus?«
»In der Regel haben sie zwei Brüste und parfümieren sich die Haare.«
Jar Istram schmunzelte. »Vinosch, halt mal kurz an, zeig unserem Gast das Biest.«
Mit einem Ruck kam die Kutsche zum Stehen. Ein untersetzter Junge in beigefarbenem Mantel sprang vom Bock. Auf seinem Ärmel glänzte Rotz, der zu seiner efeugrünen Leinenhose passte. Er zog die Nase hoch.
»Mein Herr, sie beißt«, jammerte er.
»Du verdammter Bastard, tu, was ich dir sage! Wie soll je ein Jar aus dir werden? Du taugst ja nicht annähernd zum Anwärter! Nur weil deine willige Mutter nicht zur Engelmacherin gehen wollte.«
Während der Jar seine Tirade weiter auswalzte, Hunde und Ziegen mit einbaute, zog der Anwärter den Kopf ein und band die Plane vom Wagen los. Als er sie nach oben aufrollte, kam ein Käfig zum Vorschein.
In der Ecke kauerte ein Bündel Elend. Sie hatte ihr Gesicht zwischen den Knien vergraben und trug eine Frisur, die selbst einen Wischmopp wie die neueste Mode am Hof von Tilayndor wirken ließe.
»Das ist eine Ausgekochte! Hat gestern Vinosch in den Fluss gestoßen, weil wir sie waschen wollten. Der Junge hat jetzt die Rotzseuche. In seinem Hohlschädel is’n Haufen voll Schleim. Nicht dass ihn das dümmer macht, aber sein Geschniefe nervt!« Jar Istram holte eine Flasche Wein aus der Satteltasche, zog den Korken mit den Zähnen heraus und genehmigte sich einen Schluck.
»Seid Ihr sicher, dass es eine Frau ist?« Finn hatte seine Zweifel, was er da sah, wirkte nicht menschlich.
»Beißt und beschwert sich so wie die Mutter von Vinosch, also ja.«
»Was ist ihr Vergehen?«
»Außer, dass sie’n Miststück is? Hat die Diebesgilde beschissen, wollte nichts abdrücken. Angeblich hat sie bei ihrer Festnahme einem Typen den Finger abgebissen. Sie könnte eine Hexe sein oder ein Wechselbalg.«
Finn wollte der Märchenstunde keinen Glauben schenken. Eine Hexe würde sich nicht mit einem Finger zufriedengeben, um dann in einem Käfig zu landen.
Ohne Vorwarnung warf Jar Istram seine Flasche gegen die Gitter. Ein Regen aus Wein und Scherben ergoss sich über die Frau, die keinerlei Reaktion zeigte.
»Wo bleibt Eure Ehre, die ein Jar besitzen sollte?«, warf Finn ihm mit geballten Fäusten vor.
Jar Istrams Gesicht verzerrte sich zu einer Fratze. »Wer seid Ihr, dass Ihr mich über die Tugenden eines Jars belehren wollt? Der Stahlkreis machte mich zu dem, was ich bin. Kümmert Euch lieber um das Lichtfest!« Seine Hand wanderte an den Griff eines Schwertes, das an seiner Seite hing.
Finn richtete auffällig seinen Indigoumhang und hoffte, dass der alte Jar erkennen würde, wen er hier vor sich hatte.
Noch ein paar Sekunden behielt ihn der Jar im Auge, dann ließ er vom Schwert ab. »Macht, was Ihr wollt, Kampfpriester. Wenn Ihr sie anfasst, dann will ich dafür eine Jorvenkrone sehen. Es wird langsam dunkel, wir machen hier Halt. Ihr dürft an unserem Feuer sitzen, jede weitere Klinge ist in dieser Gegend willkommen. Die Reisewege sind nicht mehr so sicher, seit sich die Königstruppen in den Norden verzogen haben. Dämonen und durhelianische Geistliche treiben ihr Unwesen«, frotzelte Jar Istram, sattelte ab und band seinen Gaul am Wagen fest.
Sein Sohn sprang zurück auf den Bock und klaubte unter dem Kutschbock Steppdecken mit Rosenmotiv und Kissen aus Schafwolle hervor.
Finn überlegte nicht lange. Graf von Rotz, Herr von Saufingen – keine Segenswünsche, kein Geschleime. Solch gute Gesellschaft hatte Seltenheitswert.
Ein Frösteln riss Finn aus dem Schlaf. Trunken vom Schlummer griff er nach seiner Lahras, die sogar im Bett nur eine Armlänge von ihm entfernt lag. Nachtfrost hatte seine Steppdecke mit einer weißen Patina behaucht, da das Feuer bis auf die Glut heruntergebrannt war.
Graf von Rotz taumelte im Zwielicht der Glut durch das Lager. Finn rieb sich den Schlaf aus den Augen und blickte auf den nackten Hintern von Jar Istram, der sich sehr zum Unmut der Frau an der Käfigtür zu schaffen machte. Als er die Gittertür aufschlug, schrie sie auf und kauerte sich in einer Ecke zusammen.
Finn wusste nicht, ob der Mann eine oder zehn Flaschen gesoffen hatte, aber das ging entschieden zu weit. Er wickelte sich aus seiner Steppdecke und trat auf den Käfig zu, gewillt, die Sache zu beenden.
Graf von Rotz war am Lagerfeuer erstarrt und machte keine Anstalten, etwas zu unternehmen. Vermutlich, weil er zwischen der Not der Frau und dem nahenden Unheil für seinen Vater zerrissen war.
Finn zog seine Lahras.
Jar Istram bemerkte davon nichts oder wollte es nicht. Er zerrte an der Bekleidung seines Opfers und riss ihr das Wenige, das sie trug, in Fetzen. Mit einem beherzten Biss in seinen Arm entwand sie sich seinem Griff und stürzte dabei auf den Rücken. Bevor er sich aber über sie beugen konnte, trat sie ihm in die Nüsse, was ihm ein Grunzen entrang. Kurz danach schnappte sie nach seinem Schwert, zog es aus der Scheide und stieß es ihm in den Hals.
»Du verdammtes Stück … «, krächzte der Jar, griff sich an den Hals und ging zu Boden. Er konnte weder das Blut halten, das sein Leben davontrug, noch seine Würde, die mit seiner Hose gefallen war.
»Oh nein, oh nein, nein«, jammerte sein Sohn.
Finn blieb am Käfig stehen und betrachtete die Szene. Der Jar starb vor seinen Augen. Er tat ihm nicht leid, im Gegenteil. Aber der Säufer war kein Niemand. Der Mord an ihm war ein Verbrechen gegen die Gesetze des Königs der Jorvenlande. Kampfpriester durften in solch einem Fall ohne Anklage vollstrecken. Er richtete seinen Blick auf die Frau, auf deren Leib das Blut von Jar Istram in der Kälte dampfte. Die Kleidung hing ihr in Fetzen vom Körper. Mit Augen, in der Farbe von flüssigem Ocker, starrte sie ihm hasserfüllt entgegen. Ein Leben für ein Leben, das war Gerechtigkeit.
Finn drehte ihr den Rücken zu. »Nimm dir Kleidung und Proviant vom Wagen. Ich denke, dass Jar Istram es nicht mehr benötigen wird. Was mich angeht, ich war nie hier.« Dem Ganzen fügte er noch ein Schulterzucken hinzu.
Graf von Rotz starrte ihn an.
»Hast du etwas gesehen, Kleiner?«
»Ich … nein, ich habe nichts gesehen. Der Alte ist vom Pferd gestürzt und wurde von Wölfen gefressen – von Riesenwölfen!«
Finn war zufrieden, denn der Junge schien genug Verstand zu haben, um das Greisenalter erreichen und trunken vom Leben in der eigenen Pisse im Bett sterben zu können.
Ein metallisches Quietschen verriet Finn, dass die Gefangene den Käfig verlassen hatte. Sie sollte eine zweite Chance erhalten, da sie schließlich dafür gekämpft hatte. Hoffentlich erwartete sie ein anderes Schicksal, als die Gespielin eines Trunkenbolds zu werden.
Schwärenden Eitersäcken gleich krochen graue Regenwolken über den Himmel und zogen über den Berg Sackling, an dessen Fuß sich die Stadt Helinas mit ihren gedrungenen Häusern schmiegte.
Die Bauern mühten sich, ihre Tiere und Gerätschaften von den Feldern zu holen und sich vor dem nahenden Niederschlag hinter die Stadtmauern zu flüchten.
Finn saß locker im Sattel und passierte die Feldarbeiter, bis er die Mauern erreicht hatte.
Stadtgardisten in aschgrauen Mänteln und hohen Stehkragen hielten zu beiden Seiten des Tors Wache, schenkten Finn jedoch keine Beachtung.
Helinas hieß ihn ohne einen langsamen Übergang mit dem Gestank der Großstadt willkommen. Der Duft von Kuhfladen, offenen Kanälen und Ziegenkötteln schwängerte die Luft der Straßen, auf denen sich Menschen an Marktbuden mit kieselgrauen Baldachinen drängten.
Finn drängelte sich auf seinem Reittier durch die Menge und erreichte nach einer Weile den Tempel des heiligen Durhelian, der äußerlich mit seinen Zinnen, dicken Mauern und dem verstärkten Tor einer Festung glich.
Finn saß ab und übergab die Zügel einem Novizen, der ihn in Empfang nahm. Danach grüßte er seine beiden Brüder, die auf den Stufen vor dem Eingang Wache hielten, und trat ins Innere. Seine Schritte hallten auf den Marmorfliesen. Haushohe Kriegerplastiken aus nachtschwarzem Marmor säumten einen großen Zeremoniensaal. Sie blickten auf Finn herab, während sie sich mit Schilden gegen das Deckengewölbe stemmten.
Finn lief zur Stirnseite des Tempels, wo eine Feuerschale in den Boden eingelassen war, in der das Indigofeuer des Heiligen loderte. Es brauchte weder Holz noch Öl und warf keinen Schatten.
Er beugte das Knie und legte sich die rechte Faust auf die Brust. Er wusste nicht, ob dies die Stelle war, in der das heilige Buch Renarian eingelassen war, das in den Fundamenten eines jeden der vier durhelianischen Tempel in den Jorvenlanden ruhte. Dennoch versuchte er sich vorzustellen, dass er sich über der Heiligen Schrift befand und betete:
Heiliger Durhelian,
erleuchte unseren Weg,
eine unsere Stärke im Glauben,
eine unseren Mut in der Schlacht,
eine uns und wir folgen dir,
eine uns und wir dienen dir.
Im Geiste und auf dem Felde
sind wir dein Schild und deine Lahras.
Dein Wort ist uns Gesetz,
deine Gerechtigkeit unser Lohn.
Lass uns obsiegen, wenn Dunkelheit droht.
»Bruder Finn, es freut mein Herz, Euch wiederzusehen«, rief Großmeister Raukhar von der Arkade über dem Zeremoniensaal herunter. Er trug eine Robe mit einer Seidenschärpe, die zu beiden Seiten vom Hals hinunter hing. Das Goldamulett mit dem Flammenschwert baumelte an seiner Kette nach vorn, weil er sich über die Brüstung beugte. »Kommt ins Ordinariat und berichtet mir von Eurer Reise.«
Finn ging die Treppe hoch und folgte dem Großmeister vorbei an den Ruheräumen ins Ordinariat. Er grüßte zwei Brüder, die ihn passierten und schloss die Türe hinter sich.
Tageslicht belebte einen Rundbogen mit Buntglasfenstern, die in zwei Seiten aufgeteilt waren. Links strebten Flüsterlinge mit ätherischen Körpern aus den Tiefen hinauf in die Welt der Menschen und griffen mit ihren Krallen nach den Wurzeln der Bäume, um sich hochzuziehen. Rechts stand eine Lichtgestalt aus Indigo auf dem Gipfel eines Berges und scharte Krieger um sich, die sich im Kreis um ihn versammelten. Bunte Lichtflecken der Szene fielen auf einen Schreibtisch voll mit Schreibfedern, Tintenfässchen und Papierstapeln. Außer der Stirnseite mit den Fenstern und dem Kamin war jeder Zoll Wand mit Bücherregalen verkleidet, deren Bretter sich unter der Last von Folianten bogen.
Großmeister Raukhar strich sich das schüttere Haar nach hinten und setzte sich. Das Leder des Sessels knarzte unter dem Mann, dessen Bauch seine Amtsrobe wölbte. »Ihr seid schneller zurück, als ich erwartet hatte. Ich nehme an, Ihr seid mit einer Himmelsbarke von Wranis zurückgekehrt? Gibt es Neuigkeiten vom Tempel Bahlinors, ist der Großmeister mit den Umbauarbeiten fertig?«
»Nein, Großmeister. Wir wurden auf dem Weg von Krummlingen überfallen«, erwiderte Finn. Er kramte aus der Innentasche seines Umhangs die Siegelrolle von Exarch Gamrion hervor.
Raukhar nahm sie entgegen, brach das Siegel und las. Seine Stirn legte sich in Falten. »Er schreibt vom Attentat auf sein Leben und von den Kultisten, die sich ausbreiten. Außerdem lobt er Eure Stärke – Euer Kampfesmut werde dem Heiligen gerecht.«
Finn nickte verhalten. Wenn er denn so gelobt wurde, wieso durfte er nicht mit nach Wranis, um sich dort einen Namen gegen die Kultisten zu erkämpfen?
Großmeister Raukhar lachte auf. Das Echo wurde von den Büchern aufgesogen, als säßen sie in einem Teppichladen. »Ich kann es von Eurem Gesicht ablesen. Ihr grämt Euch, nicht kämpfen zu dürfen. Doch es ist der Glaube, der Euch Kraft verleiht. Und Ihr solltet auch Glauben in Eure Brüder setzen. Sie geben Euch die Aufgaben, die Ihr braucht, um Euch zu entwickeln. Habt Geduld.«
»Botendienste, Segnungen, das Einsammeln von Spenden, Eskorten. Wenn ich keine Gelegenheit zum Kampf erhalte, kann ich wohl kaum Ruhm ernten? Wieso kann ich nicht mit meinen Brüdern auf die Jagd nach Dämonen gehen?«
»Dämonen sind nicht die einzigen, gegen die es zu kämpfen gilt«, mahnte der Großmeister, zog die Brauen hoch und hob den Zeigefinger. »Übt Euch in innerer Betrachtung.« Er stand auf und legte Finn die Hand auf die Schulter. »Den Novizen habt Ihr beim Initiationsritual hinter Euch gelassen. Beim Durchschreiten der Indigoflammen hat Euch das Feuer nicht verzehrt, daher habt Ihr Euren Mut und Eure Rechtschaffenheit bereits unter Beweis gestellt. Nun werden Eure Pflichten Euch auf dem Wetzstein des Glaubens schleifen. Nehmt heute Abend eine Himmelsbarke zum Gipfel des Sacklings, in ein paar Stunden seid Ihr oben. Wohnt dem Ritual bei und entzündet mit unseren Brüdern das Feuer – das erste Licht des neuen Jahres.«
»Möchtet Ihr dieses Jahr nicht selbst zum Ritual?«
»Nein, übernehmt das dieses Mal für mich.«
Finn war verwundert, dass sich Raukhar dieses Ereignis entgehen ließ.
»In meiner Doppelrolle als Großmeister unseres Tempels in Helinas und dem Bergtempel auf dem Sackling kann ich nicht allen Aufgaben gerecht werden, die man mir abverlangt. Deshalb muss ich Prioritäten setzen.«
Finn hatte mal wieder das Gefühl, dass bei ihm alle unangenehmen Aufgaben, die keiner erledigen wollte, abgeladen wurden. Aber er hatte keine andere Wahl, er musste Geduld zeigen. »Wie Ihr wünscht«, antwortete Finn zerknirscht und verließ den Raum.
Die Himmelsbarke schaukelte sachte hin und her, während sich die Oberfläche von Finns Fischsuppe nach links und rechts neigte. Er saß im Speiseraum am Tisch und hatte neben der Schale einen Zwergenberg aus Gräten angehäuft, die der Koch nicht aus dem Fleisch gezogen hatte.
Wieso kann es auf Himmelsbarken nicht Vögel zu essen geben, wenn es auf Ozeanschiffen Fisch zum Essen gibt, fragte er sich, zog sich eine weitere Gräte aus dem Mund und platzierte sie auf dem Haufen. Was beschwerte er sich eigentlich? Für Überfahrten auf Schiffen und Himmelsbarken mussten Geistliche und ihre Begleiter nicht zahlen, und das dank dem Einsatz von Exarch Gamrion, der die Dienste von Priestern gegenüber der Krone als Notwendigkeit durchgesetzt hatte. Daher sollte er sich freuen und die kleinen Unannehmlichkeiten hinnehmen.
Der Lichtkegel der Öllampe, die an einem Deckenbalken hing, glänzte im Blut der Fische, denen der Koch an seinem Hackbrett die Köpfe abschlug. Etwas an der Art und Weise, wie er es tat, verdarb Finn den Appetit. Er schob die Suppe beiseite und schaute zum Spielmann, der ihm gegenüber am Tisch saß.
Saite für Saite zupfte er an seiner Laute mit dem abgeknickten Kopf und drehte an Rädchen, bis ihm das Ergebnis gefiel. Beim letzten Ton verzog er das Gesicht, dann lächelte er und spielte eine Melodie. In sein Spiel mischten sich Missklänge, die beim Zuhören wehtaten. Und das Knarzen des Barkenholzes verwandelte die Disharmonie in etwas, das dem Kampflärm zwischen Hund und Katze glich.
Finn zuckte bei jedem Fehlgriff innerlich zusammen und ahnte, dass der Mann ein Möchtegern und kein echter Barde war, die mit ihrer Musik nicht nur die Laune hoben, sondern auch Geschichten erzählten.
Da Finn weder der Fisch noch die Musik schmeckte, schnappte er sich seinen Mantel und verließ die Messe. An Deck erfasste ihn ein kalter Wind, weshalb er seinen Mantel zuknöpfte und hoch zum Rochenleviathan blickte, dessen ultramarinblaue Haut sich nur durch den Glanz der Feuer an Bord von der Nacht abhob. Durch die Bewegungen seiner Gasblasen wölbte und flachte sich seine Bauchhaut in stetigem Rhythmus auf und ab. An seinem Leib hingen dicke Eisenringe, an denen die langen Ketten befestigt waren, welche die Himmelsbarke mit ihm verbanden.
»Gut, Höhe halten!«, blaffte der Kapitän, während die Barke eine flache Stelle unweit des Gipfels überflog. Über Umlenkrollen und Flaschenzüge ratterten Ketten und veränderten den Zug am Rochenleviathan. Der Riese ging in den Sinkflug über und beschrieb eine Rechtskurve.
»Landebrücke vorbereiten!«
Finn vergrub sein Kinn im Kragen des Mantels. Der Sackling war nicht so hoch wie die Sigisberge bei Rugand und lag unterhalb der Schneegrenze, dennoch zehrte die Kälte des Windes an Leib und Seele.
Er lehnte sich über die Reling und blickte nach unten auf das Neujahrsfeuer, das bereits auf dem Hügelkamm brannte. Das Beladen der Himmelsbarke hatte so viel Zeit in Anspruch genommen, dass er das Anzünden verpasst hatte.
Gebäude schälten sich aus der Nacht, vom wenigen Mondlicht beschienen. Finn musterte den Landeturm zwischen den Steinhäusern. Während die Luftbarke über dem Turm schwebte, warf ein Luftmatrose Ankerseile aus. Zwei Arbeiter tänzelten auf dem Dach und fischten mit Langhaken nach den Ösen der Seile, die von der Barke baumelten. Wenige Sekunden später sank die Luftbarke noch tiefer, nun zogen die Arbeiter den Rumpf über Poller an die Turmkante heran und setzten die Landebrücke an.
Finn verließ den Landeturm, welcher der bauliche Höhepunkt der Siedlung war, in der sich Hütten aus Holz und Stein nebeneinander reihten und die einzige Straße des Orts säumten. Finn blickte auf seine Füße, um in der Dunkelheit nicht auf Kuhfladen oder Ziegenköttel zu treten. Während er so seinen Schritt beobachtete, sprach ihn jemand von der Seite an.
»Kampfpriester«, wisperte eine Frau vor einem Hoftor, das ihr bis zu den Knien reichte. Ein Zicklein legte den Kopf über den aus Weidenzweigen geflochtenen Zaun und blökte Finn an.
Die Frau verpasste dem Tier einen Klaps mit einem Hirtenstab und schickte es in den Bretterverschlag zurück. Weiße Haarsträhnen kringelten sich unter dem rosengeblümten Kopftuch über ihrer Stirn. Sie zupfte sich die Schafwolldecke, die sie über den Schultern trug, über der Brust zusammen und sah Finn mit betrübter Miene an.
Finn kannte diesen Blick. In solchen Momenten rangen Menschen mit dem Schmerz in ihren Herzen. Er hatte keine Zeit für so etwas, aber ihm blieb keine Wahl, denn sein Amt und Großmeister Raukhar verlangten danach, dass er sich neben seinen Verpflichtungen im Kampf auch den sakralen Aufgaben seines Ordens widmete. Er atmete durch, ging auf die Frau zu, blieb vor dem Hoftor stehen und schaute sie an. »Möge der Heilige Euren Weg erleuchten. Ich bin Bruder Finn, was kann ich für Sie tun?«
»Mein Mann geht seit vier Monden nicht mehr die Schafe hüten.« Ihre Worte klangen hohl, als sei sie ein Tonkrug ohne Inhalt. »Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll. Ich … Er hat Schmerzen, Bruder Finn. Solche, die man seinem Feind nicht wünscht.« Sie schluckte hörbar.
»Bringt mich zu ihm, gute Frau.«
Sie öffnete ihm das Hoftor und führte ihn über zwei Stufen in die Hütte.
Finn schlug der Geruch des Todes entgegen, noch bevor er den Hirten erspäht hatte. Es roch nach Farnkrauttee, Urin und Blut. Dazu schlängelte sich eine süßliche Note nach Stillem Grünwurz durch die Luft. Das Halluzinogen wurde für Rauschzustände und zur Schmerzstillung verwendet und mochte für eine Hirtenfrau ein Vermögen kosten. Es war keine Seltenheit, dass Familien sich bei der Pflege ihrer Kranken bis an den Ruin verausgabten.
Finn setzte sich auf einen Schemel ans Bett und sah dem Hirten ins Antlitz. Es war nicht das fahle Mondlicht, das für seine Blässe verantwortlich war. Seine Züge wirkten verkrampft, Falten zogen sich durch sein Gesicht und seine Lippen standen einen Spalt breit offen.
»Ist er noch bei Bewusstsein?«, wollte Finn wissen und legte ihm die Hand auf die Stirn.
»Nein, ich kann ihn schon seit einer Woche nicht mehr erreichen.« Ihre Stimme brach bei den letzten Worten. »Bitte Bruder Finn, er kann nicht loslassen.«
Finn fühlte die Hitze auf der Stirn des Hirten, den kalten Schweiß auf seiner Haut. Als Novize hatte er die Sterbebegleitung den Priestern überlassen, die sich mit Gebeten, Barmherzigkeit und Mildtätigkeit besser auskannten. Sie hätten ihre Gebete gesprochen, Familienangehörige ans Sterbebett gerufen und Trost in der Gegenwart des Todes gespendet. Neben Kerzenlicht hätte es auch Weihrauch und Frischwasser gegeben, mit dem sie das Gesicht des Sterbenden gewaschen hätten. Doch am Ende taten sie nichts anderes, als einen Menschen zu töten. Finn war da anders, er machte sich nichts vor, wollte die Sache hinter sich bringen, diesen Teil seiner Kampfpriesterschaft schnell abhandeln.
Finn schloss die Augen und sprach die Worte des Lichts: »Möge Euch die Goldmöwe auf ihren Schwingen davontragen.« Kraft strömte durch seinen Arm in seine Hand und floss über die Stirn des Hirten in seinen Körper. Finn nahm den Schmerz wahr, der sich um die Seele des Sterbenden geschnürt hatte. Er sah den Lebensfunken, der im Verschwinden begriffen war, während die Dunkelheit um ihn herum wuchs. Bei jedem dritten Herzschlag verschwamm Finns Sicht, gleich einem Stein, der die Wasseroberfläche mit seinem Einschlag in Wellen versetzte. In Gedanken streckte Finn die Hand aus und ließ das Licht des Heiligen durch sich fließen.
Finn öffnete die Augen und blickte in ein Gesicht, aus dem Spannung und Schmerz gewichen waren. Sein Lebensodem war erloschen. Hinter Finn begann die Hirtin zu schluchzen.
»Danke, Bruder Finn, Ihr habt seinem Leid ein Ende bereitet«, stammelte sie.
Ihr meint, ich habe ihn getötet, dachte Finn. Hilfe wäre gewesen, den Mann heilen zu können, ihn wieder mit dem Leben zu vereinen. Der Tod am Ende einer Klinge besaß mehr Ehrlichkeit, als die Kult gewordene Scheinheiligkeit solcher Rituale.
Finn erhob sich und machte Platz für die Witwe, die ihre Lippen auf die Stirn ihres Mannes drückte und weinte. Ohne ein weiteres Wort verließ Finn die Hütte und setzte seinen Weg fort.
Die Straße mündete in einem Pfad, der sich in Serpentinen zum Gipfel hinaufschlängelte. Finn strebte zum Neujahrsfeuer auf dem Gipfel des Sacklings, stemmte sich gegen den Wind und blinzelte sich die Kältetränen weg. Tagsüber stellte der Trampelpfad eine Herausforderung dar, doch nachts war er eine Gefahr für Leib und Leben. Wurzeln griffen nach seinen Stulpenstiefeln, Bergeichen und Schwarzkirschen grapschten mit ihren Zweigen nach seinem Mantel und seinen Haaren. Da er einen Sturz fürchtete, tastete er mit dem Schaft seiner ausgefahrenen Lahras nach dem Boden. Eine Fackel oder sein Heiliges Feuer zu entzünden, wäre ein Sakrileg, in der Nacht des Lichtfests durfte lediglich das Feuer auf dem Gipfel brennen. Es symbolisierte das Licht, das der heilige Durhelian den Menschen im Kampf gegen die Dämonen geschenkt hatte.
Erste Schatten zuckten zwischen den Baumstämmen und Büschen. Es war nicht mehr weit. Nach einer letzten Kehre in der Serpentine des Pfades stolperte Finn in den Schein des Feuers.
Was sich ihm darbot, wollte sein Kopf nicht begreifen. »Bei den Verfluchten Sieben«, hauchte er und erstarrte. Keiner seiner Brüder stand um das Feuer, es brannte einsam. Das Kopfsteinpflaster um den Scheiterhaufen glänzte vor Blut. Überall lagen Lahras, Körperteile, Speere und lose Seiten des Ranarian. Hier hatte ein Kampf stattgefunden.
Ein Massaker.
Finn erkannte Schädel und Plattenharnische im Feuer. Es waren seine Brüder, die mit ihrem Fleisch und ihren Knochen die Flammen nährten.