Читать книгу Leana - Conny Lüscher - Страница 11
Trost
ОглавлениеTim saß in der noch leeren Kantine des Zentralkrankenhauses. Er war völlig erschöpft. Seine Hände umklammerten einen Pappbecher mit kaltem Kaffee. Er hatte ihn aus dem Automaten geholt und das Gebräu schmeckte scheußlich. Um diese Uhrzeit gab es hier noch keine Bedienung. Ein paar Tische weiter diskutierten leise zwei übermüdete Ärzte. Die Beleuchtung im Raum war nur zur Hälfte eingeschaltet und in ihren weißen Kitteln sahen sie aus wie Gespenster.
Er nahm noch einen Schluck und versuchte endlich einen klaren Gedanken zu fassen. Er war die ganze Nacht herumgerannt. Keine Spur von Leana. Als Erstes war er zu der Unfallstelle gelaufen. Der zerstörte Bus war inzwischen abgeschleppt worden, aber noch immer waren jede Menge Polizisten und Feuerwehrleute vor Ort. Tim packte den erstbesten Uniformierten am Ärmel.
„Hören Sie “, keuchte er außer Atem. „Wurde eine junge Frau in den Unfall verwickelt? Das hier ist ihr Heimweg, wissen Sie! Sie ist siebzehn, hat rotblonde Locken und grüne Augen und sie trug …“ Er zerrte an der Uniform. „Verflucht, ich weiß nicht, was sie heute Morgen angezogen hat! Ich hab sie nicht gesehen!“
Der Polizeibeamte löste Tims Hand von seinem Arm. Von seiner Mütze tropfte der Regen.
„Beruhigen Sie sich“, sagte er, „so viel kann ich Ihnen mit Sicherheit sagen, es befand sich wirklich niemand auf dem Gehsteig!“
Tim starrte den Beamten an, als hätte er chinesisch gesprochen.
„Ich weiß, dass sie hier war!“, schrie er.
Er war völlig durchnässt in seinem dünnen Pullover und den verbeulten Trainingshosen, die er nur zu Hause trug. Aber das bemerkte er nicht einmal. Wie unter Schock war er losgerannt und immer noch nicht bei Sinnen. Er wusste nur eines: Leana war hier gewesen. Warum wollte dieser Mann das nicht verstehen? Als er den Blick des Polizisten sah, nahm er sich zusammen.
Ich muss ruhig bleiben, dachte er, es nützt nichts, wenn er mich für verrückt hält.
„Der Busfahrer“, sagte er möglichst ruhig, „wo ist er? Der muss doch etwas gesehen haben! Er weiß es mit Sicherheit!“
„Hören Sie“, sagte der Polizist, „der Fahrer liegt schwer verletzt im Krankenhaus und schwebt in Lebensgefahr. Es wäre ein Wunder, wenn er überlebt. Kommen Sie doch mit auf die Wache. Dort können Sie mir alles erzählen und wir werden der Sache nachgehen.“
Nichts lag Tim ferner, als seine Zeit auf einer Polizeiwache zu verschwenden, um am Schluss vielleicht sogar noch eingesperrt zu werden. Der Blick des Polizisten verhieß nichts Gutes.
Er hob abwehrend die Hände.
„Nein, nein schon gut! Nicht nötig! Vermutlich habe ich mich geirrt und sie ist mit irgendwelchen Freundinnen unterwegs und steht womöglich schon schuldbewusst vor der Tür.“
Er drehte sich um und rannte durch den Regen davon. Er konnte sich selbst nicht erklären, warum er sich so sicher war, dass Leana dort gestanden hatte, als der Unfall passierte. Aber irgendetwas weckte verdrängte Erinnerungen. Bilder von Isabell, Leanas Mutter, schwirrten in seinem Kopf. Wie er sie kennengelernt hatte, eine junge alleinstehende Mutter mit einem stillen, winzigen Baby. Er hatte sich sofort Hals über Kopf in sie verliebt.
Ausgerechnet er! Er der nie heiraten und eine Familie haben wollte, wünschte sich nichts anderes mehr. Voller Angst, dass sie seinen Antrag ablehnen würde, hatte er nie nach dem Vater des Kindes gefragt. Ihre Vergangenheit war ihm egal, er liebte sie beide vom ersten Augenblick an. Sie waren so unglaublich schön, es war, als würde erst durch sie die Welt mit Leben erfüllt.
Und dann verschwand Isabell! Einfach so. Nichts hatte ihn darauf vorbereitet. Er war fast verrückt geworden. Kein Brief, kein Hinweis, keine Spur. Alle Suche war vergeblich, es war, als hätte sie nie existiert. Er blieb zurück mit Leana, sie war gerade vier Jahre alt und um ihretwillen blieb er am Leben.
Und nun war sie weg! Genauso spurlos verschwunden wie ihre Mutter. Diesmal würde er das nicht überleben.
Er musste weitersuchen. Tim stieg in ein Taxi und ließ sich zum Krankenhaus fahren. Wenn nötig würde er den Busfahrer aus seinem Koma prügeln. Aber er hatte keine Chance. Er war kein Verwandter und wurde von der Schwester der Notaufnahme schroff abgewiesen. Er hatte sich auf die Bank davor gesetzt in der Hoffnung, hier in Hörweite irgendwelche Neuigkeiten zu erfahren. Aber nichts. Die Zeit schien stillzustehen. Zwei Polizisten hatten noch einen völlig Betrunkenen angeschleppt und eine junge Mutter war mit einem schreienden Baby aufgetaucht und von einem Arzt weggeführt worden. Dann nichts mehr. Schließlich hatte er sich völlig übermüdet in die Cafeteria geschleppt. Die Zeiger der großen Uhr an der Wand bewegten sich langsam weiter und er starrte sie hilflos an.
Er trank geistesabwesend seinen Becher leer. Was konnte er tun, wo sollte er suchen? Er hatte immer wieder zu Hause angerufen, aber natürlich hatte sich nur der Anrufbeantworter eingeschaltet. Und ihr Handy hatte sie wie schon so oft am Morgen auf ihrer Kommode vergessen.
„Hallo“, sagte eine sanfte Stimme neben ihm.
Er blickte auf. Eine junge Frau mit langen, weißblonden Haaren stand neben ihm und lächelte ihn aufmunternd an. Woher kannte er sie bloß?
„Hallo“, erwiderte Tim. Er wollte nicht unhöflich sein.
Die Frau setzte sich unaufgefordert zu ihm an den Tisch. Unter normalen Umständen hätte er jetzt sofort angefangen mit ihr zu flirten, es wäre ihm egal gewesen, dass sie so viel jünger war. Jetzt wollte er nur seine Ruhe, er wollte nachdenken. Leana, Isabell, es gab da irgendetwas, was er verdrängt hatte und er musste es herausfinden. Nur so konnte er Leana finden.
„Kann ich Ihnen noch einen Kaffee bringen?“
„Danke nein“, murmelte er, „schmeckt scheußlich.“
Die junge Frau lachte hell. Er blickte sie an. Tief sah er in ihre eisblauen Augen und konnte gar nicht mehr verstehen, warum er sich zuerst so von ihr gestört gefühlt hatte. Sie war da und das war doch gut! Sie verstand ihn, das konnte er genau spüren. Alles würde gut werden, lächerlich, dass er sich so aufgeregt hatte.
Leana war nicht nach Hause gekommen. Na und? Diese blöden jungen Dinger hatten doch nichts anderes als ihre Freundinnen und Partys im Kopf! Natürlich! Keinen Moment dachte sie an ihn und dass er sich Sorgen machte. Sie vergnügte sich mit irgendwelchen schmierigen Typen und er machte sich zum Affen und rannte durch den Regen und suchte sie. Nicht zu fassen! Aber er würde ihr gehörig die Meinung sagen, wenn sie auftauchte! Ja zum Teufel das würde er! Grün und Blau würde er sie prügeln, diese Schlampe und …
Die beiden Ärzte standen auf und schoben geräuschvoll ihre Stühle über den Steinboden. Das brachte ihn zu sich. Verwirrt und erschrocken starrte er die junge Frau an.
„Mein Name ist Cybill“, sagte sie und streckte ihm lächelnd ihre Hand entgegen. Zögernd griff er danach. Der Schweiß rann ihm von der Stirn. Er war entsetzt, was war bloß los mit ihm? Wie konnte er so etwas nur denken?
„Hallo, ich bin Tim.“ Er stand hastig auf. Er musste hier raus, er musste dringend an die frische Luft!
„Tut mir leid, aber ich muss jetzt gehen.“ Er entzog seine Hand fast mit Bedauern. Ihre Hände, die seine umfassten, fühlten sich so gut an, es war, als könnten sie sprechen. Und sie sprachen über fantastische Dinge, die sie tun könnten.
Überstürzt lief er zum Ausgang.
„Tim!“, rief ihm Cybill nach, „ich bin immer für Sie da, wenn Sie mich brauchen. Ich kann Ihnen helfen, Sie brauchen mich nur zu rufen!“
Fast wäre er stehen geblieben, der Klang ihrer Stimme schien ihn festzuhalten, aber Isabells Bild schob sich vor seine Augen und er lief durch den beginnenden Morgen nach Hause.
Es war sieben Uhr, als er vor dem Mehrfamilienhaus stand, in dem er mit Leana lebte. Es war noch viel zu früh, der Postbote kam immer erst um neun, aber trotzdem öffnete Tim den Briefkasten. Er wusste nicht, was er erwartet hatte darin zu finden und natürlich war das Fach leer. Mit hängenden Schultern starrte er vor sich hin.
„Hallo Tim. Schon so früh auf?“
Eine Nachbarin – man hätte ihn jetzt schlagen können, aber er wäre nicht auf ihren Namen gekommen – sah ihn müde an. Sie war weit über achtzig und in diesem Haus wahrscheinlich die Einzige, die mit allen Bewohnern Kontakt pflegte. Sie musterte ihn stirnrunzelnd.
„Geht es Ihnen nicht gut? Hat es Sie jetzt auch erwischt?“
„Häh? Was, wieso?“ Tim konnte sich nicht konzentrieren.
„Das Haus! Es ist das Haus!“, mit verschwörerischem Blick schob sie sich näher zu ihm. Er blinzelte verständnislos.
„Nun sagen Sie bloß, dass Sie das nicht mitbekommen haben!“, rief sie empört.
„Was denn?“
„Seit ein paar Monaten geschehen in diesem Haus Dinge! Dinge, die einfach nicht normal sind und nur HIER, hier bei uns! Ich sage Ihnen: Dieses Haus ist verflucht!“
Tim wollte gerade etwas Belangloses erwidern, um sie loszuwerden, aber plötzlich verstand er, was sie meinte.
Sie hatte recht. Vor einem halben Jahr hatte es begonnen. Eine junge Frau, die im obersten Stockwerk wohnte, hatte sich eines Abends von der Terrasse gestürzt. Aus Liebeskummer, wie es hieß. Sie hatte überlebt, lebte aber seitdem vom Hals abwärts gelähmt in einem Heim. Zwei der Bewohner waren an Krebs erkrankt. Es war eingebrochen worden, aber das Schlimmste war ein junger Mann, der bei einem schizophrenen Anfall versucht hatte, seine Mutter zu ermorden. Und alles war hier, in ihrem Haus passiert. Als wäre es von einer Wolke des Unglücks vergiftet worden.
Er starrte sie an. Es stimmte! Wieso nur war ihm das vorher nie aufgefallen? Er versuchte sich zu erinnern. Wann hatte das begonnen?
Cybills Bild schob sich vor seine Augen und das eines großen, kräftigen Mannes mit schwarzen Haaren, dem er oft vor dem Haus begegnet war, ohne ihn weiter zu beachten.
War das möglich? Hatten sie irgendetwas damit zu tun?
„Haaaallloooo?“, die alte Frau zupfte an seinem Ärmel. „Sind Sie noch da?“
Tim blockte die auf ihn hereinstürmenden Gedanken ab. Energisch knallte er das Türchen seines Briefkastens zu. Er konnte sich jetzt unmöglich mit dieser Frau befassen.
„Also schönen Tag noch“, murmelte er und verschwand im Treppenhaus. Beleidigt und kopfschüttelnd sah sie ihm nach.
Als er die Wohnungstüre aufschloss, keimte Hoffnung ihn ihm auf.
„Leana!“, rief er fragend in den Flur.
Natürlich kam keine Antwort. Oder doch? Was war das? Er hörte ein leises Gemurmel und stürmte aufgeregt ins Wohnzimmer. Der Fernseher. Er hatte ihn gestern Abend nicht ausgeschaltet, als er Hals über Kopf aus der Wohnung gelaufen war. Er ließ sich auf das Sofa fallen. Er war völlig am Ende und sein Kopf dröhnte. Seine Gedanken rasten darin wie kleine Tiere im Kreis. Er sah das umgefallene Weinglas, den vertrockneten Rest des Gemüseauflaufs und dann wanderte sein Blick zum Bildschirm.
Sie war da. Leise sprach sie zu ihm und lächelte ihn an. Er legte sich hin und entspannte sich. Ja Cybill war da, es war doch alles gut. Etwas in seinem Innersten bohrte qualvoll, aber er fühlte sich getröstet.