Читать книгу Leana - Conny Lüscher - Страница 12
Cado
ОглавлениеSie folgten dem Flusslauf, wie Alexander es ihnen gesagt hatte. Nina stöckelte energisch voraus. Felix stapfte hinter ihr her und Leana folgte ihnen völlig in ihren Gedanken versunken. Sie suchte immer noch nach einer Erklärung. Das konnte doch alles nicht wirklich passiert sein. Wann würde sie endlich aufwachen? Felix drehte sich um.
„E eeer koommt m miiit uns!“, rief er.
Aufgeregt deutete er hinter sie. Nina und Leana drehten sich um. Tatsächlich, der Seidenwer lief hinkend ein paar Meter hinter ihnen her. Nun blieb er stehen und musterte sie aufmerksam mit seinen dunkelblauen Augen. Sein langer Schweif schwenkte langsam von einer Seite zur anderen.
„Auch das noch“, seufzte Nina.
Es war das Erste, was sie seit langer Zeit sagte. Genau wie Leana war sie mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt.
„K ko koooom heeer“, lockte Felix und ging in die Knie.
Der Seidenwer richtete seine runden Ohren steil in die Höhe und blieb abwartend stehen.
Leana betrachtete Felix. Der kleine Junge tat ihr leid. Wie musste er sich fühlen und wie schaffte er es, sich in diesem Albtraum so tapfer zu halten?
„Findest du nicht, wir sollten ihm einen Namen geben?“, sagte sie. Nina stöhnte genervt.
„Ooohh jaaaah!“, schrie Felix begeistert. „W w wiiiie s soool eeer h heiiißen?“
Leana lächelte, wie wenig es doch brauchte, um dieses Kind glücklich zu machen.
„Wie wäre es denn mit Cado?“, fragte sie.
Felix blickte stirnrunzelnd zum trüben Himmel, man konnte sehen, wie es in seinem kleinen Kopf arbeitete.
„Cado?“, brummte Nina. „Wie kommst du denn auf so was?“
„Nun ja“, sagte Leana. „Er hat etwas von einer Katze, aber auch etwas von einem Hund. Also Cat und Dog. Zusammengefasst Cado! Versteht ihr?“
„Suuuuuper!“, rief Felix begeistert. „Ca cadooo hiiiiierher!“
Der Seidenwer näherte sich ein wenig, ganz so als ob er mit der Namensgebung einverstanden wäre. Dann setzte er sich würdevoll ins trockene Gras.
„Pfffhhh“, machte Nina und schüttelte den Kopf.
„E eeees k k köööönnte aber auch Cadeau h heiiißen, f f französisch, G g ggeeescheeenk!“ Felix war vor Aufregung ganz aus dem Häuschen.
„Ich fass es nicht“, rief Nina, „der Zwerg spricht französisch!“ Sie gab ihm einen liebevollen Klaps und drehte sich um. Als sie weitergingen, folgte Cado ihnen humpelnd dicht auf den Fersen.
Sie liefen durch diese seltsame fremde Welt. Obwohl eine kleine gelbe Sonne senkrecht über ihnen am Himmel stand, wurde es nicht richtig hell. Die Farben der Landschaft um sie herum waren trüb und verwaschen. Das Wasser des Flusses war graubraun und die Bäume streckten knotige, bizarr verbogene Äste drohend in den Himmel. Die Grashalme, die in den schmalen Pfad ragten, waren messerscharf. Es gab kein Vogelgezwitscher. Seltsame, große Insekten umschwirrten sie mit Angst einflößendem Brummen.
Sie waren müde und verwirrt. Aber das erklärte nicht die Schwere und Hoffnungslosigkeit, die sie mit jedem Schritt mehr und mehr bedrückte. Und dann kam der Durst. Leana fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen und betrachtete das Wasser des Flusses. Es sah scheußlich aus, aber vielleicht war es ja trinkbar? Als hätte er ihre Gedanken gelesen, blieb Felix stehen und drehte sich nach ihr um.
„I i ich hab so Durst“, jammerte er. „Leana iiich k kann nicht mehr!“
Sein kleines Gesicht war ganz rot. Die Narbe über seinem Auge, die er sich im Kampf mit den Krähen zugezogen hatte, leuchtete grell. Sie hatte sich entzündet.
Nina blieb stehen und warf ihre Handtasche ins Gras.
„Nicht nur du!“, stöhnte sie. Beide blickten erwartungsvoll zu Leana.
„Tut mir leid“, sagte sie bedauernd und zog eine leere Plastikflasche aus ihrer Schultertasche. „Gestern kurz vor diesem Albtraum noch leer getrunken.“
Sie starrten in den Fluss. „Ich versuch’s einfach!“
Leana rutschte vorsichtig über die Böschung, um die Flasche mit Wasser aufzufüllen. Cado sprang mit einem brüllenden Fauchen vor ihre Füße und funkelte sie mit zurückgelegten Ohren böse an. Leana stieß einen Schrei aus. Fast wäre ihr die Flasche entglitten.
„Caaaaadoooo!“, rief Felix entsetzt. Er hätte sich nie vorstellen können, dass sich der Seidenwer in ein solches Raubtier verwandeln konnte.
„Hab ich’s nicht gesagt“, knurrte Nina. „Nichts als Scherereien mit dem Vieh! Gschschsch! Scher dich zum Teufel!“
Sie versuchte Cado zu vertreiben. Aber der blieb wie angewurzelt, mit hoch gezogenen Lefzen zwischen Leana und dem Ufer stehen. Die Zähne, die dabei sichtbar wurden, versetzten sie alle drei in Schrecken. Es war klar, er würde den Weg niemals freigeben.
„Schon gut“, sagte Leana und zog sich zurück. „Es scheint es gibt im Moment keinen Erfrischungsdrink. Möchte jemand einen Keks?“ Sie hielt Alexanders verbeulte Dose in die Luft.
„Willst du, dass ich ersticke?“ Nina stapfte wütend weiter.
Felix schüttelte den Kopf und betrachtete nachdenklich das Tier, das sich wieder beruhigt hatte und sie nun ganz entspannt beobachtete.
„V v viiiileicht ist ja da daaaas Wasser giftig“, sagte er.
„Vielleicht“, antwortete Leana und dann folgten sie Nina.
Kurze Zeit später sprang Cado in großen Sätzen voraus. Als sie ihn wieder eingeholt hatten, versperrte er ihnen breitbeinig den Weg.
„Du nervst du Bettvorleger!“, schimpfte Nina, als er sie nicht vorbeiließ.
„Warte doch mal“, sagte Leana, „ich glaube er will uns etwas zeigen.“
Sie blieben stehen und sahen ihn abwartend an. Er ging nach links in den Wald. Nach ein paar Schritten blieb er stehen und sah sie mit seinen dunklen Augen auffordernd an. Sie folgten ihm. Und nach wenigen Metern konnten sie es hören. Das Plätschern von Wasser! Es war ein kleiner Bach, sein Wasser war klar und glitzerte im trüben Licht.
„Wow“, sagte Nina, „ich nehme den Bettvorleger zurück!“
Cado trank schlabbernd aus dem Bach und sie knieten sich neben ihn und schöpften mit den Händen das wundervolle Nass. Schließlich füllte Leana die Plastikflasche. Nina ließ sich seufzend ins Moos fallen und lehnte sich an einen Baum. Ächzend zog sie ihre hochhackigen Stiefeletten aus und massierte sich die schmerzenden Füße.
Leana tauchte ein Taschentuch ins Wasser.
„Komm her.“ Vorsichtig säuberte sie die Wunde auf Felix’ Stirn. Er ließ es sich mit geschlossenen Augen gefallen und zuckte nur kurz, als sie ihn berührte. Die Wunde sah gar nicht gut aus. Die Kralle hatte seine Haut auf der Stirn tief aufgerissen. Ein großer, ausgefranster Halbkreis, der sich entzündet hatte.
„Ach Felix“, stöhnte sie. „Wir bräuchten dringend einen Arzt.“
Er blinzelte sie an. Seine blauen Augen glänzten fiebrig.
„A aaach waaas !“, murmelte er. „T t tuut gar n niiicht so weh!“
Nina blickte beunruhigt zu ihnen. Leana ließ ratlos den Kopf hängen.
„Okay!“, rief Nina. „Mittagspause beendet! Machen wir, dass wir weiterkommen. Irgendwo muss es hier doch normale Menschen geben, die uns helfen könnten.“
Sie gingen zum Pfad zurück und diesmal folgte Cado Felix dicht auf den Fersen.