Читать книгу Der Traumapfel - Cordula Hamann - Страница 10

Kapitel 7 (Mittwoch, 15. Juni 1988)

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Beatrice steht früh auf. Sie hat gut geschlafen und fühlt sich stark. Weil sie nicht weiß, wann sie heute das nächste Mal etwas zu essen bekommen wird, frühstückt sie reichlich. Um 10 Uhr kommt das Taxi, um sie zum Flughafen zu bringen. Sie überlegt kurz, ob sie den Fahrer bitten soll, vorher einmal durch das Zentrum der Stadt zu fahren. Zeit genug haben sie. Aber dann denkt sie an die eher enttäuschenden Eindrücke von gestern Abend. Nein, sie ist gar nicht undankbar, dass sie Caracas schnell wieder verlassen muss.

Wenn sie früher den Entschluss zu dieser Reise gefasst hätte, als sie jünger war, dann wäre das Interesse an der Stadt groß genug gewesen, diesen Umweg zu machen. Aber jetzt will sie an ihr eigentliches Ziel kommen, das so ganz anders sein wird als diese lärmende Großstadt.

Ihr kommen die Gedanken vom Vorabend im Hotelzimmer wieder ins Gedächtnis und beunruhigen sie. Um sich abzulenken, sieht sie aus dem Fenster. Doch es ist nicht viel anderes zu entdecken, als sie bereits bei ihrer Ankunft gesehen hat und das zeigt im Hellen kein schöneres Bild. Das Taxi verlässt die Stadt und fährt die Autobahn hinunter zur Küste, wo sich der Flughafen befindet. Der Fahrer ist gesprächiger als der von gestern Abend und erzählt von der Stadt, die ständig anwächst, über ihre Probleme und über seine eigene familiäre und finanzielle Situation. Er fragt, warum sie als „nicht mehr sehr junge Frau“, wie er sich vorsichtig ausdrückt, allein in Venezuela unterwegs sei. Ob sie denn Familie in Ciudad Bolívar habe. Sie bejaht die Frage, denn sie hat keine Lust, ihm die ungewöhnlichen Gründe für ihre Reise zu erklären. Der Taxifahrer scheint beruhigt und trägt ihr die Tasche bis zum Schalter. Beatrice belohnt ihn mit einem reichlichen Trinkgeld und verabschiedet sich dankbar. Dieses Mal muss sie nicht lange anstehen, denn es handelt sich um einen Inlandsflug.

Wieder sitzt sie im Flugzeug. Sie ist in ihrem Leben niemals so oft hintereinander geflogen wie auf dieser Reise. Und es ist noch nicht der letzte Flug. Sie hat einen Fensterplatz bekommen. Es ist zwar keine dichte Wolkendecke, über die sie fliegen, aber dennoch schränken große Wolkengebilde die Sicht immer wieder ein. Außerdem fliegen sie inzwischen in einer solchen Höhe, dass die Welt dort unten eher wie ein Blick auf die Landkarte aussieht, als dass man konkret etwas erkennen kann.

Sie erinnert sich an ihren Vorsatz, sich über einiges klar zu werden, auch wenn das Ergebnis sie vielleicht nicht begeistert. Noch fast eine halbe Stunde bleibt bis zur Landung in Ciudad Bolívar und diese Zeit will sie nutzen, wie sie beschlossen hat, jede Minute bis zu ihrem Lebensende auszukosten. Deshalb zwingt sie sich, die Gedanken von gestern Abend wieder aufzunehmen.

Besonders unangenehm ist ihr die Vorstellung, sie könnte Paul nur deshalb so geliebt haben, weil er ihr die Erfüllung ihre Träume möglich machen konnte. Hatte sie ihn denn wirklich als Krücke benutzt, als Hilfe für Dinge, die sie allein nicht hätte bewältigen können? Das kann nicht sein. Sie erinnert sich noch zu genau an das Gefühl, wenn sie bei ihm war. Diese Wärme, die durch ihren ganzen Körper floss und ihre Seele ebenfalls erwärmte. An die Sehnsucht, wenn er nicht da war. An die Vorfreude und die Erwartung vor einem Treffen mit ihm und an das Gefühl, wenn sich ihre Körper zusammenfanden und sie sich gegenseitig höchste Erfüllung schenkten.

Hat sie jemals so für Tom empfunden? Nein! Aber sie hätte solche Gefühle auch nicht zugelassen. Tom bedeutete Zufriedenheit, Sicherheit und Geborgenheit. Mit ihm gab es keine heißen Streitgespräche, kein Auf und Ab der Gefühle. Mit ihm gab es nur Beständigkeit. Tötet Beständigkeit die Leidenschaft? Obwohl, auch bei Paul empfand sie Beständigkeit. Niemals hätte sie daran gedacht, dass ihre Beziehung eines Tages zu Ende gehen könnte. Bei allen Tiefen und Höhen ist die Tatsache, dass sie zusammengehörten, zu keiner Zeit in Frage gestellt worden, von ihr nicht und von Paul nicht.

In den 70iger Jahren, als die Hippie-Bewegung neue Lebensformen suchte, fiel auch ihr ein Buch in die Hände, das sich mit dem Thema Liebe beschäftigte. Grundlage für alle zwischenmenschlichen Beziehungen sei die Liebe zu sich selbst. Ohne sie sei eine wahre Liebe zu einem anderen Menschen nicht möglich. Hat sie sich je selbst geliebt?

Konnte man sich lieben, wenn man für den Tod eines anderen Menschen verantwortlich ist? Sie ist stets unzufrieden mit sich selbst gewesen, außer in der Zeit an der Universität, der Zeit mit Paul. Da fand sie Erfüllung. Wie oft ist sie neidisch auf andere Menschen gewesen, die scheinbar in sich ruhten? Die alles, was das Leben mit sich brachte, hinnahmen und sich damit arrangierten. Die meisten von ihnen haben resigniert, lebten angepasst und genügsam.

Aber es gibt auch welche, bei denen das nicht der Grund für ihre Ruhe ist. Sie denkt an ihre beste Freundin zu Hause. Sie ist ein solcher Mensch. Die vielen Gespräche mit ihr waren mit schuld daran, dass Beatrice endlich den Entschluss zu dieser Reise gefasst hat. Durch ihre Freundin hat sie gelernt, dass es einen Unterschied macht, in Resignation die Dinge des Lebens hinzunehmen oder aber sie aktiv und bewusst in die eigene Lebensplanung zu integrieren. Und auch die Redewendung „Lieber spät als nie“ hat durch die Freundin eine ganz andere Bedeutung bekommen.

Das Flugzeug verliert langsam an Flughöhe. Beatrice sieht wieder aus dem Fenster. Noch fliegen sie über den Wolken. Aber zwischen ihnen kann sie die Welt dort unten bereits etwas genauer sehen. Allerdings besteht diese nur aus einem einheitlichen Grün. Der Urwald, ihr Ziel! Ab und zu wird er unterbrochen von den zahlreichen kleinen Flüssen und dem Orinoko, der in einem riesigen Delta nordöstlich von Ciudad Bolívar in den Atlantik mündet.

Sie durchfliegen einige Wolken und nun liegt ihnen die Stadt zu Füßen: eine kleinere Stadt als Charlotte, dieses Ciudad Bolívar mit ca. 250.000 Einwohnern. Aber ein wichtiger touristischer Ort. Er ist der Ausgangspunkt zu allen weiteren Fahrten und Flügen in den undurchdringlich erscheinenden Dschungel, der im Süden beginnenden Gran Sabana oder in das Orinokodelta.

Wenige Minuten später landet das Flugzeug, rollt in Richtung Gebäude und kommt zum Stillstand. Beatrice beobachtet ihre Mitreisenden. Es sind zwei völlig unterschiedliche Gruppen von Menschen. Mit Anzügen und Krawatte bekleidete Venezoelaner, unter ihnen auch einige ausländische Geschäftsleute, während die übrigen Reisenden Touristen sind; leger gekleidet und statt mit Aktenkoffern mit Rucksäcken, Schlafsäcken und ähnlichem Gepäck beladen. Ihr Gesichtsausdruck ist bewegt und sie scheinen gespannt auf die Urlaubsabenteuer zu sein, die vor ihnen liegen. Im Gegensatz dazu zeigen die Mienen der Geschäftsleute, die in der Stadt oder in der Nachbarstadt Puerto Ordaz, einem Industriezentrum, zu tun haben, eher Langeweile.

Geduldig wartet Beatrice, bis sie das Flugzeug über die angestellte Treppe verlassen kann. Als sie an der Tür anlangt, kommt es ihr vor, als schlüge man ihr mit einem Brett vor den Kopf. Die Luftfeuchtigkeit ist um ein Vielfaches höher als in Caracas und ebenso die Temperatur. Ihr wird schwindlig durch die schwere Luft, die gepaart mit der gleißenden Sonne des Vormittags das Atmen zur Qual und das Sehen ohne Sonnenbrille unmöglich macht.

Alle Reisenden beeilen sich, den kurzen Weg über die Landebahn zum Flughafengebäude hinter sich zu bringen, um in den kühleren, dunkleren Raum des kleinen Gebäudes einzutauchen, das mit zahlreichen Ventilatoren ausgestattet ist.

Beatrice folgt den zielstrebig zum Transportband des Gepäcks eilenden Reisenden. Durch die Glastür sieht sie eine Gruppe wartender Mitarbeiter der verschiedenen Reiseagenturen mit hochgehobenen Schildern, die die Namen der erwarteten Urlauber tragen. Ihren Namen gibt es nicht, denn sie wird gleich weiterfliegen. Sie weiß aus ihren Reiseunterlagen genau, an welchem Schalter sie sich melden muss. Sie nimmt ihre Reisetasche vom Gepäckband und macht sich auf den Weg. Sie schreitet durch die enge Gasse der wartenden Agenturmitarbeiter in die kleine Vorhalle des Flughafengebäudes. Bald findet sie den gesuchten Schalter. Ein junger Mann teilt ihr mit, dass der Pilot des Flugzeuges, das sie weiter bringen wird, noch nicht eingetroffen sei und bittet sie, in der Abflugwartehalle Platz zu nehmen.

„Aber er kommt bestimmt?“, fragt Beatrice, ein wenig verunsichert. „Wissen Sie, ich bin nämlich heute sein einziger Passagier.“

„Ja, er hat es uns erzählt. Sie haben eine Menge Geld dafür bezahlt, nicht wahr?“, antwortet der Schalterangestellte schmunzelnd. „Aber machen Sie sich keine Sorgen, der Pilot ist sehr zuverlässig. Ich denke, er wird jede Minute kommen. Sie sind ein wenig früher als geplant gelandet. Trinken Sie doch noch etwas an der Bar, dort drüben.“

Ihr bleibt auch nichts weiter übrig, als sich an die Bar zu setzen, denn die wenigen Tische mit Stühlen sind durch wartende Reisende bereits besetzt. Das Flugzeug, das sie hierher gebracht hat, soll in wenigen Minuten zurück nach Caracas fliegen. Sie bestellt sich einen Milchkaffee und überlegt, ob sie noch einmal vor das Gebäude gehen soll, um dort das alte Flugzeug von Jimmy Angel zu besichtigen. Jimmy Angel, ein amerikanischer Buschpilot hat 1937, angeblich als erster, den mit 972 m höchsten Wasserfall der Erde, den später nach ihm benannten „Salto Angel“, gefunden. Er musste auf dem Auyán-Tepui notlanden und hat nach den Überlieferungen drei Tage für den Abstieg gebraucht, bis er wieder auf menschliche Behausungen traf. Aber der Gedanke an die unerträgliche Hitze dort draußen lässt Beatrice den Gedanken gleich wieder verwerfen. Was soll sie sich auch ein altes Flugzeug ansehen? Sie will selbst dorthin, wo es damals gelandet ist.

Der Pilot, der sie weiterfliegen soll, ist wohl doch nicht so zuverlässig, wie der junge Mitarbeiter am Schalter ihr versichert hat. Sie muss über eine Stunde warten. Inzwischen sitzt sie an einem der leer gewordenen Tische, denn fast alle Wartenden sind inzwischen abgeflogen. Langsam wird sie unruhig, denn der Gedanke, dass der Weiterflug nicht klappen könnte, ist erschreckend. Alle ihre zeitlichen Pläne wären über den Haufen geworfen. Zweimal ist sie bereits zum Schalter zurückgegangen und hat sich nach dem Piloten erkundigt. Immer wieder hat man versucht, sie zu beruhigen. Hier nähme man es nicht so genau mit den Terminen. Aber sie solle sich keine Sorgen machen.

Sich keine Sorgen machen! Leicht gesagt. Wenn der Pilot nicht kommt, muss sie sich in der Hitze erst einmal eine Unterkunft suchen. Und was, wenn es morgen auch nicht klappt? Sie ist schon fast geneigt, zu einer anderen Reiseagentur zu gehen, um dort nach einem Piloten Ausschau zu halten, als der junge Mann vom Schalter mit fröhlichem Gesicht auf sie zukommt. „Madam, da, der Mann dahinten. Das ist ihr Pilot. Er wird sie gleich abholen. Ich wünsche Ihnen einen schönen Flug.“

Erleichtert trinkt Beatrice den letzten Schluck ihres bereits zweiten Wasserglases und greift nach der Reisetasche, als der Pilot direkt auf sie zukommt. Er nimmt ihr die Tasche ab, begrüßt sie fröhlich und entschuldigt sich mit keiner Silbe für seine Verspätung. Jetzt kann sie innerlich schmunzeln über ihre gewohnheitsmäßige Erwartung der Pünktlichkeit. Erleichtert erwidert sie seine höfliche Begrüßung und folgt ihm.

Erneut trifft sie das Klima außerhalb des Flughafengebäudes wie ein Schlag, auf den sie dieses Mal aber vorbereitet ist. Außerdem ist der Weg zu dem kleinen Flugzeug nicht weit. Zwei Männer folgen ihnen mit diversen Kisten und einer großen Eierpalette. Ist sie doch nicht der einzige Passagier? Sie fragt den Piloten. „Wir nehmen bei jedem Flug immer Proviant und notwenige Sachen für Kavac mit. Wie sollten die dort sonst versorgt werden? Bitte steigen Sie ein. Möchten Sie vorne bei mir oder lieber hinten sitzen? Sie haben die freie Auswahl.“

Ihr ist es lieber, auf der hinteren Reihe Platz zu nehmen. Sie wartet, bis die Männer alle Kisten und Taschen verstaut haben, dann steigt sie ein. Einer der Männer macht hinter ihr die Tür zu und erklärt, dass sie während des Fluges keinesfalls an den Öffnungshebel kommen darf, da das Schloss nicht ganz in Ordnung sei.

„Na wunderbar, so genau wollte ich es Paul nicht nachmachen“, denkt Beatrice und rückt ein wenig mehr in die Mitte der Sitzreihe. Der Pilot macht sich an einigen Schaltern im Cockpit zu schaffen und startet dann auch schon den Motor. Er dreht sich zu ihr um. „Wir haben heute ausgezeichnetes Wetter und können ohne Probleme in Kavac landen. Wollen wir noch über den Salto Angel fliegen? Es ist im Preis enthalten, aber nicht alle Passagiere haben so ein Glück wie Sie. Es sind so gut wie keine Wolken am Himmel.“

Beatrice nickt und sieht aus dem Fenster. In der Zeit, in der sie warten musste, sind alle Wolken vom Himmel verschwunden. Sie hat es in der Abgeschiedenheit der Wartehalle und in ihrer Aufregung gar nicht bemerkt.

Schlagartig wird ihr bewusst, dass sie sich nun auf der letzten Etappe zu ihrem Ziel befindet, die auch Paul geflogen ist. Ob es für sie im Gegensatz zu ihm von hier noch ein Zurück geben wird, liegt nun nur noch an dem Piloten vor ihr, an ihr selbst und daran, ob sie das wiederfinden wird, was sie einst mit Paul verbunden hat. Will sie danach zurück? Sie wird noch genug Zeit haben, diese Entscheidung zu treffen. Erst einmal will sie nur sehen, was sie bisher nur aus Büchern und von Fotos kennt und nach dem sie sich praktisch ihr ganzes Leben gesehnt hat, es selbst greifen zu können.

Aufgeregt rückt sie wieder näher ans Fenster der Tür, sorgsam darauf bedacht, dass sie nicht mit dem Ellenbogen an den Hebel kommt.

Das Flugzeug gewinnt an Höhe und die Stadt ist ebenso rasch unter ihnen verschwunden. Anfangs kann sie noch eine Straße erkennen, die von der Stadt in den umliegenden Urwald führt, dann verliert sich auch diese letzte Spur der Zivilisation. Zunächst fliegen sie über riesige Wasserflächen, von denen Beatrice nicht weiß, ob es sich um Seen oder um Überschwemmungsgebiete handelt. In diesem Teil des Landes existiert keine ausgeprägte Regenzeit. Regenfälle sind immer möglich und die beiden kommenden Monate Juli und August zählen zu den regenreichsten Monaten des Jahres. Dann sind die wenigen Straßen und Pisten oft nicht mehr passierbar. Bei dem Anblick der ausgedehnten Wasserflächen kann sie sich das gut vorstellen.

Noch kann sie aber nirgends das erkennen, worauf sie die gesamte Reise schon wartet: die Tafelberge. Begierig hält sie weiter Ausschau, doch sie muss sich noch eine Weile gedulden.

Der Traumapfel

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