Читать книгу Der Traumapfel - Cordula Hamann - Страница 8

Kapitel 5

Оглавление

Beatrice sitzt im Taxi auf dem Weg vom Flughafen Caracas in die Stadt. Der Flughafen liegt etwas außerhalb und direkt am Meer. Sie fühlt sich angestrengt von der Reise und besonders von der langen Schlange vor dem Einreiseschalter, den sie hinter sich bringen musste. Aber das hindert sie nicht daran, nun neugierig alle Eindrücke aufzunehmen, die sie noch in der hereinbrechenden Dämmerung durch das Fenster des Taxis wahrnehmen kann.

Es ist ungewohnt, nach ihrer Ankunft so unvermittelt mit der spanischen Sprache konfrontiert zu werden. Aber sie stellt erstaunt fest, wie angenehm vertraut sie ihr nach den vielen Jahren im Ohr klingt. Nach einigen holprigen Versuchen am Schalter der Immigrationsbehörde und bei der Suche nach einem geeigneten Taxi kommen ihr nun die spanischen Worte immer leichter über die Lippen. Sprachkenntnisse sind eben wie das Fahrradfahren. Hat man einmal gut gelernt, kommt man schnell wieder herein. So konnte sie dem Taxifahrer klar verständlich ihr Ziel nennen: das Hotel Avila und seine genaue Adresse.

Sie fahren ständig bergauf, denn Caracas liegt 960 Meter über dem Meeresspiegel. Beatrice ist sehr gespannt auf die Stadt. In den vielen Plänen damals, in dieses Land zu gehen, hat sie sich ein Bild von ihm gemacht. Was sie nun während der Fahrt an Eindrücken erhaschen kann, passt so wenig in dieses Bild wie ihre momentane Stimmung zu der Euphorie, die sie noch vor wenigen Stunden im Flugzeug empfunden hat. Schon lange vor der Stadt ziehen sich links neben der Straße kilometerlang die Slums über die Hügel. Aus Blech und Holz, aus Plastikplanen und Wellpappe zusammengebaute Behausungen. Sie schmiegen sich an die steilen Hänge der rötlichen Erde zusammen wie ein riesiges Kartenhaus, das jeden Moment in sich zusammenfallen kann oder beim nächsten stärkeren Regen einfach den Berg heruntergespült wird.

Ihr Bild von Caracas ist durchsponnen mit romantischen Verbindungen zu ihren Träumen und Zielen, die sie damals hatte. Nichts von dieser Romantik kann sie erkennen. Nur Armut, Elend und Müll, den die Bewohner der Hügel mangels anderer Entsorgungsmöglichkeiten einfach herunterwerfen und der den gesamten Bereich zwischen der Straße und den Siedlungen auf den Hügeln verunstaltet.

Als sie immer näher an die Stadt kommen, suchen Beatrices Augen dort die Atmosphäre und das Bild, das sie im Kopf trägt. Aber Caracas ist auch nur eine Hauptstadt: laut, hektisch, asphaltiert und teilweise schmutzig. Sicher, sie hat sich im Rahmen ihrer Reisevorbereitungen genau informiert. Sie weiß, dass sie hier in dieser Stadt noch keinerlei Verbindung mit ihrem Ziel finden kann. Aber sie hat gehofft, dass diese Stadt wenigstens eine Spur ihrer Erwartung und Vorfreude erfüllen würde.

Enttäuscht und desillusioniert lehnt sie sich zurück und schaut geradeaus. Vielleicht ist sie nur zu müde. Vielleicht ist es nur schon zu dunkel, um den Flair der Stadt, den sie in ihren Vorstellungen empfunden hat, aufzunehmen. Außerdem kommen sie bei ihrer Fahrt ohnehin nicht durch die Innenstadt, denn das Hotel liegt relativ am Rande der Stadt. Sie fahren die letzten kleinen Straßen entlang, die gesäumt sind von besseren Häusern, in denen reichere Leute lebten, und kommen schließlich auf dem kleinen Vorplatz des Hotels an. Der Taxifahrer öffnet die Tür und lässt sie aussteigen. Dann holt er aus dem Kofferraum ihre Reisetasche und übergibt sie dem herbeieilenden Hotelpagen. Beatrice bezahlt den Fahrer und sieht sich dann um. Ja, so stellt man sich Südamerika vor. Das Hotel ist umgeben von unzähligen blühenden Pflanzen und grünen Rasenflächen, auf denen Käfige mit Papageien und Schildkröten stehen. Ein lautes Geräusch, eine Mischung aus Pfeifen und Zirpen, das die ganze Luft durchdring, zieht ihre Aufmerksamkeit auf sich. „Was ist das für ein Geräusch? Sind das Grillen?“, fragt sie nach der Begrüßung den Hotelpagen. „Das sind Frösche, Madam“, antwortet er höflich. „Sie hören gerade ihr Konzert, das sie allabendlich nach dem Einbrechen der Dunkelheit geben.“ Sie betreten das Hotelgebäude und nach dem Einchecken an der Rezeption erreicht Beatrice erleichtert ihr zwar nicht luxuriöses, aber geräumiges und sauberes Zimmer.

Das Avila ist ein Fünf-Sterne-Hotel, das ihr die nette Frau des Reisebüros empfohlen hat. Aber in Südamerika sind fünf Sterne anders als in Europa. Es ist nicht wichtig, wo sie die eine Nacht schläft, aber ein wenig Annehmlichkeit nach der anstrengenden Reise und bei dem deutlichen Klimawechsel taten gut. Nachdem der Gepäckjunge gegangen ist, schließt sie die Tür und lässt sich auf das breite Doppelbett fallen.

Langsam kehrt ihre Zuversicht zurück. Wie konnte sie nur so dumm sein und in ihrem Kopf nur das Träumerische ihrer Reise suchen und nicht auch die Realität, die sie eigentlich kennen müsste. Sie sieht auf ihre Armbanduhr. Es ist halb sieben. Sie hat noch ein wenig Zeit bis zum Abendessen. Es ist ihr viel später vorgekommen. Die frühere Dunkelheit in diesem Land ist etwas, das ihr nicht gefällt. Sie liebt die Abende zu Hause, an denen man nach dem Abendessen noch spazieren gehen kann oder im Sommer im Garten beisammen sitzt, bis es an den längsten Tagen oft erst gegen zehn Uhr abends so richtig dunkel wird. Es sind die friedvollsten Stunden.

Hätte sie sich damals als junge Frau schneller mit der kurzen Dämmerung und der rasch hereinbrechenden Dunkelheit anfreunden können? Sie steht auf und geht ins Badezimmer, zieht sich aus und stellt sich unter die Dusche. Das wird ihre Lebensgeister endgültig wieder wecken.

Während die wohltuenden warmen Wasserstrahlen auf ihren Körper treffen, kehren ihre Gedanken wieder zu der Zeit als junge Frau zurück. Sie fragt sich, warum sie damals mit Paul unbedingt nach Venezuela wollte. Warum hat sie überhaupt Lateinamerikanistik studiert? Das Buch ihrer Kindheit hat mit Sicherheit den Ausschlag gegeben. Aber warum hielt sie an diesen Plänen auch als Erwachsene fest? Sie musste schließlich acht Jahre warten, bis sie ihr Studium beginnen konnte. Ist es der Wunsch gewesen, dem Elternhaus zu entfliehen? Das hätte sie auch mit einem anderen Studienfach erreichen können. Sie hat sich fest vorgenommen, auf dieser Reise ehrlich zu sein und ganz besonders zu sich selbst. Für Verdrängungen und Beschönigungen hat sie keine Zeit mehr. Und deshalb muss sie zugeben, dass sie eher inhaltlich als räumlich dem Leben ihres Heimatortes entfliehen wollte. Hat sie sich auch gerade deshalb Paul als Partner ausgesucht? Hat die Beziehung zu ihm ihr eine Art Erfolgsgarantie geben können, die sie allein als Frau nicht erhalten hätte?

Er ist besessen gewesen von dem Leben der Pemón. Und dieses indigene Volk lebt nun einmal in dem Land, das sie seit ihrer Kindheit gefangen hält: Die Inseln in der Zeit, wie die Wissenschaftler sie getauft haben, die Heimat der Götter, wie sie die Pemón nennen. Sind ihr die Menschen, die in diesem Land leben, wirklich so wichtig wie sie Paul gewesen sind? Oder reizt sie vielmehr nur die Landschaft, die Natur, das Unerforschte?

Sie denkt an die vielen Gespräche mit Paul, bei denen er von den Pemón erzählt hat. Von ihrer Kultur, ihrem Glauben, ihren Lebensweisen. Sie verliert sich in der Erinnerung an Pauls übereifrigen Erzählungen, seinem Gesicht, seiner Begeisterung. Nein, sie will ehrlich sein! Beatrice zwingt sich, sich an ihre Gefühle während seiner Erzählungen zu erinnern. Es wäre ihr egal gewesen, wovon Paul berichtete, ob von den Eskimos oder den Tibetanern, wenn sie nur bei ihm war, neben ihm, sich an ihn kuschelnd, um die Träume, die er von einer besseren Welt hatte, zu teilen. Die Pemón interessieren sie nicht wirklich. Nur das Land. Das schon. Begierig hat sie alle Hinweise aus Pauls Erzählungen über die Umgebung und den Zauber der Tafelberge in sich aufgesaugt. Ihr Wunsch, diesen Zauber selbst zu erleben und dabei mit dem Menschen zusammen zu sein, den sie über alles liebte, hätte sie wahrscheinlich auch für das Leben der Würmer begeistert, wenn diese nur dort vorkämen.

Schluss jetzt! Beatrice dreht abrupt den Wasserhahn zu. Für heute hat sie ihr Pensum von Ehrlichkeit erfüllt! Und sie hat sich schließlich genauso vorgenommen, die Realität der Gegenwart bewusst in sich aufzunehmen. Und diese Realität ist jetzt Caracas, das Hotel und ein hoffentlich gutes Abendessen.

Abendessen. Das gibt es jetzt auch zu Hause bei den Kindern. Wie sie wohl ihr Verschwinden aufgenommen haben? Was haben sie zu dem Brief gesagt? Sind sie sehr enttäuscht? Wenn sie sich Ellen vorstellt, war sie wohl eher ängstlich. Ellen hat immer dafür gesorgt, dass es ihr an nichts fehlte und sie hat das Empfinden, dass Ellen mehr Angst als sie selbst hat, dass sie, Beatrice, eines Tages sterben musste. Vielleicht will Ellen nicht allein sein? Vielleicht meint sie, Beatrice zu brauchen? Aber sie hat doch Steven und die Kinder. Die armen Kinder. Die werden es bestimmt nicht verstehen, warum Oma einfach weggegangen ist, ohne sich von ihnen zu verabschieden, besonders Simon nicht.

Während sie sich abtrocknet, sich frische Kleidung aus ihrer Tasche nimmt und sie anzieht, denkt sie beruhigt an den langen Brief, der am Freitag der Familie wenigstens ein bisschen erklären wird, dass ihre Reise nichts mit ihnen zu tun hat. Sie wirft einen letzten Blick in den Spiegel und ist zufrieden. Man sieht ihr die Anstrengungen des Tages nicht mehr an. Zügigen Schrittes verlässt sie ihr Zimmer und geht in das Hotelrestaurant.

Der Traumapfel

Подняться наверх