Читать книгу Der Traumapfel - Cordula Hamann - Страница 6

Kapitel 3

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Es ist doch hektisch geworden beim Umsteigen auf dem Flughafen New York. Aber nun sitzt sie im Flugzeug auf direkten Weg nach Caracas. Die Wolken sind so dicht, dass man bereits wenige Minuten nach dem Start von der Stadt nichts mehr sieht. Es ist ihr egal, denn sie hat keinen besonderen Bezug zu New York. Einmal war sie mit Tom Anfang Dezember zu den berühmten Weihnachtseinkäufen dort. Wie fast alle in- und ausländischen Touristen hat sie New York als Großstadt begeistert. Aber sie hätte niemals hier leben wollen. Sie hätte in keiner Großstadt jemals leben wollen. Vielleicht, weil sie auf dem Lande aufgewachsen ist? Weil sie Weite und Raum benötigt? Die Straßen New Yorks sind hierfür viel zu eng.

Zuhause bei ihren Eltern war es anders. Sie lebten am Rande der kleinen Stadt Fayetteville, die über ein Minimum an kulturellen und sonstigen Einrichtungen verfügte. Jedenfalls genug, damit ein Kind sich geborgen und behütet fühlt und trotzdem eine Brise der Welt schnuppern kann. Es gab eine erstaunlich gut bestückte Bibliothek, eine Grundschule und – das führte zum ständigen Wachsen der Stadt – die einzige Oberschule für Mädchen im Umkreis von 300 Kilometern. Jungengymnasien gab es mehrere in den umliegenden Städten. Aber die Gemeinden hatten sich noch nicht aufraffen können, die Mädchen der fortschrittlicheren Eltern dort ebenfalls zur Schule gehen zu lassen.

Die Menschen ihrer Stadt verdienten ihren Unterhalt mit der umliegenden Landwirtschaft und immer häufiger als Inhaber kleiner Geschäfte, Betreiber von Restaurants und Bars, Tankstellen und Pensionen. Ja, Fayetteville war ein wachsendes Städtchen und die in der Umgebung möglichen Freizeitaktivitäten und die Landschaft förderten einen ebenso zaghaften wie aufsteigenden Tourismus.

Im Laufe der Jahre ist Fayetteville nun zur viertgrößten Stadt in North Carolina herangewachsen mit über 100.000 Einwohnern, aber davon war in Beatrices Kindheit noch wenig zu spüren gewesen. Zur Unterhaltung der Touristen aus den Großstädten, die sich im Sommer hier erholten, eröffnete man auch ein weiteres Kino. Der Kirchenchor wurde mit einem Orchester ergänzt, während die Schulen durch Theateraufführungen zum kulturellen Niveau der Stadt beigetrugen.

In solch einer Theatergruppe erlebte Beatrice die ersten Berührungen mit der Weltliteratur und im Gegensatz zu vielen ihrer Freundinnen fand sie daran Gefallen. Diese Gedanken gingen weit über das hinaus, was ihre Eltern und Geschwister zu Hause berührten und sich ihre Freundinnen nach Schulschluss erzählten. Ihre Neugier auf alles, das sich außerhalb ihrer kleinen Stadt abspielte, war außergewöhnlich und konnte nur durch ihre regelmäßigen Besuche in der Bibliothek gestillt werden. Sie war Stammgast dort; entgegen allen Lästerungen ihrer Freundinnen und Vorwürfen ihrer Familie, sie ginge versponnen irgendwelchen Träumen nach, anstatt sich auf ein ordentliches Leben vorzubereiten.

Einmal drohte ihr Vater sogar damit, sie aus dem Gymnasium zu nehmen und sie in eine Lehre zu stecken, damit sie auf den Boden der Tatsachen zurückkehren würde. Dies war die Zeit, in der Beatrice nur noch heimlich in ihrem Zimmer las und darauf vertraute, dass die Bibliothekarin, eine nette jüngere Frau, sie nicht verriet.

Und es war die Zeit, in der ihr das Buch in die Hände fiel, ganz neu noch, und von einem jungen Biologen geschrieben, über ein Land im Süden des Kontinents. Über eine „Urwelt“, die dort abgeschieden von der übrigen Erdentwicklung seit Jahrmillionen erhalten geblieben sein soll. Weiße Flecken auf der Landkarte, unerforscht, unerreichbar und kaum jemals betreten: Die Tafelberge der Gran Sabana in Venezuela, an deren Fuß nur wenige indianische Menschen lebten.

Dieses Buch ließ sie nie wieder los und eines Tages, nachdem sie es zum elften Male aus der Bibliothek ausgeliehen hat, schenkte es ihr die nette Bibliothekarin. Sie trug das Buch in ihrer Registratur als „von unbekannter Hand nicht wiederherstellbar beschädigt“ ein und forderte ein neues an.

Beatrice drückt sich gemütlich in ihren Sitz. Das Flugzeug ist voll, aber nicht so, dass nicht einige Sitze frei geblieben sind; neben ihr sind sogar beide Plätze unbesetzt. Soweit sie es überblicken kann, ist sie die Einzige, die dieses Glück hat. Oder verdankte sie es der netten Angestellten des Reisebüros? Beatrice hat einen Kurierdienst beauftragt, dieser Mitarbeiterin übermorgen einen kurzen Dankesbrief zusammen mit einem 100 Dollar-Schein zuzustellen, denn das Reisebüro hat alles für sie organisiert. Beinahe wäre dabei der Zeitplan geplatzt, den sie sich ausgedacht hat. Die Flüge nach Caracas und der Weiterflug nach Ciudad Bolívar waren nicht das Problem. Aber von Ciudad Bolívar gelangt man nur noch mit kleinen sogenannten Buschflugzeugen weiter ins Landesinnere. Die Piloten fliegen stets mit drei bis maximal fünf Touristen. Leider lag für morgen keine weitere Anmeldung vor und der Pilot wollte mit nur einem Passagier nicht fliegen. Die nette Frau vom Reisebüro war erfahren genug zu erkennen, dass Beatrice zwar nicht wohlhabend aber finanziell gut gesichert ist, und bot kurzerhand dem Piloten über die Reiseagentur in Puerto La Cruz den dreifachen Preis. Sie erhielt die Zusage. So kann Beatrice nun sicher sein, dass sie an ihrem Geburtstag da sein wird, wo sie sein will.

Die Stewardess schreitet langsam den Gang entlang und bietet den Passagieren Gläser mit Orangensaft und Mineralwasser zur Erfrischung an. Beatrice nimmt dankend ein Glas Orangensaft, greift in die Jacke ihres Blazers und holt die Pillendose heraus. Die Tabletten sind klein und rund und es bereitet ihr keine Probleme, sie zu schlucken. Sie lehnt sich zurück und schließt die Augen. Jetzt, da sie in diesem Flugzeug sitzt, das sie direkt nach Caracas bringen wird, weichen alle Zweifel und Unruhe von ihr ab. Obwohl sie weiß, dass das weitaus Schwierigere noch vor ihr liegt, fühlt sie eine tiefe Zufriedenheit. Etwas wehmütig denkt sie daran, dass alles leichter sein würde, hätte sie früher diese Reise unternommen. Dann wäre sie noch nicht herzkrank gewesen und jung genug, um einen Teil ihrer Träume zu verwirklichen. Über 40 Jahre lang schob sie alles, aber auch alles, was mit ihrem Leben vor Tom zu tun hat, rigoros beiseite. Sie verbot sich, irgendwelche Nachrichten und Berichte über Venezuela zu lesen oder nur anzuschauen. Lange 40 Jahre lang, bis sie der Arzt an ihrem Krankenbett aus dieser Lethargie herausgerissen und sie damit daran erinnert hat, dass der Mensch sterblich ist.

„Sehr geehrte Reisende, wir fliegen auf ein Gebiet mit einigen kleinen Turbulenzen zu. Wir bitten Sie, sich zu Ihrer eigenen Sicherheit anzuschnallen und das Rauchen einzustellen. Wir danken für Ihr Verständnis.“ Die Durchsage reißt Beatrice aus ihren Gedanken. Sie vergewissert sich, dass sie noch immer angeschnallt ist und wartet die folgende Ansage in spanischer Sprache ab, bevor sie wieder ihre Augen schließt. Sie versucht, die Gedanken dort aufzunehmen, wo sie soeben unsanft unterbrochen wurden. Aber es gelingt ihr nicht. Sie ist schläfrig geworden und kann die Gedanken nicht mehr ordnen. Sie kreisen um das „Warum nicht früher?“ wie Wellen, die aus der Oberfläche des Meeresspiegels sich langsam aufbauen. Und wenn sie ihre größte Höhe erreicht haben, an der man meint, sie fassen zu können, verlieren sie ihre Form und lösen sich in den sie umspülenden Wassermassen auf. Als wollten sie damit die Erinnerung an sie auszulöschen. Was Beatrice empfindet, bevor sie endgültig einschläft, ist das angenehme Gefühl der Gewohnheit und Sicherheit, das sich während der Ehe mit Tom ihrer ebenso bemächtigte wie jetzt der Schlaf.

Das Essen war nicht schlecht, jedenfalls für die Angebote in einem Flugzeug. Jetzt läuft über den Köpfen der Passagiere der obligatorische Spielfilm auf den kleinen, ausschwenkbaren Monitoren. Sie hat sich keine Kopfhörer geben lassen. Viel lieber will sie die wirren Gedanken ihres Schlafes, der eher einem Halbschlaf geglichen hat, wieder aufnehmen.

Warum habe ich ihn sterben lassen? Weshalb habe ich ihn nicht verlassen oder, einfacher noch: Ich hätte fahren können. Und als er tot war, warum habe ich nicht dann die Reise begonnen? Nein, sie kann sich nicht verzeihen, was sie getan hat und sie kann es auch nicht verstehen. Ist sie ein schlechter Mensch? Egoistisch darauf bedacht, die eigenen Lebensträume über das Leben eines Menschen zu stellen? Auch, um das herauszufinden, hat sie sich aufgemacht, in dieses Flugzeug zu steigen. Es ist ihre letzte Chance, sich selbst zu begreifen, wenn sie sich schon niemals verzeihen kann.

Der Traumapfel

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