Читать книгу Der Traumapfel - Cordula Hamann - Страница 7

Kapitel 4

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Nachdem Ellen die Auffahrt zu ihrem Haus hochgefahren ist und der Wagen stillsteht, hopst Sandra so schnell es geht aus dem Auto, nimmt ihren Teddy und den Rucksack und stampfte auf das Haus zu. Ellen und Simon bringen die Tüten in die Küche und achten wenig darauf, dass Sandra gleich in ihrem Zimmer verschwindet.

Dort setzt Sandra den Teddy auf das Kopfkissen, wo er immer sitzt, damit er alles sehen kann. Sie nimmt den Apfel aus dem Rucksack und legt ihn auf ihren kleinen Schreibtisch, den sie erst nach langem Drängen bekommen hat. Weil sie noch nicht wie ihr großer Bruder in die Schule gehen darf. Sie setzt sich und verschränkt die Arme auf der Schreibtischplatte. Den Kopf legt sie so, dass sie den Apfel anschauen kann. Er wird Oma gefallen. Hoffentlich sind alle Träume noch drinnen. Er hat keine angeschlagenen Stellen. Die Träume müssen eigentlich noch alle darin sein. Sie lächelt bei der Erinnerung an den Nachmittag, an dem Simon aus der Schule gekommen ist und Oma die Geschichte aus dem Religionsunterricht erzählt hat. Die Geschichte von Adam und Eva im Paradies. Und dass Gott gesagt habe, wenn sie von dem Apfel äßen, würden sie wissen, dass sie nackt sind und sie müssten dann aus dem Paradies heraus. Simon hat das mit dem Apfel nicht verstanden. Die Oma hat ein wenig herumgedruckst, Simon lange angeschaut und dann erklärt: „Weißt du, das ist so: Gott hat in den Äpfeln des Baumes der Erkenntnis die Träume der Menschen eingeschlossen, und wenn ein Mensch davon abbeißt, erweckt er die Träume zum Leben. Sie begleiten ihn und er muss deshalb aus dem Paradies, weil der Platz dort viel zu klein ist, um alle Träume zu leben. So viele Träume sind in einem Apfel.“

Simon hat zwar anfangs zugehört, aber dann ist er ungeduldig geworden, weil seine Lieblingssendung im Fernsehen angefangen hat.

Nur sie hat ehrfürchtig ihrer Oma gelauscht. Sie ist so ganz anders als die Omas ihrer Freundinnen. Sie weiß alles und ist nie genervt, wie Mama es manchmal ist, und sie hat immer Funken in den Augen. Aber Oma hat sie wohl gar nicht wahrgenommen und beim Verlassen der Küche leise gemurmelt: „Anstatt Tom zu heiraten, hätte ich mal auch besser in den Apfel gebissen. So bleiben meine Träume ungeträumt.“

Sandra hat versucht, mit Simon über die Apfelgeschichte zu sprechen, aber er hat gar nicht richtig zugehört. Er versteht oft gar nichts, obwohl er doch schon so viele Jahre älter ist. Manchmal findet sich Sandra viel erwachsener als ihn und es macht sie traurig, dass Oma offenbar immer lieber mit Simon zusammen ist als mit ihr.

Einmal hat sie Mama gefragt, weshalb Oma sie nicht so lieb hat wie Simon. Aber Mama hat ihr erklärt, das stimme nicht und ihr Eindruck läge bestimmt nur daran, dass sie einfach noch ein wenig zu klein sei, um sich über wichtige Sachen zu unterhalten. Sandra findet das gar nicht. Und wenn sie der Oma den Apfel zum Geburtstag schenkt, wird sich alles ändern. Sie wird Oma ihre Träume wiederbringen und dann wird sich Oma viel besser mit ihr unterhalten können als mit Simon.

Nachdem Ellen alle Einkäufe in den Schränken und im Kühlschrank verstaut hat, setzt sie den Wasserkessel auf den Herd und ruft nach oben: „Beatrice, wir sind zurück. Möchtest du auch einen Kaffee?“ Es kommt keine Antwort. Sie ruft noch einmal: „Beatrice, bist du da?“ Aber scheinbar ist sie noch zu einer Bekannten gegangen.

Ellen nimmt ihre Kaffeetasse und geht ins Wohnzimmer. Sie setzt sich auf den Sessel, lehnt sich zurück und legt die Füße auf den Tisch. Simon hat gleich nach dem Einkaufen gefragt, ob er zu Pit, seinem besten Freund, gehen darf und Sandra ist noch immer oben in ihrem Zimmer. Sie ist gerne einmal allein. Im Gegensatz zu ihrem Bruder, der ständig jemanden um sich herum braucht und fast mehr bei seinen Freunden ist als zu Hause. Oder er bringt eine Horde von fünf, sechs Jungs hierher.

Ellen ist froh, dass das Chaos heute woanders stattfindet und sie ihre Ruhe hat. Sie würde sich jetzt nur gerne ein wenig mit Beatrice unterhalten. Ungewöhnlich, dass ihre Schwiegermutter keinen Zettel in der Küche hinterlassen hat. Normalerweise tut sie dies, wenn sie das Haus verlässt. Vielleicht wollte sie schneller als gedacht wieder zu Hause sein und kommt schon bald.

Ellen weiß auch nicht genau, weshalb sie sich so gerne mit Beatrice unterhält, denn eigentlich sagt ihre Schwiegermutter nicht viel bei diesen Gesprächen. Aber trotzdem strömt sie eine solche Ruhe und Gelassenheit aus, dass allein ihre Anwesenheit Sicherheit und Geborgenheit gibt. Es ist wohltuend zu wissen, dass noch jemand da ist, der notfalls hilfreich eingreifen kann, wenn man sich selbst überfordert fühlt. Für Beatrice scheint es derartige Probleme nie gegeben zu haben. Sie denkt und lebt gradlinig, und selbst den plötzlichen Tod ihres Mannes hat sie gut verkraftet.

Ellen hatte zunächst Angst, wie es wohl sein würde, Beatrice den ganzen Tag um sich zu haben. Als Steven den Vorschlag machte, seine Mutter nach dem plötzlichen Tod des Vaters bei sich aufzunehmen, hat sie trotzdem alle Bedenken heruntergeschluckt und zugestimmt. In der ersten Zeit war Beatrice oft allein in ihrem Zimmer geblieben. Aber so langsam sind es vor allen Dingen die Kinder gewesen, die sie zu einem normalen Leben zurückführten. Ellen war erstaunt, wie unheimlich warmherzig Beatrice sein konnte, ohne sich jemals in persönliche Dinge wie Kindererziehung oder ihre Ehe mit Steven einzumischen. Sie kennt keinen anderen Menschen, der so viel Nähe und gleichzeitig Distanz ausströmt. Alle ihre Freundinnen, die sie davor gewarnt haben, sich nur nicht zu sehr mit ihrer Schwiegermutter anzufreunden, weil sie sich dann überall einmischen würde, haben sich geirrt. Wenn Beatrice gefragt wird, sagt sie offen und unverblümt ihre Meinung, auch gegenüber den Kindern. Aber niemals ist auch nur eine Spur von Vorwurf in ihren Worten, wenn Ellen oder Steven eine andere Meinung vertreten. Ein Außenstehender könnte denken, sie sei eine freiwillig ausgewählte, mütterliche Freundin.

Und weil sich Beatrice im Laufe der vier Jahre, die sie jetzt bei ihnen lebt, einen netten Bekanntenkreis aufgebaut hat, müssen sich weder Steven noch Ellen ständig um sie kümmern. Es blieben genug Freiräume für sie selbst. Ja, Ellen liebte ihre Schwiegermutter und würde ihr am Freitag eine schöne Feier ausrichten, um es ihr auch zu zeigen.

Das Telefon klingelt. Aus ihren Gedanken gerissen, hebt Ellen den Hörer ab. Es ist Mrs. Stevensen, eine Bekannte Beatrices. Ellen notiert sich die Nummer und verspricht, Beatrice um Rückruf zu bitten, sobald sie eintrifft. Da sie nun ohnehin in ihrer Pause gestört ist, geht sie in die Küche und beginnt mit den Vorbereitungen für das Essen. Auf dem Weg nach oben ruft sie Sandra, ob sie ihr helfen will.

Inzwischen ist es bereits fünf Uhr. Steven wird gleich nach Hause kommen. Das Essen ist so weit fertig, dass sie nur noch den Tisch decken muss. Simon hat angerufen und gefragt, ob er bei Pit schlafen darf. Sie hat Schlafanzug, Zahnbürste und seinen Schlafsack bereits zu den Thorntons gebracht, die nur drei Häuser weiter wohnen. Inzwischen geht ihr die Frage, warum Beatrice nicht nach Hause kommt, immer weniger aus dem Kopf. Immerhin wird sie 70 Jahre alt und womöglich ist etwas passiert. Sie beschließt, einige Bekannte Beatrices anzurufen. Aber keine weiß etwas von ihrem Verbleib. Als Ellen die beste Freundin von Beatrice am Telefon erreicht, macht diese eine Bemerkung, die Ellen mehr als merkwürdig vorkommt: „Beatrice hier? Nein, ich dachte, sie sei verreist. Sie wollte doch zu ihrem Geburtstag diese große Reise machen?“

Ellen reagiert verständnislos: „Welche Reise? Was hat sie Ihnen denn erzählt?“

„Eigentlich nicht viel. Sie hat sich nur gestern bei mir verabschiedet und meinte, sie würde wegfahren. Ich dachte zuerst, dass sie vielleicht nur einem großen Trara an ihrem Geburtstag entgehen wollte. Aber so, wie sie geklungen hat, schien es mir nicht nur ein Kurztrip zu sein.“

Ellen bedankt sich für die Auskunft und legt fassungslos den Telefonhörer auf. Weshalb hat sich Beatrice von ihrer besten Freundin verabschiedet, die zu ihrem Geburtstag einer ihrer Hauptgäste sein sollte? Welche Reise will Beatrice machen? Sie hat kein Sterbenswörtchen davon gesagt. Ellen hört Stevens Auto vor dem Haus vorfahren und geht zur Eingangstür.

Steven nimmt seine Aktentasche vom Beifahrersitz, schließt die Autotür und geht auf Ellen zu. Er bemerkt sofort an ihrem Gesichtsausdruck, dass irgendetwas nicht stimmt, als es bereits ohne weitere Begrüßung aus ihr heraussprudelt: „Steven, Beatrice ist nicht da!“

„Ja, und? Weshalb ist das so schlimm?“, fragt er amüsiert. Ellen erzählt ihm von ihren Anrufen und dass kein Zettel in der Küche gewesen ist und vor allen Dingen berichtet sie ihm, was Mrs. Crouwn gesagt hat. Es klingt tatsächlich alles etwas merkwürdig.

„Hast du denn einmal in ihrem Zimmer nachgesehen?“

„Nein, daran habe ich nicht gedacht“, antwortet Ellen und er muss zugeben, dass er auch nie auf die Idee kommen würde, in Mutters Zimmer zu gehen, wenn diese nicht da war.

„Liebling, sei so nett und kümmere dich schon ums Essen. Heute Mittag hatte ich keine Zeit und bis jetzt war die große Besprechung mit der North-West-Corporation, von der ich dir erzählt habe. Und ich gehe unterdessen einmal nach oben und sehe nach.“

Er legt Tasche und Autoschlüssel an der Garderobe ab und steigt die Treppe hinauf. Im ersten Stockwerk kommt ihm Sandra entgegen.

„Hallo mein Spatz, wie geht es dir?“

„Guck mal, Papa“, Sandra zieht ihren Vater energisch in ihr Zimmer. Voller Stolz zeigt sie auf den Apfel auf ihrem Schreibtisch. „Guck mal, was ich Oma zum Geburtstag gekauft habe.“ Sie sieht ihren Vater erwartungsvoll an. Er ist schon an einige, für einen Erwachsenen kaum verständliche Ideen seiner Tochter gewöhnt und zeigt deshalb die gebotene Begeisterung. „Tolles Geschenk, Sandra. Er ist so schön rot und rund. Und nun geh schnell nach unten und hilf Mama, ja? Ich komme auch gleich. Ich habe nämlich einen Bärenhunger, weißt du. Sonst muss ich noch vor lauter Hunger diesen Apfel da essen.“

„Nein!“ schreit Sandra entsetzt. Aber dann erkennt sie, dass ihr Vater nur Spaß macht und lacht.

Er klopft vorsorglich an und wartet einige Sekunden, bevor er Beatrices Tür öffnete und hinein geht. Schon lange war er nicht mehr in diesem Zimmer; das letzte Mal, als Beatrice vor einigen Monaten eine Grippe hatte, im Bett lag und der Arzt dann im Anschluss ihre Herzkrankheit feststellte. Der Gedanke an diese Diagnose lässt in ihm ein beunruhigendes Gefühl hochsteigen. Aber er ist es gewohnt, Emotionen durch seinen Verstand in ihre Schranken zu verweisen. Also sieht er sich auch jetzt zunächst prüfend im Zimmer um, ob irgendetwas Besonderes auffällt. Aber der Raum sieht genau so aus, wie einer, deren Bewohner gleich wiederkommt. Es ist aufgeräumt. Auf dem Bett liegt ihr Schlafanzug. Der Morgenrock hängt am Schrank. Ein Buch liegt umgekehrt aufgeschlagen auf dem Nachtisch. Er kann nichts entdecken, was nicht gewöhnlich hierher passt. Die Vorhänge sind halb zugezogen, wahrscheinlich, um tagsüber nicht zu viel Sonne ins Zimmer zu lassen. Er tritt zum Fenster und zieht sie auf. Sein Blick geht in den Garten, den Ellen trotz der tobenden Kinder wunderschön gepflegt aussehen lässt. Im Gegensatz zu vielen der Nachbarhäuser gibt der Garten den Blick frei auf die hüglige Landschaft der Umgebung der Stadt. Sanft, grün und friedlich ziehen sich diese Hügel bis zum Horizont. Nicht zu hoch, um den Blick nicht zu beengen, aber hoch genug, um Platz zu lassen für Dinge, die zwischen den Hügeln sein könnten, nicht sichtbar, aber dennoch existent und genauso eingetaucht wie dieses Haus in das Blaugrün von Himmel und Erde, in das sich je nach Tages- und Jahreszeit die unzähligen Farben der Sonne und der Wolken mischen. Er ist stolz, dass er damals, als seine Mutter zu ihnen kam, mit Ellen in den Keller gezogen ist und sie sich dort ihr Schlafzimmer ausgebaut und dieses Zimmer seiner Mutter überlassen haben. Beatrice hat diesen Ausblick verdient. Er passt irgendwie zum Lebensabend eines Menschen. So muss es sein. Sein Vater hätte es auch richtig gefunden. Sein armer Vater. Es ist zu früh, dass er gegangen ist. Und Mutter ohne ihn scheint ihm ein wenig verloren. Vater und er waren doch der ganze Inhalt ihres Lebens. Vater hatte ihm erzählt, dass sie als junge Frau sehr verträumt gewesen sei. Sie hatte ihn als feste Stütze in ihrem Leben gebraucht. Wer wusste schon, was ohne Vater aus ihr geworden wäre. Nun ja, es hilft nichts, darüber zu grübeln. So ist das Leben und Steven findet, insgesamt hat es das Leben ganz gut mit ihnen allen gemeint. Sein Vater ist tot und nun ist es sein Part, sich um Mutter zu kümmern und er würde dies auch weiterhin tun, wie es sich gehört. Sie hat ihren Platz jetzt hier bei Ellen und ihm.

Er reißt sich von dem Ausblick und von seinen Gedanken los und drehe sich um, um das Zimmer zu verlassen. An der Rückseite der Tür fällt ihm sofort der Brief auf. Befestigt mit Tesafilm und mit der Aufschrift „für Steven und Ellen“. Das ungute Gefühl, das ihn beim Betreten des Zimmers überfallen hat, kommt so stark wieder, dass es ihm dieses Mal nicht gelingt, es mit einigen wenigen Gedanken wieder verschwinden zu lassen. Was soll das? Wenn es ein Zettel sein würde, kein Problem. Aber ein geschlossener Brief, der so angebracht ist, ihn erst beim Hinausgehen zu entdecken? Er löst den Brief von der Tür. Instinktiv geht er zum Bett, öffnet beim Gehen mit den Fingern den Umschlag und faltet den inliegenden Bogen auseinander. Während er schon die ersten Zeilen liest, setzt er sich auf Beatrice Bett. Der Brief ist nicht lang, nur eine halbe Seite, mit Mutters sauberer Handschrift geschrieben:

Lieber Steven, liebe Ellen,

Ihr wundert Euch bestimmt, dass ich heute nicht da bin. Ich hoffe, du Ellen, hast noch nicht zu viel für meinen Geburtstag eingekauft. Denn ich werde dieses Mal meinen Geburtstag woanders feiern. Ihre werdet sicher enttäuscht sein, aber Ihr müsst verstehen, dass dieses, was ich jetzt tue, sehr wichtig für mich ist, ungeheuer wichtig! Und deshalb musste ich gehen. Aber ich danke Euch für die vier Jahre, die ich seit Vaters Tod bei euch leben durfte. Ihr habt alles getan, damit ich mich wohlfühle. Aber es ist trotzdem nicht mein Zuhause, es ist eures. Und davor war es Vaters Zuhause. Es liegt jetzt schon fast 40 Jahre zurück, dass ich mein eigenes Zuhause hatte und deshalb möchte ich an meinem Geburtstag dorthin zurück. Und nicht nur an meinem Geburtstag, sondern wahrscheinlich für den Rest meines Lebens.

Ich erwarte nicht, dass ihr das versteht. Deshalb wird euch in drei Tagen ein weiterer Brief zugehen, in dem ich alles erklären werde, soweit man es überhaupt erklären kann. Grüßt Simon und Sandra bitte von mir. Simon soll an die Geschichte von dem Apfel im Paradies denken, die ich ihm erzählt habe. Sagt ihm, Oma hätte in den Apfel gebissen. Dann wird er verstehen. Eure Beatrice

Der Traumapfel

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