Читать книгу Die Wölfe von Pripyat - Cordula Simon - Страница 10

6Ein Märchen

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Im Jahr 1 vor dem Konsul

Sandor Karol betrat den Ätherturm. Er wusste, dass er zu spät war, das passierte ihm sonst nicht. Er mochte es auch nicht, wenn andere zu spät waren. Seine Aufzeichnung begann erst in einer halben Stunde, aber seit er Kata kannte, hatte er keine ihrer Aufnahmen verpasst. Er wusste, dass er sie zu Hause nicht nachhören würde. »Niemand mag es, die eigene Stimme zu hören«, hatte sie gesagt, als er einmal eine ihrer Aufnahmen eingeschaltet hatte, und sie hatte diese, noch bevor sie den Raum betrat, per Fernbedienung ausgeschaltet, sich zu ihm auf das Sofa gekuschelt, einmal kurz den Kopf geschüttelt und seither hatte er es bleiben lassen. Sie hatte dabei diesen ewiggütigen Gesichtsausdruck gehabt, den sie nicht nur vor der Kamera, sondern durchs ganze Leben trug. Zugleich sprach sie mit kräftiger Stimme. Als Tante Brause war sie wie ein sanfter Engel, nicht wie einer mit Flügeln, eher wie der Cocktail: süß und herb zugleich. Seine Hand juckte ein wenig. Die winzige Wunde, die die Implantierung des Stents hinterlassen hatte, heilte. Er hätte nicht gedacht, dass es so lange dauern würde, den Log einzurichten und die Berechtigungen zu prüfen. Wer geht schon davon aus, dass es Tage dauern könnte, wenn der Log das Handbuch vorliest: »Wir sind für Sie da in every language und stehen Ihnen mit Rat und Tat zur Seite.« Berechtigung, in den Hormonhaushalt einzugreifen. Berechtigung, in die sensorische Wahrnehmung einzugreifen. Setzen Sie ein Zeichen für die Natur. Er wollte nicht einfach »Alle erteilen« sagen, er musste doch wissen, was er erlaubte. Immerhin hatte man die Albträume nach dem Implantieren eliminiert. Alles war unter Kontrolle: die Träume, die Launen, Lyrie und Kata und die Kontoeinstellungen.

Den Teil, in dem Kata Morphologie erklärte, hatte er bereits verpasst. Er kannte das Märchen, das sie heute las. Sie hatte es ihm gegeben und ihn um seine Meinung gebeten, wie sie es mit all ihren Märchen tat. Als Tante Brause hatte sie einen fixen Sendeplatz. Oft sagte er: Ist das nicht zu brutal für Kinder? Aber sie schüttelte den Kopf. Kinder wollten brutal. Gewalt war in Ordnung, wenn sie unblutig war. Sex durfte nicht vorkommen. Brutal brachte Kinder in Verzückung. »Ein Libellenfürst«, hörte er sie sagen. »Da kam ein Bär des Weges und kannte den Libellenfürsten nicht, obwohl er an den Ufern des unendlichen Ozeans eine Berühmtheit war, denn er sang so schön. Kam der Bär und sah ihn mit schillernden Flügeln flattern, zu schnell und zu hektisch für einen so großen, behäbigen Bären. So tanzte ihm der Libellenfürst über dem Kopf und der Bär richtete sich auf, schwang seine Pfoten, schnappte nach ihm, auch wenn der Fürst rief: ›Tu es nicht, Bär, du wirst es bereuen!‹ Doch der Bär schnappte und taumelte auf zwei Beinen, wankte und tänzelte, bis er den Libellenfürsten verschluckt hatte. Da tönte in des Bären Kopf ein Gesang, der Gesang des Libellenfürsten, und in seinem Magen spürte er das Flattern der schillernden Flügel wie Sägeblätter. Er hielt sich den Bauch und krümmte sich vor Schmerz. Tränen kullerten aus seinen großen, schwarzen Augen, die im kühlen Sonnenlicht des Nordens schimmerten, und so lauschte er, lauschte dem Gesang, und dieser versprach ihm, dass er nicht sterben müsste, im Gegenteil, denn für Libellenherrscher galt, kamen sie in eine gar zu missliche Lage, dass sie Zauberkräfte entfalteten, und er würde dem Bären drei Wünsche erfüllen.« Ihre Stimme verbreitete schon nach wenigen Sätzen eine hypnotische Wirkung, die in den Äther gesprochen den Eltern der Union die Möglichkeit gab, sich eine Pause von ihren Kindern zu gönnen, sich von der lieben, strengen Tante auf dem Schirm vorlesen zu lassen, die Kinder ins Bett zu schicken. Wenn Tante Brause sagte, es sei nun Schlafenszeit, dann war Schlafenszeit.

Sandors Hand vibrierte und er versuchte, das Zittern zu ignorieren, wollte immerhin dem Rest der Geschichte lauschen, wie Kata sie erdacht hatte, doch der Log schien darauf zu bestehen, dass er die Information sofort überprüfte. »›Jedoch, höre Bär‹«, sagte sie: »›Nur unter einer Bedingung wirst du frei von mir sein.‹« Das Vibrieren hörte nicht auf. »›Nur wenn deine Wünsche anderen helfen, dir jedoch in keiner Weise von Nutzen sind, sind wir frei voneinander.‹ So richtete sich der Bär auf, saß und blickte ins Meer hinaus, hielt sich den pelzigen Bauch, in dem nun der Schmerz lebte, schniefte und dachte nach.«

Doch das Zittern hörte nicht auf und Sandor gab nach: Darf der Log auf Ihre Termine zugreifen? Der Log wusste, dass er zu spät war. Als hätte der Log mit diesem winzigen Chip fühlen können, dass er zu spät gekommen war. Der Log versprach, dass man nicht mehr zu spät kommen konnte. Dass man stets an Termine zeitgerecht erinnert würde. Ja, schon gut, greif darauf zu, lass mich in Ruhe. »Sein dritter Wunsch jedoch«, fuhr Kata fort, »war die Freiheit des Libellenfürsten. Eine Freiheit, die auch ihn befreit hätte. Und wer weiß, vielleicht sitzt der Bär noch heute an diesem Strand, mit schmerzendem Bauch und grübelt über die Freiheit.«

Er hatte ein gutes Stück des Märchens verpasst. So lange hatte er sich geweigert, den Stent implantieren zu lassen, weil er geglaubt hatte, es würde ihm lästig sein, und nun grämte er sich, weil er recht behalten hatte: Der Log hatte eines ihrer Rituale gestört. Seines und Katas. Er war bislang auch ohne einen Log durchs Leben gekommen. Warum sollte er jetzt einen brauchen. Er hatte Kata ganz ohne Log gefunden. Der Zufall hatte ihm Kata geschenkt, nichts weiter. Der Zufall, dass die Frau, die er verstohlen bei all ihren Sendungen beobachtet und mit der er nicht zu sprechen gewagt hatte, die selbst durch das Studio schwirrte wie eines der Zauberwesen, von denen sie erzählte, ihm Aufmerksamkeit schenkte.

Mittlerweile war Nacht und er legte seinen Kopf auf seinen Arm, den er auf die Fensterbank gestützt hatte, und schaute hinaus auf die Häuser der Stadt. Katas Aufzeichnung war vorbei. Sie kam auf ihn zu. »Woran denkst du?«, fragte sie. »An die Nacht, als ich dich fand.« Sie lächelte. Dann sagte sie: »Du bist zu spät gekommen.« Sandor nickte. Diese eine Nacht hatte sie damals zusammengebracht und er liebte es, sich daran zu erinnern.

Die jetzige Staffel seines Lebens war weit besser als alle zuvor, weil sie da war. »Sando, deine Aufzeichnung fängt in zehn Minuten an«, sagte die Assistentin zu ihm. Kata strich ihm über die Wange. Es sind diese kleinen Gesten, die sie ausmachen. Über dem letzten Assistenten hatte der Aufsichtsrat den Bannhammer geschwungen, weiß der Teufel warum, aber die Neue machte ihre Aufgabe gut. Er seufzte. »Wir sehen uns zum Essen?«, fragte Kata und er nickte. Wie immer. Sie würde im Café im Erdgeschoß auf ihn warten. Er hatte das heutige Menü noch gar nicht gelesen. »Mochtest du die Aufnahme?«, fragte sie noch, während sie ihre Tasche schulterte. Sandor nickte: »Ist sonnig geworden.«

»Lyrie mochte sie besonders gerne«, erwiderte Kata und er rechnete nach, wann seine Tochter von den geführten Ferien zurückkommen würde. Sie hatte auf dem Hof mit dem kleinen Streichelzoo bereits ihr eigenes Zicklein und hatte sich endlich eine Ferienoma ausgesucht, meinte aber immer, wenn sie telefonierten, dass diese nicht so schön erzählte wie Kata. Über den Bildschirm flimmerte die Werbung für eine Kinderlog-Zusatz-App, mit der die Eltern selbst bestimmen konnten, welche Begriffe zusätzlich zu den gesetzlich vorgegebenen noch ausgespart wurden. »Piepmatzpiep« nannte sich das Konzept, und die Werbefiguren waren kleine gelbe Cartoonvögelchen im Nest, denen die Eltern fröhlich etwas vorpiepten. So fröhlich und erbaulich solle das Geräusch klingen, das die Kinder bei »bösen Wörtern« zu hören bekämen.

Trashalong zupfte ihr Kostüm zurecht und nahm der Assistentin das Klemmbrett aus der Hand: »Worüber soll ich reden. In kurz bitte.« Sie schien sich nur mäßig für ihre redaktionellen Inhalte zu interessieren. Als hätte sie keine Leidenschaft für ihre Aufgabe im Äther. Sandors Hand juckte, als er sich vor den Greenscreen stellte, und sie juckte, als er ankündigte, dass es schön sein würde die nächsten Tage, dass selbst frühere Spionagesatelliten Wetterdaten lieferten, wenn auch ursprünglich nur als Nebenprodukte. Dass das Wetter selbst dort oben keinen Einfluss hatte, da es sich größtenteils in den unteren zwei Kilometern der Atmosphäre, nämlich der Peblosphäre, abspielte, und sie juckte, als er zu den praktischen Bekleidungsempfehlungen des FancyFashion-Segments überleitete. Sie juckte, als ihm das Wort wieder erteilt wurde und er über das Blau des Himmels sprach und dass es uns beruhigt, weil es der Himmel ist und das Meer seine Farbe in rhythmischem Rauschen spiegelt, und hätte aufgrund eines kuriosen Fehlers unsere Atmosphäre immer schon nur den roten oder gelben Teil des Spektrums durchgelassen, dann fänden wir diese Farbe, einen roten Himmel, ein rotes Meer, einen gelben Himmel, ein gelbes Meer beruhigend. Er erinnerte die Menschen daran, ausreichend zu trinken, man musste hydriert bleiben, auch wenn es keine große Hitzewelle gab, die Getränkehersteller hatten einen Vertrag mit dem Äther. Er schloss die Sendung wie immer mit den Worten: »Bleiben Sie sonnig.« Und lächelte in die Kamera. Manchmal sagte er sich, dass es seine Stimme war, wie er sie in den Äther schickte, die die Sonne scheinen ließ, auch wenn er wusste, dass das Unsinn war. Seine Hand juckte, er kratzte sich. Er würde eines dieser Moskitomittel darauf sprühen, die er zu Hause hatte, die zwar der Ursache des Juckens nichts anhaben konnten, jedoch das Gefühl betäubten. Dann würde er den Abend mit Kata gemütlich ausklingen lassen. Er hatte gewusst, dass der Log ihn stören würde.

Er griff nach seiner Tasche, da stieß ihn Trashalong, die für das FancyFashion-Segment zuständig war, in die Seite: »Ich finde mich in deinen Worten wirklich nicht wieder. Mach das nie mehr! Ich melde dich!« Sandor war verwirrt. Er wusste nicht, was sie meinte. »Was soll ich nicht mehr machen?«, fragte er ehrlich erstaunt, was wohl an Trashalong vorüberging. »Und jetzt spottest du über mich! Weißt du was, das war unmoralisch! Und es hat mich schlecht dastehen lassen. Ich werde dafür sorgen, dass man dich ersetzt, wenn das noch einmal passiert. Dich braucht hier nämlich niemand!«

Dann zog sie schimpfend ab. Die Assistentin legte ihr den Arm um die Schultern und warf ihm einen urteilenden, geradezu empörten Blick zu. Er wartete einige Minuten, damit er nicht mit den beiden in den Lift steigen musste. Frank ging vorbei, Sandor tippte ihn an.

»Sando, hey.«

»Hast du meine Aufzeichnung gesehen«, fragte Sandor ihn, aber Franks Handpuppe schüttelte den Kopf und Frank lachte dazu. Unter dem Namen Kasimir Stern Kreide betreute er ein Format, das Puppenspielertricks offenlegte und mit den Spielen der Natur verglich. Zuletzt hatte er das Videomaterial des Kampfes zweier Krabben, die in zwei Puppenköpfen hausten – einer war noch recht neu und einer bereits mit grünen und schwarzen Algen überzogen –, besprochen. Ein gruseliges Schauspiel. »Warum?«, fragte er.

»Trashalong hat sich beschwert, aber ich weiß nicht worüber«, antwortete Sandor. »Keine Ahnung. Ich kenne sie nicht.« Dabei hätte Sandor schwören können, dass er sie im Café schon öfter zusammen gesehen hatte. Er war allein im Lift und es bereitete ihm Kopfzerbrechen, aber Kata, ja, Kata würde das natürlich verstehen. Wie erwartet, hatte sie die Aufzeichnung am Bildschirm des Cafés mitverfolgt. Sie war sich nicht sicher, vermutete jedoch, dass Trashalong ein Problem damit hatte, dass er gesagt hatte: »Und nun zu unserer Expertin für FancyFashion.«

»Was ist daran falsch? Hätte ich ›Experte‹ sagen sollen?«, fragte Sandor verwirrt. Aber Kata glaubte eher, dass Trasha es ironisch aufgefasst hatte. »Wenn du sie einmal eine Expertin nennst und sonst nie, sagst du damit nur, dass sie in Wahrheit keine ist.« Sandor schüttelte den Kopf. »Die Zuschauer sagen in den Foren oft ›Experte‹, wenn sie ›Scharlatan‹ meinen. Wir sollen ehrliche Sprache benutzen, wenn wir auf Sendung sind, das weißt du doch. Bedürfnisgerecht für die Programmgenießer.« Kata zuckte mit den Schultern, nippte an ihrem Kaffee. Sandor fühlte sich schuldig und bestellte einen Whiskey. Der Kellner stellte einen kleinen Verdampfer mit Mundstück vor ihm auf den Tisch. Er hätte lieber ein richtiges Glas gehabt und fühlte sich daher noch schuldiger als zuvor. Er vermisste die Zeit, als die Welt noch nach Welt roch und nicht aus jedem Winkel Dampf kam, von Verdampfern auf Tischen und Kommoden, aus den neuen Blumenvasen, getarnt als dicke, kleine, weiße Buddhas. Sogar aus den Hauswänden dampfte es nach Zitronenbuttermilchkuchen, nach Kaffee und Südfrankreich.

Die Wölfe von Pripyat

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