Читать книгу Die Wölfe von Pripyat - Cordula Simon - Страница 12
8Der Log
ОглавлениеIm Jahr 1 vor dem Konsul
Newsfeed im Jahr 1 vor dem Konsul
Die Union gibt sich stur, während die systemisch unterdrückte Minderheit der Dragonkin auf Anerkennung pocht und um strukturelle Gleichstellung kämpft. Live von den Protesten meldet sich unsere Außenkorrespondentin, die Aktivistin Orelia Schlick. Online-Aktivists diskutieren im Anschluss am runden Tisch über die Demonstrationen und die Misrepräsentation der Dragonkin in den Medien, in Anbetracht der unglücklichen Einzelfälle im Vorfeld der Proteste, die der Dragon-Community angelastet wurden. Die Untersuchungen dauern an.
Als sie ins Appartement kamen, nahm Sandor wohlwollend den Duft von Nadelwald wahr. Er hatte vergessen, dass heute Tag der Grundreinigung war, und Kata hatte ihm erlaubt, wieder den Waldduft zu bestellen. Er genoss das Zusammenspiel der hellen Einrichtung und des erfrischenden Odeurs. Er hoffte, so, wie sie jetzt war, würde die Einrichtung lange bleiben, obwohl er stets Veränderungen fürchten musste, wenn Kartons im Flur standen. Kata hatte ihrem Log erlaubt, selbsttätig für sie zu kaufen, was ihr gefallen würde, seit jenem Abend damals, sie waren gerade zusammengezogen und Kata hatte die Möbel ausgesucht, und der Log hatte pünktlich geliefert. Sie hasste alles. Sie stand in der Wohnung und hasste alles. Sie könnte niemals in diesem hässlichen Bett schlafen. Sie hätten es sich nicht leisten können, alles auszutauschen. An diesem Abend schliefen sie auf dem Teppich, den Kata »zu haarig« genannt hatte, dabei war es nur ein grobfädriger Wuschelteppich. Er hatte den Arm um sie gelegt. Seit sie es sich leisten konnte, hatte sie alles dreimal neu einrichten lassen. Sein Arbeitszimmer war dem Kinderzimmer gewichen, er saß im beschaulichen Kämmerlein, Kata arbeitete im Schlafzimmer. Den »grotesken Tisch« hatte sie lieben gelernt. Ein Tisch wie jeder andere, meinte Sandor. Vier Beine, Platte, vielleicht etwas schmal. Der Wuschelteppich war einem Microfaser-Plüschteppich gewichen, der sich anfühlte, als seien kleine Baby-Yetis dafür gestorben. Man hatte wieder versucht, Yetis zu züchten, aber Sandor wollte es gar nicht so genau wissen.
Die Grundreinigung war eine gute Sache. Bei Kata waren die Säuberlein immer bei Bedarf aus den Wänden gestürzt, aber er zog es vor, im Vorhinein einen Tag zu fixieren. Dann konnte man planen, nicht zu Hause zu sein, damit sie einem mit ihren Sensoren nicht ständig ausweichen mussten. Die letzten Monate hatten sie den salzigen Duft eines nördlichen Meeres in der Nase gehabt. Er hatte immer schon Wald gehabt, doch Kata hatte befürchtet, dass der Geruch Einfluss auf ihr Schreiben haben könnte. Als sie hier eingezogen waren, hatte sie viel über Wälder geschrieben, Eines ihrer Märchen hatte ein Programmierer zum Vorbild eines Spiels erklärt und Kata war glücklich gewesen, ihn zu beraten, welche Tiere er in dieser Welt unterbringen konnte. Welche Gestalten Quests gaben, welche Gestalten eine Bedrohung waren. Die Bedrohung ging immer von den Menschen aus und der Spieler musste die Tiere des Waldes beschützen, durfte jedoch Einzelne auch töten. In dem Spiel hatte Sandor bereits viel Zeit verbracht, denn da roch es nach unterschiedlichsten Wäldern. Als die Meeresluft Einzug ins Appartement hielt, hatte er sich in Windeseile hochgelevelt. Nun hatte Kata entschieden, dass sie mehr Zeit mit ihm verbringen wollte, und erkannt, dass er mit dem Waldduft glücklicher war und sich weniger in das Spiel zurückzog. Anstatt ihm vorzuwerfen, dass er ständig im Virtuali war, gab sie ihm den gewohnten Wohnungsduft zurück. Er war glücklich. Zumindest fast, dachte er, als er den Moskitospray auf seine Hand richtete.
Darf der Log auf Ihre Dokumente zugreifen? Sandor knurrte. Als wüsste sie, was er dachte, sagte Kata: »Das ist nur am Anfang so. Da fragt er viel. Aber wenn du ihn lässt, ist es wirklich bequem.« Sandor fühlte sich dabei unwohl: »Ich will nicht, dass er all meine Daten hat.«
»Du verstehst das falsch«, sagte Kata. »Deine Daten sind beim Log sicher, denn nur du hast sie und der Log. Der Log gibt sie nicht weiter. Nicht wie andere Unternehmen oder Programme.« Sandors Hand juckte, er knurrte und sprühte abermals. »Den Log personalisieren?«, fragte der Log. Sandor lehnte ab. Der Log war ein Gerät. Er hatte keine Lust, eine Stimme und einen Namen auszuwählen. Kata nannte ihren Log Marie und Maries Stimme klang fast wie ihre.
»Hast du die Nachrichten gesehen?«, fragte sie. Aber Sandor schüttelte den Kopf. »Die Toleranzunion hat beim Friedenseinsatz ein Tätigkeitslager gefunden. Stell dir vor, die waren nicht für qualvolle Tätigkeiten dort. Die wurden gut behandelt und gut genährt.«
»Na, das sind doch gute Nachrichten.«
»Nein«, schüttelte sich Kata. »Sie wurden dort als Organspender gehalten. Die bringen sie für ihre Organe um. Diese Leute haben kein Gewissen. Glückliche, gesunde Menschen und zack. Tot, weil irgendein Geldsack seine Leber weggesoffen hat. Dann war da noch ein Beitrag zur Forschung über das Züchten einzelner Organe. Bald sind wir soweit.« Die Union reichte über den halben Kontinent, was sich außerhalb befand, wurde im Netz nur als Albtraum sichtbar. Nach einem mühevollen Weg durch die breiten Randgebiete der Union, in denen die Vernetzung und damit die Zivilisation nicht mehr verlässlich waren. Darüber hinaus, dort draußen, im Goldenen Reich, wo einst die großen Republiken des Ostens, China, Russland und die Steppenstaaten waren, verkörperten sich nur die düsteren Ängste all jener, die hier in der Union sichere Leben führen konnten.
Die sozialen Netze machen wirklich nicht glücklicher, dachte Sandor. Stets nur Horrormeldungen, die von Freunden in die Timeline gespült werden, immer empört sein ist anstrengend. Biologische Organe, dialogische Organe – er wusste nicht einmal, was das sein sollte. Dabei sollte der Alghorithmus doch alle glücklicher machen. Sich selbst ständig mit den fröhlichen Bildern der anderen zu vergleichen, war dabei auch nicht zu verhindern. Ein Dazwischen gibt es nicht. Normal, durchschnittlich, das waren ja bereits Beleidigungen. »Normal« soll man überhaupt nicht mehr sagen, das schließt so viele aus. »Sagst du dazu denn nichts?«, fragte Kata.
»Was soll ich sagen, die Toleranzunion kümmert sich darum.«
»Aber diese Gewissenlosigkeit!«
»Ich weiß nicht. Ich glaube nicht, dass sie kein Gewissen haben.«
»Wirklich?«
»Ein überspanntes Gewissen vielleicht. Die Administration im Goldenen Reich wird ihnen schon eingeredet haben, dass das alles moralisch notwendig sei.«
»So etwas solltest du nicht sagen«, bestimmte sie, als hätte sie kein Problem mit dem Gedanken, nur damit, dass er es war, der ihn dachte. Seine Hand juckte. Darf der Log auf Ihre Fotos zugreifen? Er schnaubte. »Lass ihn doch. Der Log kann dir Tätigkeiten abnehmen. All das Organisatorische. Du musst nie wieder ein Formular ausfüllen. Wer will das schon? Marie ist wie eine Privatsekretärin.« Er segnete es also ab. Darf der Log auf Ihre Kontakte zugreifen? Er schnaubte wieder. »Das ist nur am Anfang. Überleg, wie viel Zeit dir bleibt. Der Service kann dir für jeden Tag eine Liste zusammenstellen, geordnet nach Wichtigkeit und Dringlichkeit, er kann deine Termine ausmachen.« Darf der Log Ihren Fitnessstatus dokumentieren? Sandor warf sich auf das Sofa und schaltete das Stimmungslicht ein. Darf der Log auf Ihr Stimmungslicht zugreifen? Er war genervt. »Ich fühle mich einfach nicht wohl dabei, all diese Daten in den Äther zu schicken.« Kata kniete sich vor ihm hin: »Nicht in den Äther, in die Cloud. Du magst doch Wolken so. Und du hasst es, Arzttermine auszumachen, das kann er für dich tun.« Er seufzte. »Du hattest einen langen Tag. Ich hole dir etwas zu trinken, dann bestätigst du die Anfragen des Logs, während ich noch ein wenig tätig bin, und dann nimmt das Vibrieren ein Ende. Du wirst sehen, in zwei Tagen juckt es auch nicht mehr und du wirst das Gefühl haben, dass dein Leben nie einfacher war.«
»Was soll daran einfach sein?« Sandor schloss die Augen und hängte seinen Kopf über die Lehne.
»Der Log wird dich kennenlernen und du kannst dich zurücklehnen. Du wirst nie mehr etwas Sinnloses tun, weil der Log dich kennt und deine Liste macht. Du wirst niemals Unerledigtes auf der Liste haben, denn der Log wird es entfernen und dir nur mehr anzeigen, was schaffbar ist. Du wirst nie mehr etwas Überteuertes kaufen, so wie den Krillator, weil der Log die Preise vergleicht. Der Log urteilt nicht, und niemand sonst kann dich verurteilen, weil alles so laufen wird, wie du es schon immer wolltest. Das wird großartig, du wirst sehen, Sando. Lyrie wird auch bald alt genug sein, selbst einen zu bekommen. Ich weiß gar nicht, wie du es im Leben so weit geschafft hast ohne den Log«, sagte sie und küsste ihn. Er zuckte mit den Schultern: »Ich falle eben nicht auf«, und ließ den Log zugreifen auf Dinge, von denen er nicht einmal wusste, dass er sie hatte. Dabei war Lyrie noch nicht einmal fünf, viel zu jung für einen Privatsekretär. Kata stellte den Whiskey-Vaper vor ihm auf den Tisch, strich ihm über den Kopf: »Im Virtuali schweigt der Log«, sagte sie, »du kannst einfach in die Wälder von Pripyat gehen und er ist still.« Sie lächelte. Als hätte sie geplant, ihm ein Refugium zu entwerfen, wenn er so weit war, einen Log zu bekommen. Er dachte an den friedlichen Moment, wenn er das Single-Player-Kommando anwählte und mit dem Kopf in einem Märchenwald versank. Nur du für und gegen die Maschine. Es gab lohnende Aufgaben und es galt, so lange wie möglich am Leben bleiben. Da empfing er eine Nachricht, sie war von Frank. Er öffnete den Verlauf. Die erste Nachricht, die er sah, war von ihm selbst gekommen: »Hallo hier ist Sando, ich bin nun gelogged.« Die Nachricht war an alle Kontakte gegangen. Der Log erkannte sogar, wer ihn Sando nannte und bei wem er Sandor Karol war. Frank lud ihn zu einer Party ein. Kasimir Stern Kreides Ersetzungsfeier. Er gab an, vielleicht zu kommen. Sandor war müde. Darf der Log Ersetzungsfeiern automatisch zu Ihren Terminen hinzufügen? Sandor seufzte tief. Das hast du nun davon. Seine Wahlinformation war auch eingetrudelt und der Log spulte sie langsam vor seinen Augen ab, doch er murmelte: »Später.«