Читать книгу Die Wölfe von Pripyat - Cordula Simon - Страница 7
3Schach
ОглавлениеIm Jahr 1016 des Konsuls
Kein Signal.
Das Feuer knackte und Emmas Wangen wurden heiß. »Ich kann schon nicht mehr trinken«, sagte Jackie. »So tun Sie doch etwas!«
»Besser nicht«, schüttelte Richie den Kopf. Sie würden ihr dann ja doch nur eine Portion Pommes bringen und einen Wodka-Tonic. Wenn er einfach davongerannt wäre, dann müsste er auch nicht hier sitzen und Alkopops trinken. Bis zum Ende der Woche würde der Hüttenvorrat aufgebraucht sein. Das Programm »Ernährung für alle«, wie es in den Städten allen Bewohnern geschenkt wurde, gab es hier nicht. Es hatte den Zweck, die Menschen gesünder zu machen. Hier wurde den Jugendlichen Ungesundes gegeben, damit der Aufenthalt positiv in Erinnerung blieb. »Doppelt frittiert«, fügte Richie hinzu und öffnete eine Dose, reichte sie Emma. Seine Finger streiften ihre. Das war ihr erstes Getränk an diesem Abend. Jackie steckte sich ständig Pillen in den Mund.
»Mein Kopf ist schwerer als meine Seele, der Totengott, der Totenkopf lässt uns beide nicht gehen.« Richie rülpste, nachdem er das gesagt hatte. Potz rülpste ebenfalls, jedoch um einiges lauter, als müsste er etwas beweisen. »Das kickt«, fügte Richie hinzu und hob seinen Becher.
»Ach, und im Osten wäre es besser?«, fragte Emma und nahm einen Schluck, denn Richies Behauptungen schienen ihr interessanter als der Totengott.
»Die Wahrheit ist ja die«, fuhr Richie fort, »dass die Menschen, ja, das wusste man schon im alten Griechenland, von Zeus auseinandergerissen worden sind. Heute weiß man das ja nicht mehr. Nicht mehr vier Beine und vier Arme und zwei Gesichter auf einem Kopf mit Augen vorne und hinten. Aber den Russen, den Russen, denen hat er die Seele im Inneren noch einmal geteilt, weil sie eine Revolution anzettelten, weil sie sich das nicht gefallen lassen wollten. Die müssten sich selbst lieben, fänden sich aber nie im eigenen Körper und müssten daher neben der Liebe auch den Hass suchen. Das ist die Poetenseele.« Er rülpste wieder. Potz machte sich nicht die Mühe. Zu Dostojewskijs Zeiten mag das so gewesen sein, dachte Emma, aber heute? Das Konzept des Camps in Untermürbwies stammte aus dem Osten. Sie sagte es Richie nicht, er wäre dann vielleicht traurig gewesen. Es gibt ebenso wenig hundertprozentige Wahrheit wie hundertprozentigen Alkohol, dachte sie. Beides gibt es nur mit Zucker.
»Die Poetenseele …«, sagte er wieder, verstummte aber gleich, denn das war kein erwünschtes Gesprächsthema und der dünne Mann im Trainingsanzug von der Anmeldung kam auf sie zu:
»Da drüben gibt es Bio-Hotdogs, wenn ihr möchtet«, meinte er, ein hässliches Grinsen hatte er, das er selbst vermutlich für ein freundliches Lächeln hielt. Sie sahen alle zu Boden. Nur Potz, Potz zog an seinem Vaper, nahm einen Schluck aus der Wodkaflasche und starrte den Dünnen an.
»Worüber sprecht ihr?«, fragte der nun. Emma versuchte, aus den Augenwinkeln zu beobachten, was passierte, Potz starrte den Dünnen immer noch an: »Wir spielen ›Ich hab noch nie‹.«
Dann zog der Dünne ab, offenbar zufrieden mit der Antwort.
»Ich hab noch nie?«, fragte Emma.
»Ein Trinkspiel, das er uns gestern zum Zeitvertreib vorgeschlagen hat«, antwortete Potz, lehnte sich zurück, sah dem Dünnen nach: »Ich hab noch nie ›Ich hab noch nie‹ gespielt«, lachte er, und alle nahmen einen Schluck, sogar Jackie.
»Scheiß Camp«, sagte Potz und hielt Emma die Flasche hin, aber sie wusste, sie würde Wodka niemals pur hinunterbekommen.
»Noch zwei Jahre, bis wir vielleicht wählen dürfen, wenn wir uns qualifizieren«, sagte Emma. Für alles gibt es ein Mindest-, aber für nichts ein Maximalalter.
»Ich habe einmal zwei – wie sagt man statt ›alt‹? – im Öffentlichen gesehen, die sich um den Bedürfnisplatz stritten. ›Ich hatte einen Schlaganfall‹, meinte der Eine, und der Andere: ›Ich habe zwei Bypässe.‹ Als wäre es ein Quartettspiel. Die reinste Soap. Dabei sind für diese Generation körperliche Reparationen aller Art immer leistbar und sie bekommen auch noch Rabatte. Der Log hat sie dann nur mehr in verschiedene Busse gelassen. Wegen der Harmonie.« Die alte Generation hatte solche Leiden noch, sie waren schwer vorstellbar. Wer sich einmal für das Wahlrecht qualifiziert hatte, verlor es nicht so leicht wieder. Früher war es sicher leichter, sich zu qualifizieren. Nur liken konnte man immer.
Richie nickte: »Auch vom Fernseher komme ich mir immer so vergewaltigt vor. Die ganzen Betroffenheitssoaps und Sozialpornos. Irgendwelche C-Promis, die Flüchten spielen. Mit echten Lagern, Schleppern und überfüllten Booten. Scheiß Reality-TV.«
»Also statistisch …«, begann Emma, aber Potz schnitt ihr das Wort ab: »Zahlen sind wertlos.« Sie bedachte ihn mit einem bemüht giftigen Blick. Vielleicht brauchte sie doch einen Gesichtsausdrucksworkshop.
»Kennt ihr die Geschichte von dem Mann, der seine Kinder für Pornos missbrauchte und dann mit ihnen eine Doku über die Pornos drehte und dann noch eine X-rated-Version der Doku herausgab?«, fragte Potz nun weiter.
Emma und Richie sahen einander an, trafen die stumme Übereinkunft, nicht darauf zu reagieren: »Bald schicken sie irgendwelche D-Promis zu uns ins Camp.«
Richie lachte: »Ja, genau, und die müssen dann auch Erdbeerwein und Alkopops saufen.« Er reichte Emma einen Becher. Wieder streiften sich ihre Finger.
»Warum wurdest du denn hierher – ähem – eingeladen?«, fragte er, mit Betonung auf eingeladen.
»Sie haben mich in der Bibliothek erwischt.«
»Und wo liegt das Problem?«, fragte Potz.
»In der Bibliothek für Erwachsene«, antwortete Emma.
»Bei den richtigen Ausgaben? Den vollständigen? Den unzensierten?« Richie hatte etwas von einem aufgeregten Welpen.
»Du kleine Drecks**«, warf Potz ein und zwinkerte ihr zu.
Sie nickte. »Kein Wunder, dass du hier gelandet bist«, sagte Richie und griff nach ihrer Hand.
»Sie hätten sie auch einsperren können. Sich erwischen lassen – pfff – dumme ***«, meinte Potz.
»Die Richterin meinte, ich gehöre hierher, ich sei nicht ganz dicht.« Emma lächelte, nahm einen Schluck von dem Erdbeerwein. Eine eklig-süße, dicke Soße. »Und du?« Emma versuchte ihre Hand nicht zu bewegen, damit er sie nicht losließ.
»Etwas zu schreiben ist noch schlimmer, als etwas zu lesen.« Ritchie zwinkerte. »Und Jackie?«
»Ach, irgendetwas Aufwieglerisches.«
Jackies Kopf sank an Potz’ Schulter.
»Ich existiere nur, weil Sie mich sehen können, meine Damen und Herren und weitere, weil sie mit oder über mich sprechen, ansonsten bin ich inexistent«, murmelte sie. Aktionskunst vermutlich, dachte Emma. Danach starrte Jackie so ausgezoomt vor sich hin wie zuvor.
»Will jemand wissen, warum man mich hierher gesteckt hat?«, fragte Potz, aber sie schüttelten trinkend den Kopf. Potz zuckte mit den Schultern und zog an seinem Vaper. Für Emmas Geschmack genoss er das Camp zu sehr. Untermürbwies.
Richie murmelte: »Wenn die finden, dass sich dein Verhalten nicht geändert hat, schicken sie dich jedes Jahr her. So wie mich. Meine Schwester fährt jeden Sommer auf den Pferdehof und ich hierher.« Er nahm noch einen Schluck. »Oder sie stecken dich doch in den Knast, also in ein Rehabilitationszentrum.« Er lachte.
»Im Knast gibt es leider nichts zu trinken«, lachte Potz.
»Je mehr du von dir gibst, umso weniger kann ich mir vorstellen, warum du überhaupt hier gelandet bist«, fauchte Emma. Sie wusste beim besten Willen nicht, welche Kriterien Potz für seinen Aufenthalt hier prädestinierten. Hier sollten die Klugen von ihren Problemen der unnötigen Systemhinterfragung erlöst werden. »Probleme« sagte man nicht mehr, das hieß jetzt »Herausforderungen«.
»Miss Zum-Camp-verdonnert-fürs-Lesen!« Potz spuckte wieder aus.
Richie lächelte ins Dunkel: »Ja, klar, Potz ist Friedensstifter-in. In jeder Hütte gibt es einen, der der Lagerleitung erzählt, worüber wir reden, sobald sie uns aus den Augen lassen. Nein, das wäre zu einfach, nein, er muss sich mit uns anfreunden, so richtig, und ist eigentlich nur dafür da, uns auf die böse Seite zu ziehen, uns immer mehr zu trinken vorzusetzen und uns klarzumachen, dass wir uns keine Gedanken zu machen brauchen. Gehst du morgen zum Seelebaumeln?«
Emma schüttelte den Kopf. Potz spuckte wieder aus, vielleicht war es wahr, vielleicht kümmerte es ihn aber auch nicht. Potz war ein Arsch. Ein versoffener Prolet, der sich besonders gewitzt vorkam. Er drehte sich um und ging weg. Einer, der sie »Püppchen« nannte. Die Flasche an den Lippen, nahm er immer wieder einen Schluck.
»Morgen darf ich um diese Zeit surfen«, meinte Emma.
Nun zuckte Potz hoch: »Onlinezeit, sonic sonic!«
»Komm, gehen wir zur Hütte. Hier gibt es immer noch ein Morgen, bis zu dem man weiter trinken kann.« Richie führte sie an der Hand in Richtung Hütte. Emma ließ sich auf ihr Bett fallen, es knarrte. Zurück zur Natur, zurück zu quietschenden Lattenrosten, dachte sie. Richie hatte ihre Hand nicht losgelassen, warf sich ebenfalls auf ihr Bett, es quietschte noch lauter. Die Masse seines Körpers schien überall zu sein. Der Erdbeerwein hatte einen pelzigen Belag auf Emmas Zunge hinterlassen, auf Richies Zunge ebenso: Er küsste sie. Sie hatte damit gerechnet. Die alberne Händchenhalterei. Er versuchte, seine dicken Finger in ihre Jogginghose zu bohren, aber sie drängte seine Hand weg. »Ach, komm«, sagte Richie, wieder der Pelz in ihrem Mund. Ach, komm? Damit hatte Emma nicht gerechnet. Dabei hatte man ihr doch prophezeit, dass sie hier Menschen mit ähnlichen »Herausforderungen« treffen würde. Man sollte auf andere Gedanken kommen, nicht ständig über die Welt grübeln. »Ach, komm. Einen Abend dumm sein. Das muss. Triebabfuhr als …«, flüsterte er, dann ließ er sein Gesicht gegen ihren Hals fallen.
Richie hielt inne, die Tür knackte. Jackie schwebte in den Raum. Jackie, das schwebende Wesen. Potz trug sie und legte sie vorsichtig in ihr Bett, zerrte ihr die Jacke vom Körper und zog sachte die Bettdecke über sie. Eine Waschschüssel stellte er auf die Seite ihres Bettes, der sie das Gesicht zuwandte. Jackie stöhnte. Emma spürte Richies Atem an ihrem Hals, spürte, wie er abwartete, dass Potz wieder hinausgehen würde, um weiter zu saufen. Potz bemerkte Richie in Emmas Bett, griff nach dem Kragen seiner Jacke und zerrte Richie von ihr, schlug ihm ins Gesicht. Zweimal, dreimal. »Potz, you f***** a****!«, schrie Richie, ohne sich jedoch weiter zu wehren. Jackie wachte aus ihrem Delirium auf.
Emma sprang aus dem Bett, sie musste hinaus, sie hastete Richtung Teich. Schnelle Schritte. Sie wollte einfach nur weg von ihnen. Sie hörte ebenso schnelle Schritte hinter sich, jedoch leiser. Jackie schwebte ihr nach. Diesmal alleine. »Potz hat recht!«, rief sie ihr hinterher. »Er versucht nur, Ihr Freund zu sein, ich bitte Sie, bleiben Sie stehen! Das ist genau, was die hier wollen. Dass Sie etwas tun, wovon es vielleicht kein Zurück gibt. Emma, bleiben Sie stehen!«
»Lass mich in Ruhe«, knurrte Emma Jackie an. Das war erst der erste Abend. Der Beginn. In zwei Monaten würde niemand von ihnen mehr wissen, was er tat. Auch sie selbst nicht, dachte sie. Auf zu engem Raum, in Untermürbwies. Das verfluchte Camp. Verfluchter Richie. Jackie hatte offenbar wieder umgedreht. Sie hörte nun andere Schritte hinter sich. Schneller, ein Laufen. Hoffentlich nicht der Dünne im Trainingsanzug, dachte sie, aber es war Potz, der sie am Arm packte.
»Lass mich los. Lasst mich doch alle in Ruhe«, fauchte sie und versuchte, ihren Arm aus der Umklammerung zu lösen.
»Richie wird es auch irgendwann begreifen. Wir haben etwas zu erledigen, oder etwa nicht?«, sagte Potz, als müsste sie wissen, wovon er sprach. »Ich werde dir sagen, was du tust, bevor du morgen den Log öffnest. Dann sind wir hier in zwei Tagen wieder draußen. Das muss. Solange es die Onlinezeiten noch gibt, sollten wir die Kabelverbindung nutzen«, grinste er.
»Sch***-Untermürbwies«, murmelte sie. Potz nickte und hielt ihr wieder die Wodkaflasche hin. Sie griff danach. Die Flasche war kalt, die Wärme seiner Finger ließ sie zusammenzucken. Er legte seine Hand auf ihr Schulterblatt, und so machten sie sich auf den Weg zurück. Sie wusste nicht, warum es die Onlinezeiten nicht mehr geben sollte.
Ein heller Schrei war es, der sie hochschrecken und innehalten ließ. Drei Hütten weiter fand das Drama statt. Das war einer von ihnen, einer, der auf dem Dach seiner Hütte stand. »Er wird springen, oh mein Gott, er wird springen«, rief eine Stimme hysterisch. Gott, dachte Emma, hat damit auch nichts zu tun. Höchstens der Psychologe. Aber vermutlich würde man ihn einfach hormonell anpassen. Über den Körper konnte man doch alles wieder in Ordnung bringen.
Der Springer stand am Rand des Daches der Pfahlhütte, schien mit seinem Blick die Höhe zu vermessen. »Er wird doch nicht so dumm sein, zu springen«, sagte Richie plötzlich hinter ihnen, »da bricht er sich höchstens ein Bein, das ist nicht hoch genug.« Emma fragte, was denn passiert sei, ohne Richie anzublicken.
»Sie haben heute Nachmittag ein Schachspiel bei ihm gefunden«, antwortete Richie und nahm einen kräftigen Schluck aus einem Kunststoffbecher.
Sie zuckte zusammen: »Springer auf D5!«, rief Potz hinter ihr. Ob der Schachspieler ihn auch verstand? Die anderen Schaulustigen murmelten. »Machst du dich über ihn lustig? Du bist ja vielleicht daneben. Der will ohnehin schon sterben«, sagte sie.
Potz lachte: »Prinzesschen hat wohl nie Schach gespielt? Und so dumm ist der nicht. Dann sitzt er nur die halbe Nacht beim Psychologen, der eh allen das Gleiche sagt: Entspann dich, such Kontakt zu anderen, lass dich mal gehen et cetera. Dann ertränkt dich der Log in einem Eimer Lithium-Sieben.« Emma schüttelte den Kopf. »Was für ein braves Mädchen«, gluckste er.
»Dass es verboten ist, weißt du aber schon?«, fragte Richie. Emma nickte: »Aber ich dachte, es sei eben nur ein Spiel.« Potz lachte wieder: »Das angeblich Rassenkrieg verherrlicht. Der da ist also ein Rassist. Schwarz gegen Weiß.«
»Schwarz sagt man nicht«, entgegnete Emma, und: »Gegen Rassismus muss man etwas tun, wenn du das S-Wort sagst, handelst du auch diskriminierend.«
»Sei nicht gleich so getriggert«, grunzte Potz.
Richie schüttelte den Kopf: »Nein, das ist es alles nicht, es geht um Schichtenkampf. Die Bauern werden zum Sterben geschickt. Unterschicht und so. Und um Gewaltverherrlichung. Der da oben«, er deutete mit dem Finger auf die schmale, blasse Gestalt am Rand des Hüttendachs, »ist demnach ein Kriegsfanatiker.« Emma war verblüfft: Wenn es um schwarze und weiße Figuren ging und um Schichten, dann musste man doch einschreiten.
Potz zuckte mit den Schultern und fügte hinzu: »So was kriegt man nicht mehr digital. Es ist antiquarisch. Real. Da kann der Log nichts tun.«
Emma sah nach oben und der Schachspieler sah nach unten. Blonde, fransige Haare fielen ihm in die Augen. Er sah ihr geradewegs ins Gesicht. So wie die Astlöcher sie anstarrten, egal wo sie sich befand. Sie fröstelte. Vielleicht bildete sie sich all das nur ein. Schwachsichtigkeit lässt sich besser messen als beispielsweise Körperbehinderung wegen einer abgetrennten Gliedmaße, oder gibt man diese in Prozent des Körpergewichts an? Erstaunlich, so etwas müsste sie eigentlich wissen. Wie viel Fantasie die Blindheit ihr allerdings verlieh, war vollkommen unmessbar, und vielleicht bildete sie sich alles im Camp nur ein.
Potz spuckte aus: »Spring doch, du A****, spring doch!«, rief er. »F***ling!«, rief er. Emma fühlte sich unwohl in ihrer Betrunkenheit. Wenn er Selbstmord Feigheit nannte, dann sollte er das erst probieren und hernach reden.
»Der Sprung bringt ihn eh nicht um.« Potz nuckelte wieder an seiner Wodkaflasche.
»Was passiert, wenn sie hier sagen, man hätte nicht bestanden?«, flüsterte Emma Richie zu.
Ihn interessierte offenbar nicht, ob der Schachspieler wirklich sprang. Einer vom Lagerpersonal kam und begann die Schaulustigen mit wedelnden Armbewegungen zu verscheuchen.
Der Schachspieler kletterte schließlich vom Dach. In seinem Kopf war also klar: Der Sprung würde ihn nicht töten. Dann hätte es keinen Sinn. Für einen bloßen Beinbruch. Er würde wohl trotzdem die halbe Nacht beim Psychologen sitzen, wie Potz vorhergesagt hatte.
Emma entschied, eine weitere Runde um den See zu wanken, um der stickigen Luft der Hütte noch ein paar Minuten zu entgehen. Was sie sich eingebrockt hatte. Sie hatte doch gar nichts getan. Sie würde guten Willen zeigen, dachte sie. Morgen würde sie in den Facial Expression Workshop gehen. Sie hatte die Beschreibung gelesen. Das schien weniger langweilig als das Training für jene, die Schwierigkeiten – oder sagt man auch Herausforderungen? – hatten, in Situationen den Gesichtsausdruck des anderen richtig zu lesen. Man brauchte das auch kaum. Der Log hatte kein Gesicht und der Log kannte deinen Hormonhaushalt. Der Log konnte sie immer richtig lesen. Karell kannte sie besser als ihre Eltern. Auf Karell konnte sie sich verlassen. Er versagte nicht, wie Menschen es taten. Er konnte alle ohne Gesicht lesen. Interessant war das allemal. Der Log war das einzige Menschenrecht, das man brauchte. Alle anderen Menschenrechte sind doch nichts weiter als Imperialismus, Ignoranz gegenüber anderen Kulturen. Sie nahm sich vor, ab morgen alles am Camp zu loben, ist ja sonic, würde sie sagen. Einfach zu allem. Potz konnte ihr gestohlen bleiben mit seinem Vorschlag, von hier zu verschwinden. Wie naiv zu glauben, dass man hier einfach hinausspazieren könnte.
Die Tür knarrte, als sie sanft mit der Hand dagegendrückte. Sie sah gerade noch, wie ein dünnes Leuchten aus Jackies Bett auf jemanden zusprang, Richie stolperte an ihr vorbei, sie mit seiner Breite beiseiteschiebend, und torkelte heftig hustend ins Freie. Das Leuchten war verglommen. Hatte er es nun bei Jackie versucht?
»Was war das?«, flüsterte sie.
»Ach, das ist nur das Asthma«, keuchte er zur Antwort, und fast hätte er ihr leidgetan, obwohl er einer der Gründe war, warum sie das Lager nun schon am ersten Abend satthatte. Ein unglaublich langer Abend. »Ich meinte das Leuchten«, zischte sie. Aber er zuckte nur mit den Schultern: »Welches Leuchten?« Dabei war sie sicher, dass ihre Augen sie nicht betrogen hatten.