Читать книгу Die Wölfe von Pripyat - Cordula Simon - Страница 17
13Der Schlund
ОглавлениеIm Jahr 1016 des Konsuls
Kein Signal.
Niemand wurde vom Blitz getroffen, niemand ging verloren. Emma versuchte Jackies leuchtende Hände im Blick zu behalten. Als der gröbste Regen vorbei war, zogen sie ihre Regenmäntel über, nur Potz nicht, der das Wasser zu genießen schien, und marschierten los, durch das beständige, gleichmäßige Plätschern. Emmas Mantel war rot, Jackies war blau und Grubers gelb. Wie Zwerge im Wald, dachte Emma. Im Gehen summte Potz Melodien, die sie nicht kannte, und ihre Augen waren so müde, dass sie einfach nur mehr der Melodie hinterherstolperte, der Stimme folgte, und ein wenig glaubte sie, dass er nur ihretwegen summte. Erst als die Sonne schon hoch über dem Berg stand, machten sie Rast zwischen einigen Felsen. Sie packten ihre Müsliriegel aus, Potz fädelte Pilze auf ein Stück Draht, um sie über einem Feuer zu rösten. Emma wusste weder, wann er die Zeit gehabt hatte, sie zu sammeln, noch wie er das Feuer zustande gebracht hatte: Alles triefte vom Unwetter der vergangenen Nacht. Emma lehnte sich an einen Felsen. »Wir werden mehr Proviant brauchen«, sagte Potz, »wenn wir gegessen haben, werden wir dort unten auf den Lichtungen unser Glück versuchen, dann gehen wir weiter in diese Richtung.« Er deutete in die Landschaft, für Emma war es einerlei. Die ganze Welt war entweder zu nah oder zu weit entfernt, um sich zu orientieren. »Wir werden Funkstationen umgehen, daher wird es länger dauern als der direkte Weg«, fuhr Potz fort.
»Wir müssen schlafen«, sagte Emma, wie betäubt schien ihr Kopf immer wieder nach vorne oder hinten kippen zu wollen. Sie war froh, dass er ganze Sätze verwendete, das taten heute nur noch wenige. Potz lachte: »Noch nicht. Wir müssen Abstand zwischen uns und das Lager bringen. Inzwischen wird man uns vermissen.« Sie schlang die Arme um den Körper. Wenn sie müde war, fror sie. Ihre Schuhe waren nass, sie machten ein quatschendes Geräusch bei jedem Schritt. Potz hielt ihr den Draht mit den Pilzen hin, sie griff nach einem, ihr Magen knurrte. Nun bemerkte sie erst, dass Potz seine Schuhe ausgezogen hatte. Feste Boots, an den Schnürsenkeln zusammengebunden und über die Schulter gehängt. Dass seine Füße so etwas aushielten, all die Zweiglein, Wurzeln und Steinchen hier draußen, doch er schien es richtig zu genießen und die Erde, die ihm zwischen die Zehen gequollen war, trocknete auf seiner Haut.
Jackie schien sich an Gruber gewöhnt zu haben, hing an ihm und auf ihm, als gehörte er jetzt ihr. Sie schenkte Tee aus einer Thermoskanne in den Verschluss und schlürfte laut. Dann hielt sie Emma ein Säckchen mit Nüssen hin. Diese hatte sich noch gewundert, wie Jackie den Rucksack überhaupt tragen konnte, so voll an allem Möglichen schien er, bemerkte aber jetzt, dass Gruber sich dieser Aufgabe angenommen hatte. Manche fanden immer einen Dummen. Da sprang Jackie auf, blickte in die Ferne, sank aber gleich wieder auf ihren Platz zurück, als glitchte sie. Blitze im Kopf, dachte Emma.
»Was war das?«, fragte sie Potz.
»Jackie sieht Dinge«, sagte er und strich Jackie über den Kopf. Sie lächelte, das konnte sogar Emma sehen, als sei sie ein Hündchen, das gerade von seinem Herren gelobt wurde.
Sie hätte zurückgehen sollen. Sie hatte doch nichts getan. Das alles war Jackies Problem. Davonzulaufen war auch damals, als sie gemerkt hatte, dass ihr Aufenthalt in der Bibliothek Folgen haben würde, ihr erster Impuls gewesen. Sie war nicht nach Hause gegangen, nachdem sie die Nachricht erhalten hatte, vorstellig zu werden. Der Log hatte sie informiert, dass sie einen neuen Termin hatte: Gespräch beim Informationsservice. Sie starrte die Nachricht an, wusste nicht, wohin mit sich. Zitternd hatte sie sich in ein Café gesetzt, und als sie bezahlte, war ihr klar, dass der Log die Kosten in den Account eintrug. Sie hatte doch nichts getan. Das hier war Jackies Problem. Jackie hatte jemanden umgebracht. Sie wiederholte gedanklich: umgebracht. Einen Menschen.
Da lächelte Jackie sie an. Jackie konnte doch niemanden umgebracht haben. Sie sah aus, als würde sie in tausend Scherben zerspringen, wenn man sie zu hart anblickte. »Du hängst da mit drin«, sagte Potz, als hätte er erraten, was sie dachte. »Du hast uns rausgelassen«, er zündete eine Zigarette an, eine echte, »und das Mütterchen mit dem Kuchen ist längst vorbeigegangen.« Er nagte die letzten Pilze vom Draht: »So, hopp, weiter. Die Blindschleiche kommt mit mir, Beeren, Pilze, Sauerampfer, was ihr findet.«
»Ich erkenne keine«, begann Gruber, doch Potz unterbrach ihn: »Jackie erkennt sie. Und wenn ihr einen Bären seht, macht euch groß oder stellt euch tot. Versucht nicht, auf einen Baum zu flüchten. Die klettern besser als ihr.«
»Bären?«, flüsterte Gruber, doch Jackie mit ihrem delikaten kleinen Porzellangesicht schien nicht die geringste Miene zu verziehen. Ein Bär war eben kein Blitzschlag.
»Warum willst du den Konsul überhaupt bitten? Wenn hier nicht Union ist, könntest du ja dann gleich in der Goldenen Stadt bleiben«, sagte Emma nun. Das alles kam ihr nun doch bedenklich vor, defragmentieren konnte sie es nicht. »Emmchen, Emmchen, wie aufmerksam«, sagte Potz spöttisch. Ja, daran hatte Potz wohl nicht gedacht, er hielt sich für klüger als alle anderen. Sie hatte doch gewusst, dass er keinen Wert auf eine unbefleckte Akte legte. Dem war bestimmt auch egal, ob er je wählen durfte.
»Wir bitten dort nicht für uns, wir retten die Welt«, grinste er sie an.
»Die Welt?« Sie kniff die Augen zusammen, um ihm zu signalisieren, dass sie ihn für lächerlich hielt. Was für ein Unfug.
»Ja, die Welt. Alle Erinnerung der Welt«, grinste er immer noch.
»Alle Erinnerung der Welt«, wiederholte sie mechanisch. Er kramte ein kleines Notizbuch hervor: »Ich habe ausgerechnet, wann der nächste Sonnensturm kommt. Zumindest in etwa. Das ist nicht einfach zu berechnen. Das ist schließlich nicht bloß Wind und Regen, sondern Magnetismus. Der Log muss Taten setzen, sonst ist alles gelöscht, alles, was je gespeichert wurde, jede Erinnerung, dein, ja, auch dein Log. Die Zivilisation würde zusammenbrechen.« Emma überlegte kurz. Sie hatte Karell schon so lange. Als fände sie die Antwort in den dunklen Baumwipfeln oder den auseinanderstrebenden Farnen, sah sie sich um. Was täte sie ohne Karell? »Und dafür braucht es dich?«, fragte sie wieder. »Du glaubst nicht, dass sich der Konsul schon darum gekümmert hat?« Potz schüttelte den Kopf: »Ich habe mit magnetischen Impulsen Versuche gemacht. Der Log ist dafür nicht bereit. Die haben nicht an die Sonne gedacht. Sie hätten an alles denken müssen.« Emma wusste nicht, was sie davon halten sollte. »Wir sollten zusammenbleiben«, sagte Potz nun ohne das Grinsen, »die Bären«, fügte er an.
Emma schlich also wieder dem Potz’schen Summen hinterher, ärgerte sich über ihre Blindheit, seine Worte hallten in ihrem Kopf nach: Jeder dunkle Fleck konnte ein Bär sein und Magnete störten den Log. Sie wusste nicht, was schlimmer war. Manchmal sah sie Bären in den Zweigen hängen. Manchmal glaubte sie Karels Vibrieren zu spüren. In ihrem Kopf verhandelte sie mit den Bären, die sie doch nie zu treffen hoffte. Jackie hätte ihnen geräucherten Fisch und Käse aus ihrem Rucksack gereicht, als zollte sie ihnen Tribut auf dem Weg durch den Wald, und die Bären hätten sie ruhig weiterziehen lassen. Wie in einem Märchen, als könnten die Bären sprechen. Ihre Schuhe machten immer noch dieses Geräusch, die Füße in den Socken mussten schon ganz aufgeweicht sein. So trottete sie dem Summen nach und wusste nicht, was sie hier eigentlich tat, denn sie konnte ohnehin nichts pflücken, da sie kaum etwas sah. Vielleicht war sie Bärenfutter. Potz blieb stehen, hielt ihr etwas vor das Gesicht: »Riech.« Es stank abscheulich, aber auch frisch. »Was so riecht, kann man essen«, meinte er, dann entfernte er den Farn aus ihrem Gesichtsfeld und deutete um sich: »Alles, was so riecht.« Sehen musste sie dafür nicht, das ist wahr. So brachten sie einige Zeit zu, Potz’ Summen war manchmal näher und manchmal ferner, aber immer hörbar. Nach einiger Zeit machten sie sich auf den Rückweg und Potz fragte, ob sie von hier alleine zurückfände und sie nickte. Sie konnte die Umrisse des Felsens von hier aus sehen. Sie erinnerte sich wieder an das Spiel, das sie in ihrer Kindheit im Virtuali gespielt hatte, aber sie war nie weiter als bis Level vier gekommen, sie hatte nicht einmal einen Wolf gezähmt und konnte sich an die Pflanzen und ihre Gerüche kaum erinnern. Das Spiel hätte sie für das jetzt vorbereiten können. Potz’ Summen war ihre einzige Sicherheit. Vielleicht kannte er das Spiel auch, hatte es sogar zu Ende gebracht. So ging sie weiter, als es plötzlich stumm wurde um sie und nur mehr das Laub, das Quietschen ihrer Schuhe, das Brechen der Zweiglein zu hören waren. Als seien alle Tiere verstummt: Die Vögel sangen nicht mehr. Sie lauschte, schob ihre Füße langsam aus den Sneakern, drückte sich an einen Baum. Da ertönte ein Dröhnen über ihr, der Wind tobte, das nasse Laub klatschte ihr ins Gesicht, Zweige brachen und die Tiere des Waldes schienen zu schreien und zu kreischen. Sie rannte los, nicht wissend, in welche Richtung sie sollte, um dem Toben aus dem heiteren Himmel zu entgehen, stolperte dahin und stürzte schließlich über etwas Weiches. Jedoch war es nicht, wie sie befürchtete, ein schlafendes Bärenkind, sondern Jackies Rucksack, und um sie beide tanzte das Laub. Wo war Jackie? Wo war Gruber? Emma griff nach dem Rucksack und rannte weiter, hörte Jackie rufen: »Das Geschrei der Bäume von Nordwesten!«, als das Getöse plötzlich tiefer zu werden schien. Jetzt begriff sie, dass über ihnen ein Helikopter war. Sie lief in die andere Richtung, rannte und wusste, dass es für Jackie nicht gut ausgegangen war, wusste, dass sie gefunden worden war, bis jemand sie von hinten packte, in eine Richtung zerrte, über einen kleinen Abgrund stieß und in das Erdreich unter einen halb vom Sturm entwurzelten Baum zog. Sie wollte schreien, presste den Rucksack an sich, doch Potz umschloss sie mit den Armen, drückte ihr Gesicht in die schwarze Erde, den Schlund eines gewaltigen Wurzelwerkes über ihnen. Als hätte die Erde sie verschluckt. Der Rucksack pulsierte, und mit Potz’ Körperwärme um sich gab ihr Geist es endlich auf, ihren Körper wachhalten zu wollen. Sie fiel in einen ohnmächtigen, traumlosen Schlaf.