Читать книгу Die Wölfe von Pripyat - Cordula Simon - Страница 13

9Nur ein Schritt

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Im Jahr 1016 des Konsuls

Kein Signal.

Nur einen Schritt vor die Tür setzen. Dann wüsste er es. Richard zögerte. Seitdem die Betreuungsperson tot aufgefunden worden war, war das Lager mehr oder minder dem Chaos anheimgefallen. Alle Personen, die sich von ihrer Gruppe auch nur für einen kurzen Zeitraum entfernten, wurden unter Verdacht gestellt. Jene, die zur Zeit des Geschehens nicht beim Essen waren, wurden nach und nach überprüft. Richard wusste, dass man ihn fragen würde. Man hatte ihm einen Termin bei der Administration in den Log gepflanzt. Bislang war dieser Termin viermal verschoben worden, da auch andere nicht auffindbar waren oder unkontrolliert im Gelände herumstreiften, was völlig egal gewesen wäre, gäbe es nicht eine tote Betreuungsperson. »Sensei?«, sagte er und der Log antwortete: »Ja, Romeo?« – »Wie lange bis zum Gespräch mit der Lagerleitung?« – »Drei Stunden und fünfundvierzig Minuten«, antwortete der Log. Richard hatte sich entschieden, denn sie waren weg. Alle, die in seiner Hütte waren, waren weg. Er würde auf der Prioritätenliste ganz nach oben rutschen. Nur: Was sollte er ihnen sagen? Er hatte nichts vorzuweisen. Er wusste nicht, was die drei im Sinn hatten. Sonst hätte er sie aufhalten können. Niemand hatte mit ihm gesprochen. Er würde wie ein unwissender Idiot dastehen. Das würde ihm die Leitung böse ankreiden. Aber da war dieses Zucken in seiner Hand gewesen, und wenn er das richtig deutete, würde er aus dem Lager spazieren können. Er kam seit Jahren her, er kannte das System. Er wusste, was im Lager von ihm erwartet wurde und was er durfte, und noch wichtiger: Er wusste, was andere durften. Er stopfte seinen Regenmantel in den Rucksack, denn Regen war geplant. Wohin konnten sie schon gegangen sein? Alles außer der Gelehrtenrepublik wäre einfach nur dumm. Was sollten sie woanders? Sie konnten auch sonst nirgendwohin. Der Log gab überall innerhalb des Territoriums der Union, wo Empfang war, ihre Position durch. Nur wenn sie die Goldene Stadt erreichten, konnten sie über den Log nicht mehr geortet werden. Aber das bedeutete noch lange nicht, dass man sie dann nicht mehr erwischen konnte. Der Osten war voll von Gaunern und Betrügern. Er nahm sich zusammen. Nur ein Schritt, vorbei am Torhäuschen, und er war draußen. Er würde nicht mit leeren Händen kommen.

Wo lag nun diese Gelehrtenrepublik genau? Er wusste alles über sie, hatte alles gelesen, und doch hatte er keine Ahnung, wo sie sich wirklich befand. Die Selbstortung des Logs war jetzt natürlich blockiert. Eine Sicherheitsmaßnahme, die verhindern sollte, dass man aus dem Lager einfach in den Wald hinausspazierte. Man konnte nur verloren gehen. Ohne Orientierung kein Fortkommen. Eine Himmelsrichtung war noch lange keine Wegbeschreibung. Wie stellte Potz das an? Sie waren doch zu dritt, Potz hatte doch Emma und Jackie dabei, sie mussten Spuren hinterlassen haben. Osten also. Nur ein Schritt. Ein Schritt vorbei am Wachpersonal. Die Hand mit ruhigem Gesichtsausdruck vor den Sensor halten. Die Facial Expressions hatte er jedes Mal absolviert. Er konnte das, er sagte sich, dass er das konnte. Wenn er Potz nur in die Finger bekam. Der war ihm von Anfang an suspekt gewesen. Aus gutem Grund. Potz, der seine Jackie verschleppt hatte. Jackie, die ihn irgendwie wollte und irgendwie auch nicht. Vielleicht war sie einfach ein Symptom dieser Zeit. Die Administration, zu diesem Schluss war Richard gekommen, hasste den Trieb, hasste das Archaisch-Biologische, hasste die alte Körperlichkeit, hasste den Instinkt. Der Instinkt kann jedoch umgeschrieben werden. Der Log hatte ihm gesagt, dass er und Jackie gut zueinanderpassen würden, und halb wollte sie ihn, halb wollte sie ihn nicht. So wie die Administration den Trieb nicht wollte, aber andererseits die Idee liebte, dass hier, im Lager, im geschützten Rahmen, Menschen nach den über sie verfügbaren Informationen kombiniert wurden. Er hatte schließlich die Statuten von Untermürbwies gelesen. Wer Gesellschaft hatte, machte sich keinen Sorgen um die Welt. Er hatte sich damit befasst, als er das erste Mal bemerkt hatte, dass sein Schaft über seine Hand hinausragte. Information ist wichtig, egal worum es ging. Der Log hatte ihn und Jackie abgesegnet. Jackie, das Wunderwesen, die ideale Ergänzung für sein unperfektes Ich. Er ließ seinen Hormonstatus regelmäßig auslesen.

Dann aber hatte sie gestern abend ihre kleinen, weißen Händchen an seinen Hals gelegt, ihn angelächelt, ihr Gesicht dem seinen genähert, und plötzlich fand er sich aus der Tür gestoßen. Er hatte gedacht, wenn er sich zu Emma legte, würde Jackie nicht mehr in ihrer Entscheidung schwanken. Er hatte sich Gedanken gemacht, nach allem, was er gelesen hatte über Evolution, Monogamie, Eifersucht. Er wusste, irgendwann würde sich die Welt ihm beugen, auch er würde bekommen, was er wollte. Jackie. Sie würde sich über ihre eigene Ablehnung ärgern. So funktionierte das: Sie würde ihn nur interessant finden, wenn die andere, also Emma, ihn interessant fand. Aber auch da: Potz, Potz, Potz. Potz musste sich überall einmischen. Potz hatte ihn, als sie sich kennenlernten, von oben nach unten gemustert und ein Manlette genannt. Da hatte Richard ihm noch entgegengeworfen, dass er eben ein neues biologisches Konstruktionsprinzip sei. Doch Potz hatte auf den Boden gespuckt und gemeint, dass »neue biologische Konstruktionsprinzipien zu Beginn immer eher Mitleid als Enthusiasmus« hervorriefen. Dann hatte Potz mit einer Liste von Kreaturen aus Flora und Fauna begonnen, die er für mitleiderregend hielt, bis Richard die Hütte verließ. Ein widerlicher Mensch. Und stinken musste er! Potz zog seinen Mantel niemals aus. Dieses Ding könnte man vermutlich auch ohne den Potz’schen Inhalt einfach hinstellen und es würde nicht umfallen. Hoffentlich machte Richard das Asthma nicht einen Strich durch die Rechnung. Alles konnte man wegzüchten, wegcrispern, nur Asthma nicht. Sein Asthma war kein körperliches Leiden. Sein Asthma war gesellschaftlich induziert. Sein Asthma war psychosomatisch. An seinem Asthma waren andere Menschen schuld. Menschen wie Potz. Hater. Potz war ein Hater. Jedes Jahr traf er hier Hater und jedes Jahr rückte das Lager den Hatern den Kopf zurecht. Der hatte ja keinen Tau, wie es war, wenn man ein derartiges Joch zu tragen hatte. Die Welt musste sich ändern, dachte Richard, und gewiss war der richtige Weg gefunden, aber wie lange dauerte es, bis er endlich zu Ende beschritten war!

Er würde Jackie zurückbringen. Potz würde dann auch seiner gerechten Strafe zugeführt. Potz hatte seine arme Jackie mitgeschleift. Dass er Emma mitgenommen hatte, war kein Wunder. Emma hatte Onlinezeit und war ja offensichtlich eine richtige Haeckse. Wer hätte gedacht, dass sie sie mit dem bisschen Onlinezeit einfach aus dem Lager entlassen konnte. Potz hatte Emma hineinziehen müssen, da war Richard sicher. Schließlich sind die Nachrichtenfunktionen des Logs für die Zeit des Lagers blockiert. Aus gutem Grund. Resozialisierung ist, wenn man digital im früheren Umfeld steckt, nicht möglich. Potz hatte sicher etwas richtig Schlimmes gemacht da draußen. Er kannte solche wie ihn. So einer war nicht da, weil er einen kleinen Fehler gemacht hatte, aber aus reinen Absichten handelte. So einer wie Potz war hier, weil man ihn immer und immer wieder meldete, das kannte Richard auch. Richard wurde von den Friedensstifter-innen in der Schule so oft gemeldet, dass sogar das, wenn man es zusammenrechnete, ausreichte, um ihm einen Sommer im Lager zu bescheren. Die anderen hatten Ferien am Strand. Aber immerhin musste er die Friedensstifter-innen den ganzen Sommer lang nicht sehen. Er selbst war ein Opfer von Mobbing, nichts weiter. Dass er die Friedensstifter-in geschlagen hätte, war auch nicht wahr. Er hatte nur in Notwehr die Arme gehoben, als diese eine Flasche nach ihm warf. Aber Potz, Potz war ein echter Querulant. Richard hatte sich nie gegen die Union aufgelehnt, nicht wirklich. Er hatte Verbesserungsvorschläge, aber die meisten behielt er für sich, denn Friedensstifter-innen waren überall.

Hatte denn niemand daran gedacht, wie unglaublich widersinnig es war, all die kleinen Leser-innen und Pseudorevolutionär-innen in ein einziges Lager zu stopfen? Da musste ja schließlich so etwas wie jetzt passieren. Hätte er das designed, wäre das nie geschehen. Auch Stalin hatte sie über Sibirien verteilt und mit Gewaltverbrechern zusammengesteckt. Da gab es eine physische Hackordnung. Lernte denn niemand aus der Geschichte? Man sollte sie genau dem aussetzen, was sie sich so sehr wünschten: echter Zivilisationsfremde. Aber vielleicht passierte nun gerade das mit Potz. Eingehen soll er da draußen. Vermutlich hatte er die Betreuungsperson getötet. Nein, eingehen sollte er nicht. Einsammeln sollte er sich lassen. Von ihm, Richard. Die Administration wäre erfreut. Er atmete durch. Man würde seinen Namen auf der Bühne vorlesen. Nicht die Gruppe, die Hütte, nein, ihn. Die entführte und gerettete Jackie neben ihm. Er hatte Jackie verdient. Als Ausgleich. Man konnte ihr sofort ansehen, dass sie ein Blitzkind war, nicht so wie die zurechtgecrisperten, denen die Eltern als Ausgleich abstehende Ohren mitgegeben hatten, weil »Premiumkind« ein Schimpfwort geworden war. Aber Jackie, Jackie sah man und sah, was Sache war. Sie war perfekt und hilfsbedürftig gleichermaßen. Mag sein, dass er crispophil war und gerne ein Crispkin geworden wäre, aber nicht alle Kin waren legal. Die Drachen waren es. Crispophil war in Ordnung, nur die Robophilen wurden beäugt, als seien sie bekloppt, aber Richard selbst hatte daran nichts gefunden – er selbst hatte auch einmal eine Spazierfreundin gehabt, das handförmige Maschinchen mit dem Drucksensor, der Heizung, aus hautähnlichem Material, das Schritte, Atem und das Geräusch von Kleidung beim Gehen imitierte. Seine Eltern hatten geglaubt, dass so eine »Freundin« ihn erden würde, aber Richard verrenderte sich nicht.

Der Durchgang zur Außenwelt lag vor ihm. Noch nie hat mich mein Handgefühl betrogen, sagte er sich. Aufrecht schritt er vorbei an dem Sensor, lächelte, ging weiter. Noch ein Schritt, nur noch einer, und ohne, dass ihn jemand aufhalten wollte, spazierte er hinaus in den Wald. In Richtung Osten. Wenn er sie nicht fand da draußen, konnte er niemandem Bescheid geben. Doch er hatte Ahnung. Er hatte schon Online-Tests gemacht, ob er in der Wildnis überleben würde. Er wusste, wie der Wald funktionierte. Er wusste, wie die Welt funktionierte. Das Licht der Aufklärung leuchtete ihm. Er trat durch das Tor. Er war auf sich allein gestellt.

Die Wölfe von Pripyat

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