Читать книгу Mia und die Schattenwölfe - Corina Sawatzky - Страница 11

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Der Weise Fels

Das Gesicht in der Felswand begann zu sprechen und nun endlich konnten auch Sophie, Lindara und Tristan die tiefe, sonore Stimme hören.

„Seid gegrüßt, ihr Menschenkinder, und du, Tochter des Elfenvolkes! Ich bin froh, dass ihr meinem Ruf gefolgt seid!“

Als das Felsgesicht eine kurze Pause machte, wisperte Sophie ehrfürchtig: „Das muss der Weise Fels sein, der den Magischen Rat immer unterstützt hat!“

Das Gesicht aus Stein, das Sophies Bemerkung gehört hatte, nickte bestätigend. „So nennt man mich wohl, ja. Und ich habe euch etwas zu sagen.“

Die Kinder und die Elfe konnten kaum glauben, dass der Weise Fels tatsächlich sein Wort an sie richtete, und lauschten gespannt auf das, was nun kommen würde.

Mit seiner tiefen Stimme verkündete das Gesicht: „Unheil hängt über dem Magischen Wald! Der dunkle Meister Taragonn und seine Schattenwölfe haben an Macht gewonnen. Seit einigen Wochen bedrohen sie die arglosen Waldbewohner und versetzen sie in Angst und Schrecken. Es gibt einen Weg, diese Bedrohung zu bannen, doch er ist äußerst schwierig und gefahrvoll, vor allem für so junge Geschöpfe, wie ihr es seid!

Gerne würde ich den Magischen Rat mit jener Aufgabe betrauen, aber das ist in diesem Fall nicht möglich. Taragonn hat eine Methode gefunden, die Gedanken der Mitglieder des Magischen Rates zu lesen. Würde ich ihnen also sagen, wie das Loch in dem Tor zwischen den Ebenen zu verschließen ist, würde Taragonn ebenfalls Kenntnis davon erlangen. Und natürlich würde er alles dafür tun, den Magischen Rat aufzuhalten. Darum habe ich geschwiegen, als die Zauberer und Hexen mich befragten. So denken sie und dadurch auch Taragonn, ich sei verstummt oder wüsste in diesem Fall keinen Rat.

Aber auf die Idee, eure Gedanken zu lesen, kommt der dunkle Meister erst gar nicht. Ihr erscheint ihm zu unbedeutend, um seine Pläne zu durchkreuzen.

Ich dagegen setze große Hoffnung in euch. Ihr seid eine Gruppe mit sehr unterschiedlichen Fähigkeiten. Vielleicht könnt ihr es gemeinsam schaffen, das Loch im Tor zwischen den Ebenen zu verschließen.“

Sophie, Mia, Lindara und Tristan hielten den Atem an. Meinte der Weise Fels das wirklich ernst? Sie – drei Kinder und eine junge Elfe – sollten den Magischen Wald vor dem mächtigen Taragonn und seinen Schattenwölfen retten?

Lindara fasste sich als Erste und fragte: „Wie soll das möglich sein? Was müssen wir tun?“

Der Weise Fels nickte zufrieden. „Also seid ihr gewillt, das Wagnis einzugehen?“

Nacheinander bejahten die vier seine Frage.

Daraufhin fuhr das Gesicht fort: „Nun denn. Wie ich bereits sagte, wird es äußerst schwierig werden. Wir müssen einen ganz besonderen Zaubertrank brauen. Dazu werde ich euch jetzt die nötigen Zutaten nennen.“

Tristan hatte stets eine Gürteltasche um die Hüften gebunden und kramte nun schnell einen Zettel daraus hervor. Sophie, die seit dem Marktbesuch den selbst schreibenden Stift immer bei sich trug, zog ihn schnell aus der Hosentasche. Die beiden Kinder legten die Gegenstände zusammen auf den Boden, damit der Stift die Zutaten für den Zaubertrank notieren konnte.

Als alles bereitlag, begann der Weise Fels zu diktieren:

„Wir brauchen:

100 ml Wolkenwasser,

die Schuppe eines Chindregons,

die Träne eines Einhorns

und

das Blatt einer Zitteralge.

Kommt wieder zu mir, sobald ihr diese Zutaten beschafft habt. Gemeinsam werden wir dann einen Zaubertrank daraus brauen und die Gefahr bannen.“

Alle außer Mia, der die meisten der genannten Dinge nichts sagten, stöhnten fassungslos auf.

„Das ist schier unmöglich!“, ächzte Lindara.

Das Felsgesicht antwortete milde: „Ich sagte ja bereits, dass es schwierig werden wird. Leider gibt es keine andere Möglichkeit. Ihr müsst euer Bestes geben, um die Bewohner des Magischen Waldes zu retten! Ich glaube fest an euch!“

Nach einer kurzen Pause erkundigte es sich: „Habt ihr noch Fragen?“

Alle schüttelten die Köpfe.

Daraufhin sagte der Weise Fels sehr eindringlich: „Gut, dann denkt unbedingt daran, niemandem von unserem Gespräch und dem Zaubertrank zu erzählen. Wenn ein Mitglied des Magischen Rates von dem Vorhaben erfährt, wird Taragonn seine Gedanken lesen und dann ist alle Hoffnung auf das Gelingen des Plans zunichtegemacht. Bewahrt also unter allen Bedingungen Stillschweigen! Und versucht, die Zutaten noch vor dem nächsten Vollmond zu besorgen. Dann ist es uns vielleicht möglich, das Loch im Tor rechtzeitig zu verschließen und den Schattenwölfen schon beim nächsten Mal den Zugang zu versperren, bevor sie noch mehr Bewohner des Magischen Waldes entführen.“

Während der letzten Worte begann der Fels, sich langsam zu verformen, sodass das Gesicht verschwand und die kleine Gruppe schließlich wieder auf eine ganz normale Felswand starrte.

„Boah!“, entfuhr es Tristan. „Das ist einfach nur krass!“

Die anderen waren genauso perplex. Keiner von ihnen konnte glauben, was gerade passiert war. Hatte der Weise Fels tatsächlich gerade eben ihnen eine so verantwortungsvolle Aufgabe übertragen?

Die Möglichkeit, das Loch im Tor zwischen den Ebenen verschließen zu können, war sehr verheißungsvoll. Aber alle außer Mia wussten, wie schwer die Zutaten für den dafür nötigen Zaubertrank zu beschaffen waren. Daher waren sie sich nicht sicher, ob sie das jemals schaffen würden. Sie waren hin und her gerissen zwischen der Freude über die Aussicht, etwas gegen die Schattenwölfe unternehmen zu können, und der Angst vor dem, was bei der Beschaffung der Zutaten passieren könnte. Vor allem die große Verantwortung, die ihnen auferlegt worden war, lastete schwer auf ihnen.

Schließlich siegte die Hoffnung, den Bewohnern des Magischen Waldes helfen zu können. Außerdem konnte sich keiner der vier dagegen wehren, bei dem Gedanken an die kommenden Abenteuer allmählich auch von einer freudigen Erregung erfasst zu werden. Alle waren sich einig, dass es definitiv besser wäre, sich in eine Aufgabe zu stürzen – so schwierig sie auch sein mochte – als untätig auf die nächste Vollmondnacht und die damit verbundenen Schrecken zu warten.

Die vier Freunde schauten sich gegenseitig an und allen war dabei die Aufregung ins Gesicht geschrieben. Am liebsten hätten sie sofort angefangen, Pläne zu schmieden, wie sie ihr Vorhaben angehen wollten. Aber der Tag neigte sich inzwischen schon langsam seinem Ende zu und sowohl Mia und Sophie als auch Tristan wurden zu Hause erwartet.

Daher machte die kleine Gruppe sich auf den Heimweg.

Während sie die gleiche Strecke zurückliefen, die sie gekommen waren, redeten sie aufgeregt durcheinander.

Sophie wollte gerade anfangen, ihrer Cousine zu erklären, um was genau es sich bei den einzelnen Zutaten für den Zaubertrank handelte, als sie plötzlich erschrocken innehielt. Sie schlug sich die Hand vor den Mund und hauchte: „Oh nein! Wir müssen aufpassen! Der Weise Fels hat doch gesagt, niemand dürfe von dem Vorhaben erfahren! Wenn wir weiter so laut reden, bekommt es noch der halbe Wald mit!“

Die anderen nickten zustimmend. Sophie hatte recht – sie mussten in Zukunft besser aufpassen, wo sie über ihr Geheimnis sprachen. Schließlich war es extrem wichtig, dass es gewahrt blieb.

Also einigten sie sich darauf, sich am nächsten Tag in Lindaras Baumhaus zu treffen. Dort würden sie Mia alles Nötige erklären und darüber nachdenken, wie sie an die Zutaten kommen könnten.

Mit dieser Abmachung trennten sie sich an einer Weggabelung, an der Tristan und Lindara eine andere Richtung einschlagen mussten als Mia und Sophie.

Die Mädchen legten den Rest des Weges schweigend zurück, weil im Moment keine von ihnen über etwas anderes als über ihre bevorstehenden Abenteuer reden wollte.

Die Haustür beschnüffelte die beiden bei ihrer Ankunft und ließ sie mit einer freundlichen Begrüßung ein.

Tante Anna, die während der Abwesenheit der Kinder noch etwas geschlafen hatte, wirkte erholt und wesentlich besser gelaunt als noch am Morgen. Zwar sah man ihr bei genauerer Betrachtung an, dass auch sie von den verschleppten Bewohnern gehört hatte, aber sie mied das Thema und bemühte sich, Mia und Sophie nicht weiter zu ängstigen. Sie konnte ja schließlich nicht ahnen, dass die Mädchen wesentlich mehr wussten als sie selbst!

Als Tante Anna die Kinder kurze Zeit später aufforderte, zum Abendessen zu kommen, war Mia in Gedanken immer noch beim Weisen Fels und dem, was er ihnen anvertraut hatte. So passierte ihr etwas, das seit ihrer Ankunft im Magischen Wald nicht mehr vorgekommen war: Sie achtete nicht genau darauf, auf welchen Stuhl sie sich setzte, sondern zog einfach gedankenverloren einen beliebigen von ihnen zu sich heran. Schon im nächsten Moment bekam sie jäh die Quittung für ihre Unachtsamkeit. Ihre Kniekehlen fanden zwar den gewohnten Halt auf der Sitzfläche, ihr Po dagegen nicht. Er sackte einfach nach unten, bis er fast den Fußboden berührte und Mias Oberarme gegen die seitliche Sitzumrandung stießen. Verblüfft und hilflos zappelte sie nun mit den Beinen in der Luft und versuchte, sich irgendwie aus der Stuhlöffnung herauszuziehen. Doch leider steckte sie so fest, dass ihr das trotz aller Mühe nicht gelingen wollte. Glücklicherweise war Tante Anna sofort zur Stelle und eilte ihrer Nichte zu Hilfe. Energisch packte sie sie an den Armen, zog sie nach oben und befreite sie auf diese Weise aus ihrer misslichen Lage.

Als Mia wieder sicher auf zwei Beinen stand und sich noch ganz perplex zu dem Stuhl umdrehte, wurde ihr schlagartig klar, was genau passiert war: Der Stuhl, auf den sie sich hatte setzen wollen, war ausgerechnet Charlie gewesen. Ungezogen, wie er war, hatte er Mias Unaufmerksamkeit ausgenutzt und seine Sitzfläche einfach nach unten weggeklappt.

Während Mia sich noch über ihre eigene Gedankenlosigkeit ärgerte, wandte Tante Anna sich Charlie zu. Streng tadelte sie ihn: „Wie kannst du nur!? Hast du deine Lektion immer noch nicht gelernt? Offensichtlich brauchst du eine andere Strafe als nur eine Nacht auf dem Dachboden! Dieses Mal bleibst du eine halbe Woche dort oben! Und jetzt will ich dich hier nicht mehr sehen – verschwinde und komm erst in dreieinhalb Tagen wieder runter!“

Charlie setzte sich in Bewegung und trippelte durch die Tür. Anschließend hörte Mia, wie er die knarrende Treppe hinaufstakste.

Tante Anna streichelte ihrer Nichte über den Kopf und sagte: „Es tut mir so leid, mein Schätzchen, dass es immer wieder dich trifft! Hast du dir wehgetan?“

Mia versicherte, dass mit ihr alles in Ordnung sei, und ließ sich, immer noch ein wenig zittrig, auf einem der anderen Stühle nieder.

Während des Essens bemühten die beiden Cousinen sich angestrengt, möglichst unauffällig zu wirken. Es war enorm schwierig, Tante Anna gegenüber nichts von ihrem Geheimnis zu erwähnen. Mia und Sophie berichteten zwar, wie sie heute nach dem Einhorn gesucht hatten und dass ihre Suche leider erfolglos geblieben war. Was sie allerdings darüber hinaus erlebt hatten, verschwiegen sie wohlweislich.

Mia hatte ständig Angst, sich zu verplappern und aus Versehen doch etwas von dem Gespräch mit dem Weisen Fels auszuplaudern. Daher war sie froh, als Tante Anna sie und Sophie schließlich mit einem Gute-Nacht-Kuss ins Bett schickte. Ihrer Cousine schien es ähnlich zu gehen.

Die Mädchen huschten erleichtert nach oben, machten sich schnell im Bad fertig und schlüpften anschließend in ihr gemeinsames Bett. Dann endlich konnten sie sich wieder über das Thema unterhalten, das ihnen beiden auf der Seele brannte.

Flüsternd tauschten die Mädchen ihre Gedanken aus. Sie hofften so sehr, den Bewohnern des Magischen Waldes helfen zu können! Beide waren sich einig, dass diese Aussicht es wert war, große Gefahren auf sich zu nehmen. Mia konnte sich zwar noch nicht ganz genau vorstellen, wie diese Gefahren wohl aussehen könnten, aber sie war trotzdem fest entschlossen, sich ihnen tapfer zu stellen.

Mia und die Schattenwölfe

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