Читать книгу Faywood Manor - Corinne Lehfeldt - Страница 4
Kapitel 1
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Das Wetter war feindselig. Der nassgraue Himmel schüttete verschwenderisch eisigen Regen auf die geduckte Welt unter sich. Der Wind heulte drohend durch die ohnehin schon leergefegten Straßen. Alle Welt verkroch sich in den hintersten Winkeln, von deren Existenz vorher niemand etwas geahnt hatte. Leere Fenster starrten in leere Straßenschluchten.
Niklas lief mit eingezogenem Kopf und zugekniffenen Augen durch das Unwetter. Er wollte nichts als irgendwie durchkommen und es hinter sich bringen. Seine Jacke war inzwischen so durchnässt, dass sie sich eher mit dem Regen verbündete, als dass sie vor ihm Schutz bot.
Das Schild des „Cafés Mathilda“ war wie ein Leuchtturm. Soweit es Niklas möglich war, schüttelte er den Regen ab und trat durch die verschnörkelte Tür aus dunklem Holz und grünem Glas ins Innere.
Es hätte nicht wirklich ins Schwarze getroffen, das „Mathilda“ als Zufluchtsort zu bezeichnen, denn das hätte die fordernde, feindliche Welt da draußen ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Das „Mathilda“ war eine eigene Welt, ein Mikrokosmos, in dem es erlaubt war so zu tun, als gäbe es da draußen nichts, was Grund zur Beunruhigung wäre. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte Niklas jeden hier gekannt.
Im „Mathilda“ gingen hauptsächlich Künstler ein und aus, solange der Welt noch nicht klar war, dass sie Künstler waren. Bei der Frage nach ihrem Beruf hätten die Wahrheitsliebenden unter ihnen wohl mit „Kellner“, „Taxifahrer“ oder „Empfangsmitarbeiter“ antworten müssen. Im „Mathilda“ fielen die Masken. Hier waren sie unter sich, und es war nicht länger der Erfolg, der zählte, sondern die Leidenschaft.
Niklas erinnerte sich an Michelle, die sich im „Mathilda“ von den endlosen Stunden erholte, in denen sie in einem chinesischen Schnellimbiss am Telefon saß und die Bestellungen entgegennahm. Diese Ära endete an einem verregneten Dienstagnachmittag im Februar, als ihr Agent anrief und ihr mitteilte, dass sie eine Nebenrolle in einer zu diesem Zeitpunkt schon sehr beliebten TV-Serie hatte. Michelle ließ alles an Ort und Stelle fallen und rannte wie ein Wirbelwind aus dem „Pearl of China“, so dass ihrem Agenten nicht einmal mehr genug Zeit blieb, um bei der Gelegenheit noch Ente Süß-Sauer zu bestellen, wie er es eigentlich vorgehabt hatte.
Am Abend nach der ersten Kostümprobe hatte sie ihr neues Leben im „Mathilda“ gefeiert, und alle – einschließlich Niklas – hatten sich mit ihr gefreut, aber seither hatten sie sie nicht mehr zu Gesicht bekommen.
Ähnlich war es mit Jimmy gewesen, der damals die Briefkästen der Stadt mit unerwünschten Werbeflyern bestückt hatte und jetzt Kinderbücher illustrierte. Sogar Millie, die im „Mathilda“ hinter der ehrfurchtsgebietenden Theke aus dunklem Holz stand, war da keine Ausnahme. Jeden Moment konnte das magische Klingeln des Telefons sie dazu veranlassen, mit großer Geste ihre Schürze hinter sich zu werfen und für immer durch die Tür mit der Jugendstilverglasung ins Freie zu treten, geradewegs hinein in den Orchestergraben irgend eines Konzertsaals.
Dann gab es noch diejenigen, die nicht mehr kamen, weil sie aufgegeben hatten. Wenn man den Ruf der Muse erst einmal ausgeblendet hatte, war das „Mathilda“ einfach kein passender Ort mehr. Ein solcher Fall war Joel, Comic-Zeichner mit Leib und Seele, der inzwischen eine Ausbildung in einer Spedition machte. Niklas war klar, dass er selbst auch nicht mehr hierher kommen würde, wenn es bei ihm erst einmal so weit sein würde.
Er versank in dem roten, von den Jahren arg mitgenommenen Samtsessel, der in der hintersten Ecke stand. Er lehnte sich zurück und tauchte in den Schatten. Reglos wartete er darauf, dass sein beschleunigter Atem sich beruhigen würde, ganz wie ein Ertrinkender, der sich im letzten Moment auf festen Grund gerettet hatte, und den es für den Augenblick nicht kümmerte, ob es sich dabei um eine bewohnte Insel oder einen öden Fetzen im Meer handelte. Er wusste nicht, wie er jemals wieder die Kraft aufbringen sollte, um den warmen, dunklen Kokon, der ihn jetzt umgab, zu verlassen und hinaus in die feindselige Welt zurückzukehren. In einem verspäteten Anflug von kindlichem Aberglauben schloss er die Augen und wünschte sich dringend, der Tag möge einfach enden.
Vielleicht würde es ja niemandem auffallen, wenn er in diesem hintersten Winkel die Nacht verbrachte und mit einem kleinen, kümmerlichen Funken von untypischem Glück traumlos schliefe bis zum Morgen. Unmöglich wäre es nicht. Das „Mathilda“ gehörte wohl kaum zu den Cafés, das täglich von einer Putzfrau heimgesucht wurde. Allein das Mosaik aus klebrigen Ringen auf dunklen Holztischchen bewies eindrucksvoll das Gegenteil, ganz zu schweigen von den Staubpartikeln, die im schummerigen Licht der Jugendstillampe tanzten. Niklas gab sich der tröstlichen Illusion hin, er müsste vielleicht nur die Nacht hinter sich bringen. Am Morgen würde vielleicht das Tageslicht eines seiner berühmten Wunder wirken und alles ganz anders aussehen lassen. Wie genau das Licht aussehen könnte, in das der neue Tag die Realität tauchen müsste, damit sie weniger trostlos erschien, dafür fehlte Niklas allerdings die Phantasie. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie es gelingen sollte, im letzten Moment eine Geschichte umzuschreiben, die abgefasst, editiert und in Stein gehauen war.