Читать книгу Faywood Manor - Corinne Lehfeldt - Страница 8
Kapitel 5
ОглавлениеDas Theater war bis auf den letzten Platz besetzt. Die Luft vibrierte von murmelnden Stimmen. Dann schwand das Licht, und Stille senkte sich über den Raum. In glühendem Licht hob sich die kleine, fremde Welt der Bühne aus dem Dunkel.
Er hätte gar nicht da sein sollen, an diesem Abend. Jemand hatte ihn gedrängt mitzukommen.
Ein Sommernachtstraum
Er hatte das Stück früher schon einmal gesehen. Das hatte er auch gesagt, in der Hoffnung, nicht mitkommen zu müssen, aber hier war er nun. Wenn er ehrlich war, erinnerte er sich auch nur noch an den Wald, in dem man sich eine Nacht lang verirren konnte, um am nächsten Morgen festzustellen, dass ganze drei Wochen ins Land gegangen waren.
Er sah über seine Schulter und Caroline saß neben ihm.
„Wo bleiben die drei Wochen?“, flüsterte er ihr zu.
Der Blick, den sie ihm zuwarf, war ihm vertraut. Es war kein liebevoller, nicht einmal ein freundlicher Blick. Vielmehr schien er zu sagen, dass niemand außer ihm auf eine so absurde Frage kommen würde. Allein das Wiedererkennen sagte ihm, dass alles gut war.
Sie sagte nichts weiter. Sie lehnte nur den Kopf an seine Schulter. Ihm stockte der Atem darüber, wie nah und warm er sie plötzlich wieder spürte.
„Das ist ein Feenring“, sagte sie.
Ein heftiger Ruck weckte ihn. Erschrocken fuhr er hoch und sah sich um. Er hatte vergessen, wo er war.
Edward sah von dem Buch auf, in dem er bis zu diesem Moment seelenruhig gelesen hatte.
„Wie lange…“
„Über eine Stunde“, beantwortete Edward die unausgesprochene Frage.
Fast ungläubig sah er die Landschaft, die sich vor dem Fenster vollkommen verändert hat. Sie war viel ländlicher als vorher. Tiefgrüne Wiesen wurden von Natursteinmauern und schmalen Feldwegen durchzogen. Alte Bäume breiteten ihre Kronen darüber. Weiter in der Ferne war eine friedlich grasende Schafherde auszumachen.
„Wir sind in Faywood“, sagte Edward. Es klang wie eine feierliche Ankündigung.
Der Bahnhof von Faywood war der abgelegenste und verwunschenste aller abgelegenen und verwunschenen Bahnhöfe. Das kleine Backsteingebäude war halb überwuchert mit Efeu und wildem Geißblatt, das sich sogar hinauf bis zu dem Schild rankte, auf dem in altmodischen Lettern „Faywood“ zu lesen war. Niklas hätte nicht geglaubt, dass in diesen Bahnhof überhaupt noch Züge einfuhren, wenn er nicht selbst gerade erst mit einem eingetroffen wäre.
Der Bahnhof erinnerte Niklas an eine Geschichte, die er vor langer Zeit gelesen hatte. Eine Gespenstergeschichte war das gewesen. Nachdem der Protagonist hinter die schreckliche Wahrheit über das Herrenhaus gekommen war, hastete er zurück zu dem kleinen Bahnhof im Ort, an dem er wenige Tage zuvor eingetroffen war. Dort angekommen stellte er entsetzt fest, dass der Bahnhof verfallen war, schon vor einer Ewigkeit stillgelegt. Niklas wünschte sich, dass ihm das nicht gerade jetzt wieder eingefallen wäre. Besonders nervös machte es ihn, dass er sich beim besten Willen nicht mehr erinnern konnte, wie die Geschichte weitergegangen war. Er vermutete allerdings, dass es nicht allzu glimpflich für den Protagonisten ausgegangen war. So jemand wurde traditionell niemals wieder gesehen.
Während Niklas derart düsteren Gedanken nachhing, nahm Edward in aller Seelenruhe einen tiefen Atemzug und blickte beinah liebevoll auf die heruntergekommenen Butze von einem Bahnhofsgebäude. Es war schön, wieder zuhause zu sein! Jetzt war es gar nicht mehr weit bis zum Haus, versicherte er Niklas mit einem Leuchten in den Augen. Allerdings wusste in Faywood Manor niemand von ihrer Ankunft, weswegen sie auch niemand vom Bahnhof abholte.
Ein Auto wäre auch ohnehin auf dem schmalen Pfad steckengeblieben, von dem Edward versicherte, er sei der kürzeste Weg hinauf zum Haus. Der Pfad war kaum als solcher zu bezeichnen. Er wand sich hinauf von einem Hügel zum nächsten und wurde dem Anschein nach nur von den Tritten einer äußerst begrenzten Anzahl von Personen offen gehalten, die ihn benutzten, um zwischen Faywood Manor und der Welt dort unten hin und her zu streifen. Wilde Gräser, Farne und Moos überwucherten die Erde, wo immer man ihnen genug Zeit dafür gelassen hatte.
Der erste Vorbote von Faywood Manor war eine halb zugewachsene Statue. Es war die schlanke, hohe Gestalt eines Waldgeistes, aus weißem Stein gehauen, seit Generationen unbeweglich an der Seite des Weges. Efeuranken hielten die vergessene Figur in ihrer immer dichter werdenden Umarmung. Die filigranen Blüten des Kranzes, der das alterslose Gesicht einrahmte, hätte man auf den ersten Blick für einen Teil der Vegetation halten können. Erst wenn man näher trat erkannte man, dass sie aus demselben Stein gehauen waren, der die Zeit überdauert hatte und weiter überdauern würde.
Ein paar Meter weiter kündete ein eisernes Gitter von Faywood Manors Existenz. Die Eisenstangen und das Tor ragten hoch aus wild gewachsenen Sträuchern empor, wie die Überreste einer untergegangenen Zivilisation. Das Tor war schmal und von zwei schlichten Säulen eingefasst. Darauf ruhte ein steinerner Bogen mit einem gemeißelten Wappen, das einen verwitterten Greif zeigte.
Als Niklas sich selbst vor dem meterhohen Eisengitter wiederfand, wurde ihm mit einem Mal bewusst, dass es ernst war. Er hatte nie geglaubt, dass es soweit kommen würde. Es führte kein Weg zurück.
Das Tor hatte die Aura eines seit Jahrzehnten verschlossenen Durchgangs, aber Edward besaß einen Schlüssel, den er mit einer Selbstverständlichkeit aus der Tasche zog, als wäre es der Schlüssel zu seinem Briefkasten. Unmotiviert und mit einem feindseligen Krachen fiel das Tor hinter ihnen zurück ins Schloss. Sie standen auf der anderen Seite, auf dem Grund und Boden von Faywood Manor.
Niklas hatte erwartet, dass man von diesem Punkt aus schon das Haus sehen könnte, aber der Besitz war so weitläufig, dass sie zunächst nur vor dichtem Wald standen, in dem Wildblumen und die widerstandsfähigeren Vertreter einer einstigen Park-Vegetation Seite an Seite zu voller Blüte gelangt waren. Unverwüstliches Unkraut, ebenfalls blühend, kroch über den Waldboden, und im Schatten der dunklen Baumkronen trieben blassblaue Hortensien ein Meer von Blüten. Die ausladenden Sträucher waren vielleicht früher einmal ein planmäßig angelegtes Labyrinth gewesen, denn sie flankierten den Pfad durch den Wald, wohin er sich auch wand. Niklas glaubte für einen Augenblick, den blauen Garten vor sich zu sehen, der sich einmal an diesem Ort befunden haben musste. Er glaubte, das Stimmengewirr der Menschen zu hören, die ihn durchstreift hatten. Dann schlug die Illusion um, und was blieb waren nur die Vogelstimmen, die sie jetzt umgaben. All die Lebensenergie der Wildnis täuschte nicht hinweg über den Verfall und das Verstreichen der Zeit.
Der Weg, dem sie in den immer dichter werdenden Wald folgten, war an den meisten Stellen nur einen Schritt breit. Farnkraut hing über der Erde und gab der Szene umso mehr den Charakter eines Dschungels. Niklas konnte sich nicht erinnern, vorher jemals Wildblumen wie diese gesehen zu haben. Während er versuchte, mit Edward schrittzuhalten, hatte er Mühe, nicht ins Straucheln zu geraten.
„Ich weiß“, seufzte Edward über die Schulter hinweg. „Man dreht dem Park nur mal kurz den Rücken zu und findet einen Urwald.“
Niklas wusste darauf nichts zu antworten, was nicht als missbilligend gegenüber Edwards geliebten Faywood Manor hätte interpretiert werden können. Bevor eine peinliche Gesprächspause entstehen konnte, bestritt Edward die Unterhaltung einfach weiter allein:
„Kaum zu glauben, was daraus geworden ist. Erst neulich wurde ich hier auf dem Gelände gebissen. Glücklicherweise war es bloß ein Werwolf. Die haben in der Regel keine Tollwut.“
„Was?!“, stieß Niklas hervor. Er hatte alle Hände voll zu tun, in im Unterholz weder den Anschluss noch den sicheren Boden unter den Füßen zu verlieren, so dass er nicht in der Lage war einen Scherz von einer ernstgemeinten Aussage zu unterscheiden.
Als wäre ihm dieser Umstand gerade klar geworden, warf Edward ihm einen nachsichtigen Blick zu.
„Ich vergesse immer, dass dir alles hier fremd ist“, sagte er. „Es dauert immer eine Weile, bis man sich mit meinem Humor abgefunden hat.“
Faywood Manor selbst thronte auf dem höchsten Punkt des Hügels, wie ein Wolkenschloss, getragen von den blaublühenden Wildblumen. Es war kein klassisches Schloss auf einer Ebene aus Rasenflächen und strategisch genau angelegten Wegen. Vielmehr schien es halb aus dem verwunschenen Dickicht herauszuwachsen, und sich halb darin zu verstecken. Das Haus selbst war die vollkommene Asymmetrie. Bögen, Erker, Mauern und Giebel schienen auf dem Kopf des Hügels miteinander verwachsen zu sein.
„Das Haus wurde in mehreren unterschiedlichen Epochen erbaut“, erklärte Edward unaufgefordert, als wäre er es gewohnt, dass Fremde vergeblich versuchten, einen bestimmten Baustil zu erkennen. „Es steht auf gotischen Fundamenten aus dem Mittelalter, und dann kam alles, was man sonst noch so braucht. Wann immer ein Faywood es sich leisten konnte, wurde wieder an- oder ausgebaut. Heute wäre natürlich ein kleinerer Rahmen viel zweckmäßiger, aber was soll ich sagen, es führt nun einmal kein Weg zurück.“
Sie traten durch eine portalartige Eingangstür. Niklas kam sich vor, als würde er in Edwards Schatten heimlich ins Innere von Faywood Manor schleichen. Im nächsten Moment standen sie in einer atemberaubend hohen Halle, um die sich eine offene Galerie mit hohen Bögen zog, getragen von imposanten Säulen. Sie schien ganz aus weißem Stein gehauen zu sein, und der weitläufige Boden war komplett mit einem Schachbrettmuster aus weißem und grauem Marmor bedeckt. Es war eine dieser Hallen, in denen zu Weihnachten traditionell zwölf Meter hohe Tannen standen. Allerdings lag über allem ein graues Zwielicht, wie kurz vor Tagesanbruch, das die Szenerie in eine melancholische Aura tauchte. Die Winkel und Nischen des kathedralenhaften Gewölbes lagen im Schatten, was die Halle noch einschüchternder wirken ließ.
Diese ganze Pracht ließ an die Kulisse einer ambitionierten Theaterinszenierung denken. Es war leicht vorstellbar, dass die mächtigen Türen, die Treppen mit ihren verschwenderisch verzierten Geländern und all die Bogengänge ins Leere führen würden. Jenseits davon konnte man eine andere Welt erahnen, sich aber nicht wirklich vorstellen, sie zu betreten.
Edward verlor keine Zeit, den Mythos zu entzaubern und bedeutete Niklas, ihm ins obere Stockwerk zu folgen. Ihre Schritte auf der Treppe, die in schwindelnden Höhen widerhallten, klangen in Niklas’ Ohren unheilvoll, verräterisch. Edward führte sich indes auf wie ein Museumsführer.
„Ich zeige dir am besten zuerst den Korridor“, kündigte er an, als sie den oberen Treppenabsatz erreichten. „Dort hängt der Norland – das heißt, wenn alles gut läuft, hängt er bald wieder dort.“
Niklas nickte, fragte sich aber im Stillen, welcher Korridor gemeint sein könnte. Allein ein Blick nach rechts und links enthüllte zwei Korridore, beide mit hohen Decken und so lang, dass man das andere Ende bestenfalls erahnen konnte. Sich in Faywood Manor zu orientieren war sicher nur möglich, wenn man hier geboren und aufgewachsen war. Selbst die Generationen von Hauspersonal waren sich sicher an ihrem ersten Tag in diesem Haus vorgekommen, wie in einem diabolischen Spiegelkabinett. Niklas konnte sich ihre Beklemmung gut vorstellen und achtete darauf, Edward auf keinen Fall aus den Augen zu verlieren.
So standen sie schließlich vor einer leeren Wand mit einem hellen Viereck in der Tapete. Niklas war sofort klar, dass er den Schatten des Norland vor sich hatte. Auf einer Konsole darunter stand eine Vase mit intensiv duftenden, dunkelroten Rosen, ganz wie Blumen, die auf einem Grab standen – eine Hommage an einen nicht mehr vorhandenen Schatz von Faywood Manor.
Edward, der das ergriffene Schweigen richtig deutete, erklärte: „Du wirst bald die Gelegenheit haben, das Original zu sehen. Die Fotos kann ich dir heute schon zeigen.“
Niklas nahm zwar an, dass ihn diese Aussicht aufmuntern sollte, aber gerade in diesem Moment löste sich der letzte Rest seiner Zuversicht in Luft auf. Dass er eingewilligt hatte, ein Bild zu fälschen war allein schon genug des Wahnsinns, aber bis jetzt war es nur abstrakter Wahnsinn gewesen. In diesem Moment, in dem er vor den durch die vergangene Zeit ausgeblichenen Umrissen des Originals stand, wurde es real. Obwohl das Bild fort war, hielt es den Platz eng umschlungen, den es in Faywood Manor innegehabt hatte. Es hatte durch seine bloße Präsenz unauslöschliche Spuren hinterlassen. Was hatte ihn bloß geritten, dass er sich ernsthaft dazu verpflichte hattet, eine Kopie zu erschaffen, die nicht als solche erkannt werden würde – anhand von Fotos und einem kurzen Blick auf das Original!
„Tante Rose!“, ließ sich Edward plötzlich vernehmen. Er hatte sich unbemerkt ein Stück von Niklas entfernt, und in den hohen Mauern hallte seine Stimme, wie zu einer offiziellen Ankündigung.
Dass einem das Herz in die Hose rutschen konnte hatte Niklas immer für eine etwas dümmliche Redewendung gehalten, aber jetzt kam es ihm exakt so vor. Er war so erschrocken, dass er noch nicht einmal herumfahren konnte. In Ermangelung einer Alternative blieb er einfach wie angewurzelt stehen. Tante Rose hätte doch noch gar nicht hier sein sollen! Er war sicher, dass Edward das gesagt hatte. Es wäre noch Zeit, bevor sie ankam. Aber vielleicht hatte Edward das auch nicht gesagt. Er hatte unheimlich viel gesagt, aber Niklas konnte sich an keine einzige verwertbare Information erinnern. Jetzt war es zu spät! Tante Rose würde ihn doch sofort durchschauen, wenn sie ihn sozusagen am Tatort, direkt vor der Wand antraf, an der der Norland fehlte. Er wusste nicht, was Edward als offizielle Geschichte vorgesehen hatte. Er war nicht vorbereitet.
Fast konnte er Tante Roses Blicke in seinem Nacken spüren, wie sie darauf wartete, dass er seine Anwesenheit in Faywood Manor erklärte. In Zeitlupe wandte er den Kopf. Der Ratschlag, keine hektischen Bewegungen zu machen, war zwar eher für Raubtiergehege vorgesehen als für Situationen wie diese, aber es war die einzige praktische Lebenshilfe, an die Niklas sich im Moment überhaupt noch erinnerte. Mit einer Erleichterung, die schon beinah ein Schock war, sah er sich einem Gemälde gegenüber. Es zeigte ein junges Mädchen, etwa achtzehn Jahre alt, in einem blassblauen Kleid, dessen Schnitt keine konkrete zeitliche Einordnung erlaubte, dem Betrachter allerdings den Eindruck einer königlichen Robe vermittelte. Der Bildhintergrund war mit blauen Malvenblüten überwuchert. Die jugendliche Tante Rose, trug eine Spange mit aus funkelnden Juwelen geformten Blüten in ihren kurzen hellblonden Locken, und in der Hand hielt sie eine weitere der blauen Malven, mit denen der Hintergrund bereits so verschwenderisch ausgestattet war. Ihr Gesicht war schmal und, entsprechend der Mode früherer Zeiten, vielleicht ein wenig zu blass, aber mit einem lebendigen Funkeln in den Augen. Es war, als würde sie nicht nur vor der Kulisse dieses tiefblauen Wunderlands posieren, sondern damit verschmelzen, und das war offenkundig eher ihr Verdienst, als der des wahrscheinlich damals wie heute namenlosen Malers. Das Bild war wie ein Torweg in diese andere Welt, und Niklas wäre im Moment nichts lieber gewesen, als sich dorthin zu flüchten. Es war geradezu grotesk, dass das junge Mädchen, dass Tante Rose gewesen war, heute mit nichtsahnendem Lächeln an der gegenüberliegenden Wand hing, von der der Norland verschwunden war und das Unglück seinen Lauf genommen hatte. Es kostete Niklas einen Moment, sich wieder in die Gegenwart zu versetzen, in der die Protagonistin dieses Sommernachtstraums die ältliche Tante Rose war, deren schwacher Konstitution man den Verlust des Norland nicht zumuten konnte. Von der Welt von damals war nur das Bild geblieben, das dort seit Dekaden hing und mit etwas Glück noch regelmäßig abgestaubt wurde.
„Soweit wir wissen, ist das das einzige Portrait, das von Tante Rose existiert“, setzte Edward die Schlossführung fort. „Sie hat sich danach nie wieder malen lassen.“
„Wo befindet sich das Original denn jetzt? Ich meine…Tante Rose selbst…“
Es war für Niklas nicht neu, dass er nicht gleichzeitig klar denken und sich Sorgen machen konnte.
Über Edwards Gesicht huschte ein Lächeln. Er schien Niklas’ Bedenken nicht zu teilen. Schließlich war Tante Rose ja seine Tante, die in absehbarer Zeit entweder vor einem gefälschten Bild oder vor einer leeren Wand stehen würde. Und schließlich war er, Edward, derjenige, der das Original übereilt verkauft hatte. Wenn überhaupt, dann war er es doch wohl, der sich Sorgen machen durfte, aber er hatte in dem Moment aufgehört, sich zu sorgen, in dem Niklas sich wie verabredet am Bahnhof eingefunden hatte.
„Tante Rose befindet sich jetzt wohl noch in den Tropen“, teilte er Niklas mit, als wäre dieser Umstand nur ein weiterer Beweis für die Genialität des Plans, den sie hier gerade in die Tat umsetzen. „Sie hat seit Ewigkeiten dort gelebt, so lange ich mich überhaupt zurückerinnern kann. Ihr Mann, mit dem sie sich wohl gleich nach der Hochzeit Hals über Kopf nach Übersee abgesetzt hatte, ist gestorben – schon vor ein paar Jahren, und bislang sah es ganz danach aus, als würde Tante Rose trotzdem dort bleiben. All die Jahre kam sie nur sporadisch zu Besuch, aber jetzt hat sie beschlossen, dem Äquator, dem Kreuz des Südens und der ganzen Exotik endgültig Adieu zu sagen. Sie kommt zurück – sollte man’s glauben! Wann genau, das kann ich dir leider nicht zuverlässig sagen. Die Nachricht ging auch gar nicht an mich, sondern an Isobel.“
Da war der Name wieder.
Isobel – obwohl bisher noch nie persönlich in Erscheinung getreten – war offenbar die treibende Kraft hinter der Geschichte. Die zweifelhafte Ehre seines Auftrags verdankte Niklas ganz klar ihr. Edward mochte noch so stolz auf seinen brillanten Plan sein, mit dem er gedachte das Chaos zu beseitigen, dass sein vorangegangener Geistesblitz ausgelöst hatte. Letzten Endes war er am vorigen Abend in einer Funktion ins „Mathilda“ gekommen, die der eines Familienanwalts glich. Isobel würde entscheiden, ob man Tante Rose einen falschen Norland als einen echten präsentieren konnte, und ob es die beste Entscheidung wäre, dies zu tun. Deshalb schien es Niklas angebracht, die Situation zu klären. Schließlich sah er mehr als deutlich, dass seine eigene unmittelbare Zukunft damit stand und fiel.
„Isobel weiß doch, aus welchem Grund ich hier bin?“, fragt er.
„Sicher“, gab Edward die erhoffte Antwort. Dann setzte er hinzu: „Sie weiß ja auch sonst immer alles.“
Wie aufs Stichwort ließ sich plötzlich in den ehrwürdigen Mauern das markante Geräusch entschlossener Schritte auf Schuhen mit Absätzen vernehmen. Im nächsten Augenblick stand sie höchstselbst unter dem steinernen Bogen des Korridors. Isobel war sehr schlank und nur von kleiner Statur. Ihre helle Haut, ihr blondes Haar und ihre hohe Stirn verrieten die Verwandtschaft mit Edward. Sie war eine klassische Schönheit und wirkte eindeutig zu jung, um Edward Zwillingsschwester zu sein, aber Niklas nahm an, dass Edward in diesem Punkt wohl richtig informiert sein würde. Sie trug ein schlichtes, mattgrünes Kleid und ihr fast hüftlanges Haar war an den Seiten mit zwei silbernen Spangen zurückgesteckt, was ihr das Aussehen einer Königin aus einem alten Buch gab. Edward nahm wahr, dass auch ihre Augen unterschiedlich gefärbt waren.
Wortlos umarmte sie Edward, allerdings ohne den Blick dabei von Niklas abzuwenden, als wollte sie ergründen, ob er einlösen könnte, was Edward ihr offenbar in Bezug auf ihn versprochen hatte. Ihr Blick war so forschend, als stünden seine Qualifikationen als Maler – oder auch als Fälscher – ihm auf der Stirn geschrieben. Er verspürte den Drang, irgendetwas zu sagen, um das negative Bild zurechtzurücken, das sie sich zweifellos gerade von ihm machte. Er überlegte fieberhaft, aber es fiel ihm nichts ein.
Sie weiß ja auch sonst immer alles, hatte Edward gesagt. Niklas hatte das ursprünglich als halb-scherzhafte, halb pampige Bemerkung abgetan, aber jetzt sah er glasklar, dass Edward damit genau ins Schwarze getroffen hatte. Dieser kühle, analytische Blick in den außergewöhnlichen Augen hätte einer Wissenschaftlerin Ehre gemacht, die nach einer kräftezehrenden Fahrt über das Meer ein ödes, gottverlassenes Eiland vor sich sah und mit nüchterner Befriedigung zur Kenntnis nahm, dass es genau auf die Art öde und gottverlassen war, wie sie es vermutet hatte. Niklas war sich der Tatsache voll bewusst, dass er seinen ominösen Auftrag auch jetzt noch verlieren konnte, sollte Isobel ihn für ungeeignet befinden. Noch ehe er sich dagegen wappnen konnte, beschlich ihn der Gedanke, dass das vielleicht seine beste und letzte Chance sein konnte. Nachdem Edward nicht in der Lage gewesen war, rechtzeitig die Bedeutung des Norland für die Familie in Erfahrung zu bringen, nachdem er selbst nicht in der Lage gewesen war, Edwards irres Ansinnen schlicht und einfach abzulehnen, würde Isobel jetzt endlich in der Lage sein, ihn auszumustern. Sie war die Expeditionsleiterin. Sie würde diesen Unsinn beenden. Er sah es klar vor sich, während er sich als unfähig erwies, dem hypnotischen Blick ihrer Augen auszuweichen. Er würde aus der Geschichte raus sein, bevor er bis drei zählen konnte. Natürlich würde er sich wie ein Vollidiot fühlen, noch den letzten Rest Hoffnung verlieren, sich nie wieder trauen, ein Bild zu vollenden, geschweige denn an eine Ausstellung zu denken, aber er würde weder Isobel, noch Edward, noch einen Ort mit dem Namen Faywood Manor jemals wiedersehen. Im Augenblick zählte nichts anderes.
„Gut“, sagte sie. Es klang knapp und endgültig – Gut!
„Edward wird dir später die Details zu dem Bild zeigen“, sagte sie. „Es gibt haufenweise qualitativ hochwertige Fotos von fast allen Gemälden im Haus – ursprünglich für die Versicherung aufgenommen. Aber Edward wird dafür sorgen, dass du einen Blick auf das Original werfen kannst. Er hat Beziehungen.“
Die Art und Weise, wie sie das letzte Wort aussprach, ließ ihren Bruder für die Dauer eines Wimpernschlages blass werden. Nach dem, was er im Zug gehört hatte, konnte Niklas sich vorstellen, dass Isobel ihn immer noch bei jeder Gelegenheit wegen des voreiligen Verkaufs des Bildes aufzog. So weit, so gut! Aber was hieß das für ihn? Was zur Hölle meinte sie mit „Gut“?!
„Wenn das Bild so hoch versichert war, warum habt ihr es dann nicht einfach in den Keller gehängt und bei Polizei und Versicherung einen Einbruch gemeldet?“
Niklas fand selbst, dass seine Stimme seltsam klang, wenn er so etwas sagte. Die Neigung, in angespannten Situationen Witze zu reißen, war ein Wesenszug, den er an sich selbst nur allzu gut kannte. Bisher war er ihm noch nie als Schwäche erschienen. Humor kostete nichts, und oft war er der einzige Luxus, den man sich gönnen konnte. Gerade in diesem Moment wäre er allerdings am liebsten im Erdboden, oder in diesem Fall in dem kostspielig anmutenden Parkett versunken.
„Endlich jemand, der mich versteht“, seufzte Isobel und machte auf dem Absatz kehrt. Ihre Schritte verklangen im Korridor.