Читать книгу Faywood Manor - Corinne Lehfeldt - Страница 5

Kapitel 2

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„Nur, weil es hässlich ist, muss es ja nicht zwangsläufig Kunst sein.“

Niklas sah sich um, um herauszufinden, wer das gesagt hatte und warum es ihm auf so unangenehme Weise bekannt vorkam. Er hörte das Lachen der Menge und stellte zu seinem Schrecken fest, dass er wieder in der Galerie war. Wieder stand er im hintersten Winkel und harrte der Dinge, die da noch kommen würden. Auf anderthalb Wänden der Galerie prangten seine Bilder und blickten traurig und tapfer einem missbilligenden, spöttischen Publikum entgegen.

Die Ausstellung als Ganzes war den Werken eines Freundes von Niklas gewidmet. Als sie sich kennen gelernt hatten, standen sie beide noch auf demselben Erfolgslevel (oder vielmehr auf demselben Level dessen, was sie anstelle von Erfolg vorübergehend verwendeten). Inzwischen hatte sich das geändert. Ben, Niklas’ Freund aus Anfängertagen, hatte es doch tatsächlich geschafft. Inzwischen konnte er längst nicht mehr wie jeder andere Mensch einfach ungeschickt die Kaffeekanne umstoßen, ohne dass die befleckte Tischdecke anschließend als ungeheuer belebendes Kunstwerk verstanden wurde. Einmal hatte einer von Bens Schuhen, unter dessen Sohle ärgerlicherweise gleich drei verschiedenfarbige Kaugummi klebten, einen Spitzenpreis erzielt. Ben hatte für den aktuellen Anlass natürlich reichlich „Kunstwerke“ produziert, die meisten sogar absichtlich. Um diese scharte sich nun ein lüsterner Kunstmob, der mit den Pappschachteln von Bens Fertiggerichten der letzten Woche sicher genauso zufrieden gewesen wäre.

Ben glaubte nicht an Talent, weder an sein eigenes noch an das irgend eines anderen Menschen. Er glaubte nur an Glück, von dem er annahm, dass es ansteckend wirken könnte. Deshalb hatte er Niklas bei der Ausstellung mit ins Boot geholt. Niklas’ Begeisterung darüber war allerdings schnell der Ernüchterung gewichen, als er die Gesprächsfetzen auffing, die aus seiner schwach besuchten Nische drangen.

Eine noch sehr junge Frau blieb eine ganze Weile vor einem seiner Bilder stehen. Es zeigte eine weiße, grob verputzte Wand mit einer kreisrunden Fensteröffnung, in der durch eine Tupftechnik ein breites Spektrum von Licht dargestellt. Niklas lag dieses Bild besonders am Herzen, denn die Idee dazu war ihm im Traum gekommen. Es trug den Titel „Feenring“, nach einer Legende, über die Niklas gelesen hatte, und nach der man in den Kreis der Feenwelt geraten konnte. Wenn man dann in die wirkliche Welt zurückkehrte, konnten Wochen oder sogar Jahre vergangen sein.

Das Bild war auf eine quadratische Leinwand gemalt. Niklas kannte mehrere abstrakte Maler, die nahezu wahnsinnig wurden, wenn eine wohlmeinende Hilfskraft in einer Galerie aus schlichtem Mangel an Anhaltspunkten ihre Bilder falsch herum aufhängten. „Feenring“ war so ein Bild, dem das leicht passieren konnte, und Niklas würde es gelassen lächelnd zur Kenntnis nehmen. Es war ein gewollter Effekt, dass die Himmelsrichtungen, von der eine immer der Punkt sein musste, an dem man gerade stand, in der Mitte zusammenflossen. Dort, in dem magischen Kreis, schien sich das Licht zu verändern. Oben und unten gab es nicht. Alles hing davon ab, wo man stand.

Die junge Frau schenkte dem Bild einen langen, aufmerksamen Blick und sagte dann, halb zu sich selbst, mit dem Idealismus eines Erstsemesters: „Ich frage mich, was der Künstler damit sagen wollte.“

„Was soll er damit sagen wollen?“, ließ sich ein Galeriebesucher vernehmen, der zufällig neben ihr stand. „Ich habe kein Fenster?“

Die junge Frau zuckte mit den Achseln und ließ den Blick weiter auf das Bild gerichtet. Das darin liegende Desinteresse an einem Diskurs ignorierte der junge Mann beharrlich, der sich soeben selbst zu ihrem Gesprächspartner ernannt hatte.

„Du verstehst aber grundsätzlich, was ich meine, oder?“

„Sicher“, gab sie abwesend zurück.

„Das ist keine Kunst. Das denkt man nur leicht, weil es in einer Galerie hängt.“

„Ich studiere Kunstgeschichte“, sagte sie gelangweilt.

Wenn sie gehofft hatte, ihn mit ihrer Expertise abzuschrecken, damit er sich jemand anderen suchte, der sich leichter beeindrucken ließ, hatte sie sich geirrt. Ihre Vorbildung schien sie für ihn nur noch zu einem lohnenderen Publikum für seine Meinung zu machen, ohne dass er sich gleichzeitig für ihre interessierte.

„Eins muss ich dazu noch sagen“, verkündete er. „Es ist ein sehr schlechtes Zeichen, wenn man überhaupt danach fragen muss, was der Künstler sagen wollte.“

Niklas bereute es bitter, dass er in diesem Moment gedacht hatte, es könnte jetzt nicht mehr schlimmer kommen, denn augenblicklich kam es schlimmer.

Wie eine biblische Plage brach es über ihn hinein, in Gestalt einer äußerst engagierten Ausstellungsbesucherin. Sie hatte die Ausstrahlung einer verbissenen Kunstlehrerin, über ihrem ponchoartigen Kleid baumelte eine Kette mit einem Anhänger, der die Größe eines Schrumpfkopfs hatte und auch in Form und Farbe daran erinnerte. Ihre nicht zu bändigende Lockenpracht wirkte schon für sich allein einschüchternd.

Es dauerte eine Weile, bis Niklas sie erkannte. Auf einer früheren Ausstellung hatte Ben es nicht vermeiden können, sie einander vorzustellen. Ihren Namen hatte Niklas inzwischen längst vergessen. Sie hingegen war allerdings mit dem Gedächtnis eines Elefanten ausgestattet, und so wusste sie noch genau, wen sie vor sich hatte. In Null Komma Nichts war ihr klar, dass es Niklas’ Bilder waren, die hier im Regen standen.

Ein gewöhnlicher, sterbenslangweiliger Mensch hätte es auf sich beruhen lassen, anstandshalber den Blick schweifen lassen, dann vielleicht Niklas noch aufmunternd auf die Schulter geklopft, „Wird schon werden“ gemurmelt und sich dann in Richtung Ausgang verdrückt. Nicht so die namenlose Dame mit der wilden Lockenfrisur. Wo er denn sonst noch ausgestellt hätte in letzter Zeit, verlangte sie zu wissen. Als er widerwillig zugab, dass dies seine einzige „Ausstellung“ war, wurde es erst richtig lustig. Was er zu tun gedenke, um diesen Zustand zu ändern, war jetzt die Frage. Woran es denn seiner Meinung nach läge. Ungefähr so stellte Niklas es sich vor, wenn man im Beichtstuhl einem katholischen Priester gegenüber zugeben musste, dass die letzte Beichte 35 Jahre zurücklag. Er hätte sonst was dafür gegeben, einen Plan vorweisen zu können, der zumindest so klang, als würde er funktionieren. Warum gab es an der Kunstakademie eigentlich keinen rhetorischen Selbstverteidigungskurs für Situation wie diese? Für den Moment schien es ihm viel wichtiger zu wissen, wie er diesem Verhör entrinnen konnte als zu wissen, wie es denn nun wirklich weitergehen sollte…


Er wachte auf in einem Wechselbad der Gefühle, als er zuerst erkannte, dass er geträumt hatte, nur um sich im nächsten Augenblick zu erinnern, dass der zurückliegende Nachmittag exakt so verlaufen war. Bevor er sich darüber ein zweites Mal in dunkle Verzweiflung stürzen konnte, wurde ihm bewusst, dass er aufgewacht war, weil jemand seinen Namen gesagt hatte.

Es hätte noch ein letzter Traumfetzengewesen gewesen sein können, aber es musste wohl doch real gewesen sein, denn im schummerigen Licht des inzwischen schon weitgehend menschenleeren „Mathilda“ sah er, wie Millie mit einem Fremden sprach und dabei in seine Richtung wies. Es war wie die Geste einer Krankenschwester, die einen Arzt auf einen besonders schwierigen Fall aufmerksam machte.

Der Fremde war ein junger Mann, vielleicht ein paar Jahre älter als Niklas selbst. Sein hellblondes Haar war aus der hohen Stirn gestrichen. Seine Gesichtsfarbe war ungewöhnlich hell. Irgendetwas an seinem Gesicht kam Niklas ungewöhnlich vor, aber er konnte nicht ausmachen, was es war. Der junge Mann trug einen Anzug, den er ganz sicher nicht angezogen hatte, um eine Spelunke wie das „Mathilda“ aufzusuchen. Sein Träger musste sich entweder verlaufen haben, oder er hatte sich absichtlich von einer viel zu eleganten Party abgesetzt, um – gänzlich unpassend gekleidet – einen Anfall von Abenteuerlust auszuleben und das zu erkunden, was er vermutlich für die Unterwelt hielt.

Der junge Mann schenkte Millie ein einnehmendes, dankbares Lächeln. Dann ging er ohne Umschweife auf Niklas zu. Die Hoffnung, es könnte sich um einen Zufall handeln, zerschlug sich, als der overdresste Unbekannte sich einen Stuhl heranrückte.

„Niklas Goddard?“, erkundigte er sich.

„J-ja“, bestätigte Niklas, während er sich gleichzeitig ärgerte, dass er sich hatte überrumpeln lassen. Was immer dieser Typ wollte, Niklas wollte es nicht hören. Er wollte nicht reden, über nichts und mit niemandem! Warum hatte er nicht einfach geleugnet Niklas Goddard zu sein?! Ihm fiel kaum eine Identität ein, die leichter zu leugnen gewesen wäre als Niklas Goddard. Niklas Goddard war ein Niemand!

Zur selben Zeit hellte sich das Gesicht seines Gegenübers auf. Zum Vorschein kam eine Ausstrahlung, durch die man den jungen Mann – notfalls auch unter Protest – sympathisch finden musste. Er atmete erleichtert auf, jetzt wo er wusste, dass er an der richtigen Adresse war.

„Ich bin Edward Faywood“, ließ sein Gegenüber ihn wissen. Trotz seiner auffallend akzentuiert-vornehmen Aussprache wirkte es, als würde er bei der Erwähnung des Namens Faywood bewusst die Stimme senken. Er machte einen leicht verlegenen Eindruck, als müsste sein Nachname absolut jedem Menschen etwas sagen, und als könnte er nicht sicher sein, welche Schlüsse sein Gegenüber daraus zog.

„Ich bin froh, Sie gefunden zu haben“, fuhr der Inhaber des bedeutungsvollen Familiennamens inzwischen unbeirrt fort. „Ich war in der Ausstellung, und dann habe ich mich gleich auf die Suche gemacht.“

„Ach!“, entfuhr es Niklas. Eigentlich hatte er das nur denken wollen, aber seine Zunge war wie immer schneller gewesen als sein Verstand. Das konnte natürlich nur ein Scherz sein. Edward Faywood war wahrscheinlich ein unterbezahlter Schauspieler am Repertoire-Theater, der hin und wieder den antiquierten Lord geben durfte. Gut möglich, dass er zwischen Oscar Wilde und George Bernard Shaw gezwungen war, sich etwas dazu zu verdienen. Netter Versuch, Eure Lordschaft! Ernst sein ist alles! Niklas war in Versuchung ihn zu fragen, ob er den Snob-Anzug hatte kaufen müssen. Was man ihm wohl für diesen Auftritt hier zahlte? Und vor allem: Wer hatte es bezahlt? Dass von den anderen aufstrebenden Künstlern jemand neidisch genug auf ihn sein könnte, um ein solches Kabinettstückchen zu spendieren, das hielt er für ausgeschlossen. Wer hätte auf ihn schon neidisch sein können.

Der Hauptdarsteller dieser surrealen Szene schien indes Niklas’ Schweigen als interessiertes Abwarten zu deuten und fuhr fort: „Der Pinselstrich, die Unbestimmtheit des Lichts. Das ist schwer zu finden – unmöglich, wie ich bisher gedacht hatte.“

Oh ja, er war gut!

„Die Bilder sind wie ein Blick in einen Traum , den man lange vergessen hatte. Man erinnert sich, aber man kann es nicht begreifen. Man meint, man würde unversehens etwas zurück erhalten, mit dessen Verlust man sich bereits abgefunden hatte – außergewöhnlich.“

Spätestens jetzt war Niklas sicher, dass er sich in einer inszenierten Komödie befand. Warum sonst würde jemand so viel Text auswendig lernen.

Edward setzte indessen zum großen Finale an: „Nur jemand mit diesem Pinselstrick könnte einen Norland fälschen.“

„Bitte was?!“

Edward‘ Lächeln wurde etwas matter, als hätte er befürchtet, im Verlauf der Aktion Farbe bekennen zu müssen, jedoch immer noch gehofft, es zu vermeiden. In dem Bewusstsein, dass ihm jetzt nur noch die Flucht nach vorn helfen konnte, holte er tief Luft und legte ein Geständnis ab:

„Ich brauche eine Fälschung von einem Norland. Es ist eins seiner letzten Werke, und die Pinselführung ist so eigentümlich, dass ich es niemand anderem zutrauen würde.“

Das Wort Komödie griff jetzt eindeutig zu kurz. Heute in der Ausstellung war das Publikum an seinen Bildern vorbeigehuscht, als würden es sieben Jahre Pech bedeuten, sie eines zweiten Blickes zu würdigen. Niklas hatte im dunkelsten Winkel der Galerie gestanden und sich der seligen Illusion hingegeben, es könnte nicht mehr schlimmer kommen. Dass ihn sein Pinselstrich, nachdem sonst kein Hahn krähte, noch tiefer reinreißen würde, damit hatte er wirklich nicht gerechnet. So tief in der Weltordnung lausige Künstler auch stehen mochten, Niklas hatte nie gezweifelt, dass Fälscher eindeutig noch tiefer standen. Wer hätte gedacht, dass DAS seine Berufung wäre, die Tätigkeit, für die sein Pinselstrich prädestiniert war! Jetzt hätte er nur zu gern geglaubt, alles sei nur ein Scherz, aber das gelang ihm plötzlich nicht mehr.

Sein Gegenüber hatte indes offenbar gar nicht erwartet, dass Niklas sich der großen Ehre auf Anhieb bewusst war, von einem ignorierten Maler zu einem Fälscher erster Wahl befördert zu werden. Die verständnislose Stille nutze er dazu, das Projekt in seiner ganzen Attraktivität zu präsentieren und alle denkbaren Zweifel auszuräumen, noch bevor sie überhaupt ausgesprochen werden konnten: Niklas brauchte, Gott behüte, nicht zu glauben, er käme mit dem Gesetz in Konflikt. Edward packte eine lange Geschichte aus, über seine Tante Rose, die nicht mehr die Jüngste war, und die deshalb kürzlich beschlossen hatte, ihr Leben in Übersee aufzugeben, um wieder in der Nähe der Familie zu sein. Hier kam der Moment, in dem Edward Faywood Farbe bekennen musste. Das einstmals legendäre Vermögen der Faywoods gehörte zu diesem Zeitpunkt tatsächlich dem Land der Legenden an. Was geblieben war, war die Tradition. Für Edward bedeutete dies konkret, dass ihn die Tradition dazu verpflichtete, Faywood Manor, den Familiensitz auf dem Land, vor dem drohenden Untergang zu retten. Die jahrhundertealten, erhabenen Mauern würden zwar kaum einstürzen, aber sie könnten in den Besitz eines Individuums geraten, das nicht den Namen Faywood trug – was zweifellos noch schlimmer wäre.

Für Edward hatte nie ein Zweifel daran bestanden, dass es seine Pflicht war, dieses Schicksal von Faywood Manor abzuwenden. Weniger klar war ihm zunächst gewesen, was genau er tun konnte. Geduldig hatte er auf einen Geistesblitz gewartet und mit beiden Händen das erste ergriffen, was einem Geistesblitz ähnlich sah. Als ihm einfiel, die – wie er es nannte – „Schattensammlung“ zu veräußern, war es ihm wie eine Erleuchtung erschienen. Bei der „Schattensammlung“ handelte es sich um die weniger bekannten Stücke unter den vielen Artefakten, die Faywood Manor im Laufe seiner Geschichte angesammelt hatte. So wie Edward es beschrieb, war das Haus vom Keller bis zum Dach vollgestopft mit erlesenen Kostbarkeiten. Einige der Stücke waren schon von hohem historischen Wert gewesen, als sie in den Familienbesitz gelangt waren. Andere waren erst durch den Lauf der Zeit in diesen Rang aufgestiegen. Faywood Manor war offenbar so verschwenderisch mit Antiquitäten und Kunstschätzen ausgestattet, dass darunter einige nicht ganz so bemerkenswert waren wie der Rest. Man sparte es sich, sie Besuchern vorzuführen, und niemand sprach ehrfürchtig, hinter vorgehaltener Hand davon, dass sie sich im Besitz der Familie Faywood befanden. Wem würde es also auffallen, wenn sie fehlten?! Selbst wenn man bei einem der solventen und wohlweißlich weit weg von Faywood gelegenen Antiquitätenhändlern über eins der Artefakte stolpern sollte, musste man Lokalhistoriker sein, um sie zu erkennen. Niemand würde den Schluss ziehen, dass es mit den Finanzen der Faywoods nicht zum Besten stünde.

Als Folge des Geistesblitzes hatten in den letzten Monaten bereits die ersten Bestandteile der „Schattensammlung“ klammheimlich den Familienbesitz verlassen. Ein Gemälde, ein Leuchterpaar, ein nahezu blinder Spiegel, ein Collier mit einem unelegant großem Klunker und sogar eine nur wenig kampferprobte Ritterrüstung hatten auf diese Weise unbemerkt den Besitzer gewechselt. Das wohl aufsehenerregendste Stück war die mit Grünspan geschlagene Bronzeskulptur des Gottes Pan, den der Gärtner durch puren Zufall und mittels einer Heckenschere aus einem vollkommen nichtssagenden Gestrüpp im Park befreit hatte. Kein Mensch auf Faywood Manor hatte geahnt, dass die Figur dort gewesen war, also war wohl auch kaum davon auszugehen, dass jemand sie erkennen würde, sollte sie eines Tages in Japan wieder auftauchen.

Kurz gesagt, der Plan war lückenlos. Edward sprach nicht ohne Stolz davon. Niklas fühlte sich mit jeder Minute unwohler. Die Situation kam ihm vor, wie aus einem schlechten Theaterstück. Dass ein wildfremder Mensch nichts dabei fand, ihm ohne weitere Vorrede ein Geheimnis zu enthüllen, für dessen Wahrung er vorher abgelegene Antiquitätenhändler aufgesucht und wohl auch sonst keine Mühen gescheut hatte, steigerte sein Misstrauen immer weiter. Er konnte sich beim besten Willen nicht denken, was das alles mit ihm zu tun hatte, und er wollte es auch nicht wissen. Die zum Schneiden dicke Luft in dem schummerigen, verwinkelten Raum schien ihm mit einem Mal den Atem abzuschnüren. Warum nur hatte er sich früher im „Mathilda“ immer so wohl gefühlt?! Torkelnd kam er auf die Beine. Absichtlich undeutlich murmelte er, er würde gleich zurückkommen – was er allerdings nicht wirklich vorhatte.


Draußen vor der Tür schlug ihm kühle, klare Nachtluft entgegen. Sie roch nach frisch gefallenem Regen und er sog sie gierig ein. Es war so friedlich, dass er einfach nur dastand und die Augen schloss, statt sich davonzumachen, wie es seine feste Absicht gewesen war. Dass der Moment verpasst war, rückte ihm wieder ins Bewusstsein, als er Edward Faywoods Stimme hinter sich hörte.

„Niklas?“

Offenbar waren die preisgegebenen Familiengeheimnisse der letzten halben Stunde Grund genug, um zum Vornamen überzugehen.

„Niklas? Ist alles in Ordnung?“

„Nein!“, entfuhr es ihm. „Ich meine, ja. Ja, es ist alles in Ordnung“, behauptete er und wusste, dass es eine glatte Lüge war. „Ich wollte nur… frische Luft schnappen.“

Als wären Niklas die Vorzüge der klaren Nachtluft jetzt erst zu Bewusstsein gekommen, nahm er selbst einen tiefen, inbrünstigen Atemzug. Der Sauerstoff schien auf Menschen von Edwards Schlag deutlich schneller zu wirken als auf die Normalsterblichen. Kaum hatte er wieder ausgeatmet, wandte er sich, gestärkt und belebt, wieder an Niklas.

„Also, was sagst du?“

Niklas fuhr zusammen.

„Was sage ich wozu?“

Ein offenes Lächeln huschte über Edward‘ Gesicht, als hätte er gerade erkannt, dass er sich unklar ausgedrückt hatte. Wie dumm von mir, schien sein Lächeln zu sagen, als er erklärte:

„Ich brauche das Bild zurück. Das eine Bild, von dem ich glaubte, es würde niemand vermissen.“

Wieder sah er sich einem ratlosen Gesicht gegenüber, und wieder verstand er es als Aufforderung, weiter ins Detail zu gehen.

„Es ist ein Norland“, setze er Niklas ins Bild. „James Norland war…“

„Ich weiß, wer James Norland war“, unterbrach ihn Niklas zum ersten Mal an diesem Abend.

Edwards Gesicht hellte sich aufgrund dieser Information um weitere drei Nuancen auf. Er wirkte ehrlich froh, und vor allem erleichtert, nicht bei Null anfangen zu müssen.

„Hervorragend! Dann ist ja alles viel einfacher. Es ist natürlich unnötig zu sagen dass man einen Norland nicht einfach so aus dem Handgelenk heraus fälscht.“

„Man fälscht ihn überhaupt nicht!“, brach es urplötzlich aus Niklas heraus. „Norland gilt als unfälschbar, und selbst wenn, warum würde jemand je… noch nie hat jemand…“

Edward‘ Blick war voller Verständnis. Er schien dies alles nach wie vor für eine Situation zu halten in der bedauerlicherweise ein völlig verzerrter Eindruck entstanden war. Hätte er sich doch nur etwas geschickter ausgedrückt.

„Ich habe den Norland verkauft“, gestand er unnötigerweise. Tatsächlich war das die einzige Information, die Niklas sich auch so hatte erschließen können.

„Es war alles meine Schuld“, fuhr Edward unbeirrt fort. „Ich hätte mich erst mit meiner Schwester besprechen sollen. Isobel würde mich abgehalten haben. Sie hätte es gewusst.“

„Sie hätte was gewusst?“, verlangte Niklas zu erfahren. Da es unmöglich schien, einfach auf dem Absatz kehrt zu machen und diese Farce hinter sich zu lassen, wollte er jetzt zumindest genau wissen, was hier im Busch war.

Edward reagierte verlegen.

„Offensichtlich ist der Norland von großer emotionaler Bedeutung für Tante Rose.“

Anstatt erneut den Fehler zu machen, die letzte Aussage für Nachfragen im Raum stehen zu lassen, fuhr er nahtlos fort: „Tante Rose ist eigentlich meine Großtante. Seit ich denken kann, lebte sie mit ihrem Mann in Übersee. Seit ein paar Jahren ist sie allerdings Witwe, und jetzt hat sie entschieden, dass sie das Leben in den Tropen satt hat. Isobel wusste wie üblich als Erste davon, und als sie dann von dem Norland erfuhr, wäre sie fast in Ohnmacht gefallen – Isobel, meine ich, nicht Tante Rose. Die weiß glücklicherweise nichts davon. Isobel ist allerdings auch nicht der Typ, der tatsächlich in Ohnmacht fallen würde. Stattdessen hat sie mich angewiesen, den Norland zurück zu beschaffen, denn aus Gründen, die zu erklären sie sich nicht die Zeit genommen hat, bedeutet er enorm viel für Tante Rose. Sie ist nicht mehr die Jüngste und außerdem herzkrank. Wenn sie dahinterkommt, dass der Norland den Familienbesitz verlassen hat... das will ich mir lieber nicht vorstellen. Es wäre meine Schuld. Deshalb brauche ich den Norland so schnell wie möglich zurück. Ich kann erst wieder ruhig schlafen, wenn er wieder in der Galerie hängt.“

„Ja… gut“, stotterte Niklas. „Aber ich sehe wirklich immer noch nicht, wie ich in die Geschichte passe.“

Edward warf ihm einen fast mitleidigen Blick zu. Natürlich war er mit alldem überfordert – jemand, der nicht in Faywood Manor aufgewachsen war und keine Ahnung davon hatte, dass es eine eigene Welt war.

„Ich sehe keine Chance, das Original zurück zu bekommen“, erklärte er mit ruhiger Stimme, fast so, als hätte er einen Geistesschwachen vor sich. „Deshalb ist die letzte Hoffnung eine Fälschung. Der Käufer ist Mr. Newman, ein Bekannter der Familie, kein Freund, wohlgemerkt. Er hat den Norland bei einem Kunsthändler am anderen Ende des Landes erstanden, und er hatte nichts Besseres zu tun, als es von dort wieder den ganzen Weg zurück zu transportieren. Jetzt hängt es in einem Landhaus in unserer direkten Nachbarschaft, das er vor kurzem erworben hat. Ich glaube, wenn er könnte, würde er sich ganz Faywood Stückchen für Stückchen aneignen. Er ist nicht bereit, den Kauf rückgängig zu machen, aber wir könnten uns sicher noch einmal Zugang zu dem Gemälde verschaffen. Alles weitere müsste dann anhand von Fotos geschehen.“

Niklas entschied, dass hier nur äußerste Direktheit half: „Ich bin Künstler, kein Fälscher!“

Edward machte ein betretenes Gesicht, als wäre ihm klar gewesen, dass er sich im Laufe des Gespräches diesem Konflikt würde stellen müssen.

„Ich weiß“, sagte er kleinlaut. „Das ist ein familiärer Notfall. Es ist kein Betrug. Das Bild… also das neue Bild… wird nie jemandem als Original zum Kauf angeboten werden. Tante Rose sieht ihren Norland wohlbehalten wieder, alle sind glücklich, und wenn sie eines hoffentlich noch fernen Tages nicht mehr unter uns weilen sollte – wobei es mich auch nicht wundern würde, wenn sie uns alle überlebt – dann hat der falsche Norland seine Schuldigkeit getan. Dann hänge ich ihn irgendwo auf, wo man ihn nicht so sieht. Wir können uns auch an einem Wochenende treffen und das Bild gemeinsam am Ufer des Sees bei Faywood Manor verbrennen. Niemand kommt zu Schaden. Der Verkauf des echten Norland hat sich wirklich sehr gelohnt. Glücklicherweise war der Antiquitätenhändler ein Meister seines Fachs. Er hat in Mr. Newman wohl sofort die Art von Kunden erkannt, die keine Ahnung haben, aber bereit sind, dies mit Geld zu kompensieren. Der erzielte Preis war viel höher als erwartet. Du kannst dich darauf verlassen, dass ich die Fälschung bezahlen kann. Du könntest dich, na ja, ich schätze, die nächsten paar Monate ausschließlich der Kunst widmen. Wenn du nichts sofort wieder ausstellen willst, gäbe es dann keinen zwingenden Grund, das zu tun.“

Auf die letzte Bemerkung gab Niklas ein verächtliches Schnauben von sich, das eher sich selbst galt als dem Angebot.

Zeitgleich breitete sich ein perplexer Ausdruck auf Edwards Gesicht aus, als wäre ihm jetzt erst das Fettnäpfchen aufgefallen, in das er gerade getreten war. Was hatte ihn da nur wieder geritten?! Wenn man so eine zugegebenermaßen verpatzte Ausstellung überhaupt erwähnte, dann musste es doch zumindest mit deutlich mehr Takt geschehen. Bevor sämtliche Türen zugeschlagen werden konnten, drückte er Niklas eine schlichte, auf hochwertigem Papier gedruckte Visitenkarte in die Hand und verabschiedete sich eilig, indem er Niklas über die Schulter hinweg zurief, er solle es sich überlegen und dann einfach anrufen. Es spiele keine Rolle, wie spät es dann schon wäre. Das betonte Edward ausdrücklich. Dann entschwand er in dieselbe Richtung, in die Niklas sich kurz vorher noch hatte verdrücken wollen. Vorsichtshalber beschloss er, noch ein paar Minuten zu warten um Edward Faywood einen Vorsprung einzuräumen.


Faywood Manor

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