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Vorwort

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Ulrich Maly

Architektur ist, so hat es Ernst Bloch einmal formuliert, der „Produktionsversuch von Heimat“.

Ein starker Begriff, wie ich finde, der die Architektur weit über die technische Disziplin, ein ordentliches Haus abzuliefern, hinaushebt. Zu Recht.

„Heimat“ – was ist das eigentlich? Ein Wort, das es in dieser Konnotation nur in der deutschen Sprache gibt, ein Begriff, der missbräuchlich nationalisiert und vorsätzlich verkitscht worden ist. Genau deshalb meiden ihn viele Menschen, insgeheim treibt die Menschen aber genau diese Sehnsucht nach Heimat an, wie die Suche nach einem unbekannten Ort.

Heimat ist sicher keine Postadresse eines Wohngebäudes, auch nichts, was in vier Wänden stattfindet. Heimat ist, soziologisch gesprochen, die Projektionsfläche für die Sehnsucht nach bleibenden Werten.

Es war wiederum Ernst Bloch, der mit seiner Definition von Heimat eine heute noch gültige Interpretation des Begriffs geliefert hat. Danach ist Heimat das, „das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war.“

Der Begriff wird dadurch ent-örtlicht, auf das uns sozial und kulturell Prägende gelenkt und gleichzeitig noch weniger greifbar.

Die Stadt ist nach Georg Simmel eben doch keine Ansammlung von Häusern, in denen Menschen wohnen, sondern eine Ansammlung von Menschen, die auch Häuser bauen.

Ähnlich Albert Schweitzer, der formulierte: „Erst bauen Menschen Häuser, dann bauen Häuser Menschen.“

Eine Ansicht, die in ihrer positiven Wirkung schwer belegbar ist – oder macht ein hübsches Einfamilienhaus automatisch glücklich? –, in ihrer negativen Wirkung aber evident. Als vor einigen Jahren in den Banlieues von Paris die Barrikaden brannten, waren neben den sozialen und migrationspolitischen Ursachen schnell auch die städtebaulichen gefunden. Die Trabantenstadt in ihrer Seelenlosigkeit als Zuchtanstalt für das Böse im Menschen.

Dieser Zusammenhang zwischen Architektur, Städtebau und sozialen Unruhen wurde in fast allen überregionalen Medien thematisiert.

Die Architektenschaft hört es nicht gerne, aber wenn man ehrlich ist, haben auch die deutschen Trabantenstädte der 60er- und 70er-Jahre bei vielen Menschen eine posttraumatische Belastungsstörung hinterlassen. Wenn heute in Zeiten extremer Flächenknappheit in deutschen Großstädten bei Bürgerversammlungen über Verdichtung und Hochhäuser gesprochen wird, löst das mehrheitlich Entsetzen aus.

Gleichzeitig fotografieren wir die engen Altstadtgassen unserer unzerstörten oder wiederaufgebauten Altstädte mit ebenso großem Entzücken wie die engen Gassen Venedigs, die Silhouette von Orvieto oder die pittoresken Dörfer der Cinque Terre.

Die Stadt ist eben doch keine Ansammlung von Häusern, in denen Menschen wohnen, sondern eine Ansammlung von Menschen, die auch Häuser bauen.

Wenn die GFZ oder die GRZ dieser Siedlungen bekannt wären, würde man das abstrakt für menschenfeindliche Architektur halten.

Das macht klar: Dichte allein ist kein Problem, wenn die städtebauliche Qualität stimmt.

Ein Haus steht nicht für sich allein, sondern korrespondiert mit der Umgebung. Seine Qualität resultiert gleichermaßen aus dem privaten „Inneren“ wie aus seiner Interaktion mit dem Draußen, also mit den halböffentlichen Räumen und dem öffentlichen Raum.

Diese Schichtungen zwischen dem privaten, halböffentlichen und öffentlichen Raum sind der Wesensgehalt der europäischen Stadt seit ihrer Entstehung. Das Private in der europäischen Stadt gab (und gibt uns heute) Schutz, Sicherheit und die Autonomie, unsere eigene Individualität im Stadtorganismus zu entwickeln. Dem gegenüber liegt der öffentliche Raum mit der Agora, dem Ort der gemeinsamen Willensbildung, wenn man so will, dem Sitz des kollektiven Bewusstseins, der Keimzelle der Demokratie im Diskurs über gute und schlechte Stadtregierung, über der Stadt Bestes, das gemeinsam zu suchen ist.

Gute Architektur produziert aber nicht nur Heimat, sondern auch Ästhetik, Maßstäblichkeit, Interaktion zwischen Alt und Neu, technischen Fortschritt z. B. in ökologischen Fragen. Gute Architektur ist Wellness für unsere Augen.

Es gibt kaum ein langlebigeres Produkt in unserer Volkswirtschaft als Gebäude. Deshalb soll man auf dem Stand des jeweils noch nicht widerlegten Irrtums ökologisch bauen, deswegen muss Architektur das Umfeld aktiv berücksichtigen und dort, wo Bestandsgebäude umgenutzt oder reaktiviert werden, die Historie respektieren, ohne sie für unantastbar zu erklären.

Schlechte Baukultur ist eine Sünde, die jahrzehntelange Reue nach sich ziehen kann, so lange eben, wie man das anschauen muss, was nicht hätte gebaut werden dürfen.

Das, was unbedingt hat gebaut werden müssen und woran wir uns erfreuen, findet sich in diesem Jahresband zu ausgezeichnetem Wohnungsbau im doppelten Wortsinn.

Schwierige Grundstückszuschnitte, Lagen an städtebaulich tektonischen Gräben, Altbausubstanz, die man zu anderer Zeit vielleicht abgerissen hätte, für all das finden sich im 2020er-Jahrgang gute und beste Beispiele: Architektur, die gefällt, ohne gefällig zu sein, Raumkonzepte, die auf unterschiedliche Lebensformen reagieren, Orte zum Leben mit Lebensqualität, Bauten, die das Kriterium, Wellness für die Augen zu sein, erfüllen.

Der Respekt gebührt sowohl den jeweiligen Baumeistern wie auch den dahinterstehenden Investoren (erfreulicherweise nicht selten öffentliche Bauherren), es nicht so gemacht zu haben, wie es alle gemacht hätten. Das ist eben der kleine Unterschied.

Aufgepasst, in diesem Buch wird Heimat produziert!


Dr. Ulrich Maly, langjähriger Oberbürgermeister der Stadt Nürnberg und zuletzt Vizepräsident des Deutschen Städtetags, setzte sich in seiner Amtszeit engagiert für mehr bezahlbaren Wohnraum für alle Bevölkerungsschichten ein.

Ausgezeichneter Wohnungsbau 2020

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