Читать книгу Lost & Dark Places Heidelberg und Mannheim - Cornelia Lohs - Страница 10
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MORD AM SCHOTTISCHEN
SCHULMEISTER
Zur falschen Zeit am falschen Ort
Auf dem idyllischen Fleckchen Erde zwischen Heiligenberg und Zollstock wurde am 30. Juli 1905 der Lehrer Thomas Read aus Paisley in den schottischen Lowlands mit einem Revolverschuss getötet und ausgeraubt.
Zollstock, Heiligenberg Ort 69121 Heidelberg GPS 49.4290752, 8.7151803 Anfahrt Auto: über die Handschuhsheimer Landstraße/B3, Mühltalstraße und Waldweg zum Wanderparkplatz Heiligenberg und dann zu Fuß weiter. Zu Fuß: über Schlangen- und Philosophenweg bis Heiligenberg
Garantiert passierte der Lehrer vor seinem Tod den keltischen Ringwall.
KEIN GEDENKSTEIN, KEIN KREUZ Nichts erinnert daran, dass hier im frühen 20. Jahrhundert ein Österreicher einen Schotten aus Habgier tötete. Beide waren Reisende und weilten nur kurz in Heidelberg. Dass der gerade 20 Jahre alt gewordene gebürtige Wiener Arnold Sippel an jenem heißen Sommertag zum Mörder werden würde, wusste er am Morgen, als er aufstand, selbst noch nicht. Auch Thomas Reid ahnte wohl kaum, dass dies sein letzter Tag auf Erden sein würde. Der 41-jährige Schotte war am 14. Juli 1905 mit dem Schiff von Leith nach Antwerpen und dann mit dem Fahrrad über Brüssel, Lüttich, Aachen, Köln nach Mainz gefahren und am 29. Juli in Heidelberg eingetroffen. Von hier aus plante er eine Radtour durch den Schwarzwald und wollte dazu am 31. Juli nach Baden-Baden reisen, wie er auf einer Postkarte aus Heidelberg an seinen Bruder in Schottland schrieb. Am Vormittag des 30. Juli verließ er sein Hotel in der Bergheimer Straße und ward danach nicht mehr gesehen. Als seine Geschwister nichts von ihm hörten, schrieb sein Bruder John an den Heidelberger Bürgermeister und bat ihn um Hilfe. Umgehend wurden polizeiliche Ermittlungen und die Suche nach dem Vermissten eingeleitet. Man fand heraus, dass er vom 29. auf den 30. Juli im damaligen Gasthof Rheingold übernachtet hatte und gegen 10 Uhr zu einer Wanderung aufgebrochen war. Wohin, wusste allerdings niemand. Reids Gepäck samt Fahrrad und Fahrradanzug sowie Briefe und Karten befanden sich noch im Gasthof. Warum der Inhaber den verschollenen Gast nicht sofort als vermisst gemeldet hatte, ist nicht bekannt. Die Polizei suchte die Hügel südlich und nördlich von Heidelberg sowie den Schlossgraben ab, jedoch ohne Erfolg. John Reids Familie setzte eine Belohnung von 5000 Mark aus, aber niemand konnte einen Hinweis auf den Verbleib des Lehrers geben.
War der Blick auf Heidelberg das letzte Bild, das Reid sah?
EIN HALBES JAHR VOLLER UNGEWISSHEIT Erst als am 16. Januar 1906 der arbeitslose Schriftsetzer Arnold Sippel in Nago (Trentino) wegen »Bettelns von Haus zu Haus« verhaftet wurde, lichtete sich das Dunkel. Als er im Gefängnis durchsucht wurde, fand man in seinen Taschen den Reisepass Thomas Reids, eine silberne Taschenuhr mit Kette, in dessen Deckel sich ein Zettel mit dem Namen des Uhrmachers in Paisley befand, eine Schifffahrkarte auf Reids Namen, ein englisch-deutsches Wörterbuch, Tagebuchblätter in englischer Sprache mit einer Beschreibung des Heiligenbergs vom 30. Juli 1905 sowie andere Dinge, die Reid gehörten. Sippel behauptete, die Sachen im August 1905 in Straßburg von einem Handwerksburschen erworben zu haben. Er gab zu, vom 24. Juli bis zum 5. August zusammen mit seiner Geliebten Zenzi Mika in Heidelberg gewesen zu sein und behauptete, dort beim Hazardspiel 500 Mark gewonnen zu haben. Dass im fernen Heidelberg ein gewisser Thomas Reid vermisst wurde, war den Österreichern nicht bekannt. Weil sie Sippel aber des Diebstahls an Reids Sachen bezichtigten, überstellten sie ihn ans Bezirksgericht Riva. Da einige der gestohlenen Dinge Reids auf Heidelberg hinwiesen, wandte man sich telegrafisch an die Staatsanwaltschaft Heidelberg, die daraufhin den Amtsanwalt Karl Hellinger zur Aufklärung der Sache nach Riva entsandte.
DIE SACHEN DES VERMISSTEN Mittlerweile hatte die Polizei in Sippels letzter bekannter Unterkunft in Bozen die dort zurückgelassenen Sachen beschlagnahmt. Darunter »Murray’s Diary« in englischer Sprache, Thomas Reids Kleidung, ein Geldtäschchen mit britischem Kleingeld sowie der Revolver, mit dem, wie sich später herausstellte, Reid erschossen worden war. Sippel blieb dabei, dass er alles auf legale Weise in Straßburg erworben hatte. Er wurde ans Kreisgericht Feldkirch überstellt, wo die Voruntersuchung wegen Raubmords eingeleitet wurde. Gleichzeitig leitete man am Badischen Landgericht Heidelberg eine Voruntersuchung gegen Zenzi Mika wegen Hehlerei ein.
DER MÖRDER UND SEINE MITWISSERIN Arnold Sippel, der in St. Pölten und Linz das Druckhandwerk erlernt hatte und danach in einer Druckerei in Linz beschäftigt war, lernte 1904 die dort ebenfalls beschäftigte Zenzi Mika kennen und begann ein Verhältnis mit ihr. Diese soll einen negativen Einfluss auf ihn ausgeübt haben, denn der früher stets tadellose und fleißige Sippel wurde wenig später wegen »Faulheit und frechen Benehmens« fristlos entlassen. Am 10. Juli 1905 fuhr Zenzi zu ihrer Ziehschwester nach Heidelberg, die damals als Kellnerin in der heute nicht mehr existierenden »Wirtschaft zur Philosophenhöhe« arbeitete.
Schon tags darauf machte sich auch Sippel auf den Weg nach Heidelberg und legte den größten Teil der Strecke zu Fuß zurück. Zum Schutz für unterwegs hatte er einen Revolver mitgenommen. Er kam am Abend des 24. Juli in der Neckarstadt an und mietete sich in der Wirtschaft zur Reichskrone ein. In den nächsten Tagen versuchte er Arbeit in einer Buchdruckerei zu finden, blieb aber erfolglos. In seiner Kleidung, die während der langen Reise gelitten hatte, machte er keinen guten Eindruck. Dann plötzlich, am 30. Juli mittags, trug er einen guten Anzug, hatte Geld und zeigte sich spendabel.
Wenige Tage später reiste er mit Zenzi in die Schweiz, wo die beiden 500 Mark, damals ein kleines Vermögen, verjubelten.
Wahrscheinlich wanderte Reid auf diesem Weg zum Zollstock.
DAS MORDGESTÄNDNIS Als kein Geld mehr übrig war, fuhr das Pärchen Anfang November über Bregenz nach Innsbruck, wo Zenzi eine Stelle in einer Buchdruckerei fand. Sippel zog weiter nach Bozen, Zenzi folgte ihm an Weihnachten, kehrte nach dessen Verhaftung im Januar allerdings nach Heidelberg zurück. Dort sagte sie am 14. Februar 1906 vor dem Untersuchungsrichter unter heftigem Weinen aus, dass Sippel ihr bereits am Abend des 30. Juli den Mord an Thomas Reid gestanden hätte. Als der Beschuldigte erfuhr, dass seine Mitwisserin verhaftet worden war, gestand er die Tat – noch bevor er wissen konnte, dass diese bereits gestanden hatte.
Arnold Sippel schilderte die Tat wie folgt: Am Vormittag des 30. Juli 1905 war er über den Schlangen- und Philosophenweg zum Heiligenberg hinaufgewandert und dort auf den Aussichtsturm gestiegen. Als er hinunterschaute, sah er den Schotten am Fuß des Turms auf einer Bank sitzen. Wenig später, beim »Gange zum Zollstock, dort, wo der Weg sich um die Ruine biegt, kam er hinter jenem, der im Baedeker auf einer Geröllhalde sitzend las, vorbei«, so der Bericht in den Innsbrucker Nachrichten. Mordabsichten hatte er da angeblich noch keine. Sippel hielt sich kurz in der Zollstockhütte auf und ging danach wieder Richtung Heiligenberg, wo er Reid erneut begegnete. Die Gegend war menschenleer.
DER TODESSCHUSS Sippel, der einen geladenen Revolver in der Jackentasche hatte, beschloss kurzerhand, den Schotten zu erschießen und ihn auszurauben. Er wartete, bis dieser an ihm vorbeigegangen war, drehte sich um und schoss ihm aus nächster Nähe in den Rücken. Reid »stieß einen Seufzer aus, setzte sich auf den Boden und lehnte sich mit dem Rücken an die Böschung«, so die Schilderung des Mörders, der sich nach dem Schuss im Gebüsch versteckte und sich vergewisserte, dass niemand in der Nähe war. Dann zog er den leblosen Reid in die Büsche, raubte ihn bis auf die Unterwäsche aus und schlüpfte in die Kleidung des Schotten. Den toten Körper bedeckte er anschließend mit Laub. Auf dem Weg hinunter in die Stadt zählte Sippel das geraubte Geld. Es waren »Elf Einpfundstücke, eine Note zu 5 Pfund Sterling, 2 Stück zu 20 Franken, eine Note zu 100 Mark und 10 bis 12 Mark in Silber, zusammen rund 550 Kronen«. Am nächsten Tag kehrte der Mörder an den Tatort zurück, um seine dort zurückgelassene Kleidung zu holen, und am dritten Tag nach dem Mord wollte er sich nochmals vergewissern, ob er auch tatsächlich alles vom Toten mitgenommen hatte, sodass nichts auf dessen Identität hinweisen würde. An welcher Stelle zwischen Zollstock und Heiligenberg der Mord geschah, lässt sich heute nicht mehr eruieren.
Standen ähnliche Wegweiser bereits an Ort und Stelle, als Reid zum Zollstock wanderte?
Alter Grenzstein zwischen den Stadtteilen Handschuhsheim und Neuenheim
DER FUND DES LEICHNAMS Die Heidelberger Polizei fand die Überreste Reids am 6. März 1906 an der Stelle, die Arnold Sippel beschrieben hatte. Laut Gutachten von zwei ärztlichen Sachverständigen hatte die Revolverkugel die Aorta getroffen, was zum sofortigen Tod des Schotten führte.
»Die Tat qualifiziert sich vor dem Gesetze zum Verbrechen des meuchlerischen Raubmordes, auf dem die Todesstrafe steht«, schrieben die Innsbrucker Nachrichten am 7. Juni 1906. Zwei Tage später wurde Arnold Sippel zu 20 Jahren Zuchthaus verurteilt.
Thomas Reids Überreste wurden am 8. März 1906 auf einem Heidelberger Friedhof beigesetzt – auf welchem, ist nicht bekannt.
Das besondere Erlebnis
Wanderung auf dem Keltenrundweg. Auf dem Heiligenberg befinden sich Reste von zwei keltischen Ringmauern, die vor mehreren tausend Jahren rings um die Bergkuppe angelegt wurden. Beide sind nur noch als Wälle erhalten. Der Weg, der durch zwei blaue konzentrische Kreise markiert ist, führt um den Heiligenberg herum und folgt dem Inneren Ringwall. Unterwegs sieht man immer wieder aufgestellte Steine, so zum Beispiel am Weg hinter dem Michaelskloster den Stein mit der Aufschrift »Tor innerer Ringwall«. Hier befand sich in keltischer Zeit ein Zugang zum Berg.