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1. Selbstliebe und Liebe zum Anderen

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Lieben setzt (die Erfahrung von) Geliebt-werden voraus. Hat der Liebende sein erfahrenes Geliebt-werden durch einen Menschen als Ausdruck des Geliebt-werdens von Gott begriffen, ist eine selbstlose Liebe denkbar, ohne dass diese Hingabe zu einer Selbstaufgabe führt. Denn das Bewusstsein, bleibend Adressat der Liebe Gottes zu sein, verleiht dem Liebenden einen dauerhaften stabilen Selbststand, durch den er sich ohne Angst, sich zu verlieren, ganz seinem Lieben hingeben kann. Die Liebe Gottes hält den Liebenden im Sein, während er sein Dasein für den Geliebten hingibt (vgl. Joh 15,13).

Die Vollform der Liebe zeigt sich jedoch nicht in solch einer einseitigen Liebe, in der sich der Liebende verströmt, sondern in der gegenseitigen Liebe zweier sich Liebender. Zur Liebe gehört wesensmäßig das Geben und Empfangen, oder besser: das Empfangen und Geben, weil das Empfangen dem Geben vorgängig ist. Empfangen und Geben bedeuten aber nicht nur das Empfangen und Geben von Liebe, sondern sind eine Ebene tiefer vom Lieben-können (»Empfangen«) und vom Lieben-wollen (»Geben«) getragen. »Selbstlos« kann eine Liebe demnach nur sein, indem sie keine Antwort, sprich Gegenliebe erwartet bzw. fordert. Im Liebesvollzug geht es den Liebenden nicht um sich, sondern um den Geliebten und um die Weitergabe der selbst empfangenen Liebe, oder präziser: um die Verwirklichung der empfangenen Liebesfähigkeit.

Die Selbstlosigkeit scheint vielerorts als das Originalitätskriterium für wahre Liebe verstanden zu werden. Doch kann diese Selbstlosigkeit gefährlich missverstanden werden, wenn diese ekstatische Selbstlosigkeit in eine Selbstaufgabe mündete. Ein ekstatisch Liebender kann sich aber in seiner Liebe nicht auflösen, weil der Vollzug des Liebens zwingend eines Subjektes bedarf. Liebe ist ein Beziehungsgeschehen zwischen einem Liebenden und einem Geliebten. Fiele der Liebende seiner Liebe zum Opfer, fiele die Liebe in sich zusammen. Demnach gibt sich wahre Selbstlosigkeit nicht auf, sondern sieht von sich ab und sucht den Vorteil des Anderen. In der liebenden Ekstase lässt sich der Liebende zunächst zurück1 und übersteigt sich im Sinne des Paradoxes »Wer außer sich ist, ist ganz bei sich«.

Wenn es nun in der Heiligen Schrift heißt: „Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst“ (Lev 19,18), so ist damit zunächst gesagt, dass die Liebe zum Nächsten die Selbstliebe voraussetzt. Diese Selbstliebe darf dabei nicht mit Egoismus oder gar Narzissmus verwechselt werden. Sie setzt vielmehr „ein realistisches Selbstkonzept voraus, das auch die eigenen Schwächen, die einen beim anderen unangenehm auffallen, nicht verdrängen muss“2. Solch eine reife Selbstliebe ist dementsprechend mit „ein[em] hohe[n] Maß an Nachsicht und Geduld“3 verbunden, damit mit den eigenen Unzulänglichkeiten angemessen umgegangen werden kann. Dabei betont Romano Guardini die Wichtigkeit der Annahme seiner selbst und „unterscheidet (…) einen doppelten Aspekt im Prozess der gelingenden Selbstannahme: negativ den Verzicht auf ein illusionäres, phantastisches Selbstkonzept, das mich zur ständigen Flucht vor mir selbst verleitet, und positiv die Bereitschaft, die mir von Gott her zugedachten Möglichkeiten und Grenzen meines Daseins als Aufgabe der eigenen Lebensgestaltung zu akzeptieren.“4 Das zur Selbstliebe Formulierte lässt sich dann jedoch ohne Bruch auf die Liebe zum Nächsten übertragen und bekommt von dort her seine eigene Dynamik. Denn „welche schier endlose Geduld wir uns selbst gegenüber erweisen, welche Nachsicht wir gegenüber den eigenen Schwächen üben, wie oft wir uns auch die gleichen Fehler am Ende doch immer wieder verzeihen, wie viel Verständnis wir für die Besonderheiten unserer Lage aufzubringen bereit sind und welchen Einfallsreichtum wir dafür mobilisieren, Entschuldigungsgründe für unser eigenes Fehlverhalten zu entdecken – dann steht uns plötzlich klar vor Augen, was es heißt, die Liebe zum Nächsten dem Maß unserer spontanen Selbstliebe zu unterstellen.“5

1 „In der Liebe verwirklicht der Mensch sich selbst. Aber weder indem er sich selbst verwirklicht, noch indem er sich ausschließlich auf seine Selbstverwirklichung konzentriert, sondern dadurch, dass er achtsam mit seinen Fähigkeiten und auch mit seinen Defiziten umgeht und, soweit es seine Kräfte erlauben, immer neu den Absprung von sich selbst wagt und sich dem geliebten Du zuwendet“, Nocke, Franz-Josef, Liebe, Tod und Auferstehung. Die Mitte des christlichen Glaubens, München 2005, 100.

2 Schockenhoff, Eberhard, Grundlegung der Ethik. Ein theologischer Entwurf, Freiburg 2007, 295.

3 Ebd.

4 Ebd., 269.

5 Ebd., 295.

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