Читать книгу Korridorium – letzte Erkenntnisse - Cory d'Or - Страница 12
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Ich betrete den Korridor. Großformatige Schwarzweißfotos von Nashörnern hängen an den Wänden zwischen den Türen – Schnappschüsse meiner letzten Afrikareise. Einen Augenblick lang bleibe ich unschlüssig stehen. Was wollte ich hier noch? Nun, eigentlich ist es gleichgültig, welche der Türen im Korridor ich wähle oder ob ich überhaupt weitergehe – zumindest für einen Anhänger der Viele-Welten-Theorie wie mich, der davon ausgeht, dass sich durch jede Entscheidung, die getroffen wird, so viele parallele Wirklichkeiten bilden, wie alternative Entscheidungen möglich sind.
Jetzt weiß ich’s wieder: Ich will in den Rauchsalon – rechte Tür. Aber das gilt nur hier. Ein Alter Ego von mir in einer anderen, ansonsten völlig identischen Welt öffnet jetzt die linke Tür und betritt das Billardzimmer. Eine weitere Version von mir läuft einfach weiter bis zur Tür in den Garten, was ebenso eine neue Welt erschafft, die dieser hier ansonsten bis aufs i-Tüpfelchen gleicht, wie sich auch eine parallele Wirklichkeit von der meinigen abspaltet durch den von uns, der einfach kehrt macht und wieder zurück in die Küche geht, um sich da noch einen zweiten (oder dritten oder vierten …) Magenbitter zu genehmigen.
Sie verstehen, worauf ich hinauswill?
Was immer ich mache – letztlich mache ich in Form unzähliger Inkarnationen, die ebenso zahllose Parallelwelten bevölkern, alles. Allein eine banale Handlung wie das Betreten eines Korridors kreiert bereits eine Vielzahl von Welten. Und das ist keine philosophische Spinnerei, sondern schlicht die Konsequenz, die Physiker aus ausgeklügelten Experimenten ziehen.
Irgendwo im Multiversum hängen in diesem Korridor Farbfotos von Nashörnern. Oder Fotos von Giraffen. Oder von Einhörnern. Oder es sind alte Stummfilmplakate.
Irgendwo bin ich ein Einbrecher in diesem Korridor. Oder ein Besucher. Der Gerichtsvollzieher. Oder die Putzfrau.
Irgendwo toben meine Kinder durch die Gänge. Gab es einen Bürgerkrieg, und das Haus ist bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Liegt alles wie ausgestorben da, weil eine Seuche das Land entvölkert hat. Feiern ich, meine Familie und Freunde ein beschwingtes Fest, weil ab heute auf diesem Planeten endlich kein Mensch mehr hungern muss.
Schon ziemlich irre, welche Horizonte sich da eröffnen. Leider weiß ich das nur in der Theorie – meinem Gefühl nach leibt und lebt nur eine einzige Ausgabe meiner selbst, nämlich diese hier, und selbst da bin ich mir manchmal nicht ganz sicher. Momentan bin ich nämlich etwas unleidlich wegen meiner Magenverstimmung, und da hilft es mir wenig, zu wissen, dass anderswo – unerreichbar, wenn auch genauso real wie Sie und ich – ein Parallelwelten-Alias von mir verliebt ist, Schmetterlinge im Bauch hat und die ganze Welt umarmen könnte. Um nur eine von vermutlich Myriaden weiterer Realitäten zu nennen …
Und wenn Sie jetzt glauben, dass es angesichts dieser jede Vorstellung sprengenden Aussichten doch völlig gleichgültig wäre, wie man sich entscheidet oder auch nur, wie man sich fühlt: mitnichten! Das hier ist allein meins, mein ganz eigenes Ding, und kein wie auch immer gestaltetes Ebenbild von mir macht, wo auch immer, exakt diese Erfahrung. Gut, mit einer Magenverstimmung habe ich gerade eine schlechte Karte gezogen. Aber das geht vorbei. Wie steht es mit Ihnen?
Klar ist, was immer ich schreibe (und was immer Sie gerade lesen oder vorgelesen bekommen): Letztlich schreibe ich in Gestalt einer parallelen Ausgabe meiner selbst auch irgendwo das Gegenteil. Oder eine Version, die mit 140 Zeichen auskommt. Oder vielleicht sogar eine packende, emotionalere, die die Herzen meiner Leserinnen höher schlagen lässt und einen namhaften Hollywoodproduzenten auf den Gedanken bringt, das müsse ein abendfüllender Film werden.
Sie können also ganz beruhigt sein: Irgendwo im Multiversum der Quantenphysiker gibt es eine Parallelwelt, in der dieser Text oder eine alternative Les- und Spielart davon tief in Ihrem Inneren etwas anrührt, das Sie dazu inspiriert, diese, diese Welt auf Ihre ganz persönliche Weise gestalten und vielleicht sogar zu einer besseren zu machen.
(Sie können mir glauben oder nicht. Das macht für mich und für Sie keinen Unterschied, denn natürlich trifft letztlich beides zu.)