Читать книгу Korridorium – der SciFi-Fraktor - Cory d'Or - Страница 13

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7.4.12

Ich betrete den Korridor, das einzige, das mir vertraut vorkommt in dem Wirbel aus Farben und Formen, der mich ringsum einhüllt und schwindeln lässt. Es tut gut, festen Boden unter den Füßen zu fühlen. Aber ist es wirklich fester Boden? Alles hier ist seltsam weich und teigig, die Wände des Korridors fühlen sich nachgiebig an, als hätte man Seide über Schaumstoff gespannt.

»Alles klar bei dir da drin?«

Wer spricht da? Ist das ein Test? Ein Experiment? Ein Aprilscherz? Oder hat mich der amerikanische Geheimdienst wieder aufgegriffen?

»Gib Laut, Mann, ich hab nicht den ganzen Abend Zeit.«

Die Stimme klingt nach einem Jugendlichen. Ich kann sie nicht lokalisieren und stolpere den Korridor entlang. Kommt sie von vorne? Der Gang ist gebogen, sein Ende nicht zu sehen. »Hallo? Ist da wer?«

»Tom. N?h?o. Ich hab da ein paar Fragen, Cory.«

Cory? Ja, Cory. Aber wer ist Cory? Meine Erinnerungen widersprechen sich. Ich bin gleichzeitig eine Journalistin, der Schüler eines buddhistischen Meisters, der Minotaurus, eine Xeno-Linguistin … Wie kann das sein?

»Du bist doch ’n schlaues Kerlchen. Hast ’ne Menge geschrieben. Und ich brauch jetzt deine Hilfe. Es geht um den ›Untergang der europäischen Postmoderne am Beispiel eines Literatur-Blogs aus dem Jahr 2012‹. Ich brauch da Input.«

Wovon redet er? Der Korridor hat einfach kein Ende, und die Stimme bleibt immer bei mir. Ein Traum? Nein: Immer, wenn mir dieser Verdacht in einem Traum kommt, verwandelt er sich in einen Klartraum. Doch das funktioniert diesmal nicht. Ich wache nicht auf, weder im Traum noch im Bett. Und doch ist es irreal.

»Kannst du was anfangen damit, Cory? ›Untergang der Postmoderne‹?« Die Stimme hat etwas Drängendes.

»Das Korridorium …«

»Japp. Davon rede ich. Soll ich ’ne Facharbeit drüber schreiben.«

»Das Korridorium …«, setze ich erneut an, aber ich verstumme, denn mit einem Mal wird mir klar, dass ich das Korridorium und alle Geschichten darin geschrieben habe. Ich bin das nicht, sondern ich habe es erdacht. Ja, so muss es gewesen sein. Daher die widersprüchlichen Erinnerungen: Geschichten, die ich mir alle nur ausgemalt habe.

»Wo bin ich?«, frage ich in den gebogenen Gang. Es sind Türen da – habe ich sie vorher nicht bemerkt? Sie tragen Nummern, wie in einem Hotel. Dabei fühlt es sich eher an wie eine Bibliothek, wie der Korridor zwischen den Bücherregalen, und so riecht es hier auch. Ein Hotel, das nach Büchern riecht. Gar nicht schlecht eigentlich. 398 steht auf der Tür. Ich drücke die Klinke herunter, aber sie ist verschlossen.

»Überall und nirgends. Du bist ein Y?ulíng mit der Aufgabe, mir bei der Facharbeit zu helfen. ›Postmoderne‹, der Teach spinnt doch!«

Auch die nächste Tür ist verschlossen. Und die nächste. Und so fort. Jede trägt die gleiche Nummer. 398. Vielleicht bin ich verrückt geworden? Oder tot.

»Jetzt sag schon: Was ist postmodern an deinem Geschreibsel, und inwieweit spiegelt das den Untergang wider?«

»Was ist ›Teach‹?«

»Mein Deutsch-Teach. Tut aber nichts zur Sache. Die wird nie von dir erfahren. Ich hab dich mit Hilfe deiner Texte rekonstruiert. Private Y?ulíngs sind zwar verboten laut J?ngshénrechts-Charta, aber das ist ja hier sozusagen ein Notfall.«

Rekonstruiert? Ich laufe den Korridor entlang, rüttle an verschlossenen Türen, die alle die 398 tragen – dazu meine durcheinanderwirbelnden Erinnerungen an einen Haufen Hippies, die Pest, an ein Endlager für Atommüll, an die Arche Noah …

»Eine Rekonstruktion?«

»Japp. Hab hier am Labor-Táishì meines Vaters einfach einen Blanko-Mind genommen, mit deinen Texten gefüttert und die Sekundärliteratur abrufen lassen. Plus die wichtigsten Daten vom Anfang des Jahrtausends, das Zeitgeist-Package 1970 bis 2012. Den Rest erledigt die Stem.«

»Blanko-Mind?«

»Interessiert doch jetzt keinen Benz, Mann. Das ist alles nach deiner Zeit. Ich bin nicht hier, um dir die Welt zu erklären.«

»Die Welt von wann?«

»67. Ich sag ja: Lange nach deiner Zeit.«

»2067?«

»Ja, Bingo.« Seine Stimme klingt genervt.

2067. Wie kann das sein? Tatsächlich erinnere ich mich dunkel, gestorben zu sein. Der Tunnel ins Licht. Oder nein, das Schwert im Rücken. Doch das sind wohl auch nur Geschichten, Geschichten, anhand derer ich rekonstruiert wurde. Deshalb kann ich nur wissen, was in den Texten steht – und nichts von meinem Tod, dem des Autors, dessen Rekonstruktion ich bin. Seine – oder ihre – Storys allerdings sind widersprüchlich. Es muss Absicht sein, dass sie sich nicht festlegen. Wie soll ich wissen, wer ich bin, nicht einmal ob Mann oder Frau oder ob überhaupt ein menschliches Wesen, wenn genau das gerade das Suchspiel war, das Rätsel? Wenn alles pluridimensional daherkommt und fraktal zersplittert? Aber nein, löst sich nicht am Ende des Blogs überraschend alles auf, und es wird klar, wer Cory ist und was es mit all den Geschichten auf sich hat?!

Doch ich kann dem Gedanken nicht weiter folgen, sondern werde unterbrochen. »Okay, Mann, also das Korridorium: 400 Blogeinträge, insgesamt vom Umfang eines mittelschweren Romans. Irgendwo da drin muss was zum Untergang der Postmoderne stehen – oder halt was Postmodernes, das den Untergang beleuchtet. Also leg mal los, du bist doch Schreiberling.«

»Es sind 398 Texte. Nicht 400. Dreihundertachtundneunzig!«

»Wie auch immer.«

»Und sie sollten nicht postmodern sein, sondern post-postmodern. Verstehst du? Integral.«

»Hör zu: Das ist hier nicht der Mathe-Unterricht.«

Ich werde wütend. Da rekonstruiert mich jemand im Jahr 2067, indem er ein Blanko-Bewusstsein mit meinen Texten füttert und irgendein Computer daraus den Geist des Autors, also mich, hervorkitzelt, aber es ist kein Literaturwissenschaftler, kein Historiker, nicht einmal ein Liebhaber skurriler Kurzprosa, sondern nur irgend so ein ignoranter Schnösel, der für die Schule was über mich schreiben muss und zu faul ist, auch nur eine Zeile davon zu lesen!

»Jetzt hör du mir mal zu, du Banause! Du musst da was falsch verstanden haben: Ich hab die Postmoderne transzendiert, das mit dem Untergang ist Schwachsinn: Die Postmoderne kann doch allenfalls durch die nächste Kulturstufe, also die Integrale Perspektive abgelöst und in sie integriert worden sein! Die Moderne ist doch auch nicht ›untergegangen‹.«

»Nee, im Gegenteil: Nach der Postmoderne kam die Remoderne, und dann die Prenaissance. Déle. Das ist alles nach deiner Zeit, und jetzt lass uns endlich die Facharbeit schreiben.«

Mir schwirrt der Kopf. Die Postmoderne mit all ihren Errungenschaften soll gescheitert und spurlos verschwunden sein? Doch nicht etwa – durch mich?!

»Das Korridorium hat den Untergang verursacht?!«

»Wohl kaum. Ich hab natürlich recherchiert, was es mit diesem Korri- D?ngd?ng auf sich hat, aber es ist nix drüber zu finden. Blieb wohl unbeachtet, und ich schätze, dass es an der Quote für deutsche Literatur liegt, dass der Teach das Ding ausgegraben hat. O Mann! Zwanzigtausend Zeichen Minimum inklusive Leerzeichen – hätte echt lieber was über chinesische Literatur geschrieben!«

»Aber es muss doch einen Wikipedia-Eintrag zum Korridorium geben!«

Die Stimme lacht. Ein kurzes, genervtes Lachen. »Das ist dann wohl der monströse postmoderne Narzissmus, von dem der Teach redet: immer nur um sich selbst kreisen. Nee, Wikipedia ist längst Geschichte, der Dschiessibi hat die Sùzhìpedia draus gemacht, nach dem Meltdown.«

»Meltdown?«

»2030. War nach deiner Zeit. Und in der Sùzhìpedia …«

»Was ist der Meltdown?«, unterbreche ich ihn.

»Interessiert doch jetzt keinen Benz. Willst du jetzt wissen, ob was über dich in der Sùzhìpedia steht oder nicht?«

»Sùzhì wie Sushi?«

»Doch nicht Japanisch! Das ist Chinesisch und heißt ›schnelles Wissen‹.«

»Du sprichst Chinesisch?«

»Nur Mandarin. Jedenfalls steht nichts übers Korridorium drin. Es gibt da nur irgendeine Fußnote. Eine einzige.«

»Was für eine?«

»Keine Ahnung, hab ich mir nicht gemerkt.«

»Zum Thema ›Pluridimensionales Weltbild‹ vielleicht? Oder zu ›fraktale Literatur‹?«

»Mann, du gongst!«

»Dieser Meltdown: Danach ging’s steil bergab, oder? Ich meine: ›Remoderne‹, das klingt nach Regression. Und mit der ›Prenaissance‹ scheint es die Menschheit ja dann auf einen Schlag zurück ins dunkelste Mittelalter versetzt zu haben.«

»Na, das sagt der Richtige. Der Teach hat recht. Hauptcharakteristikum der Postmoderne: ihre abscheuliche Hybris. Neben ihrem fatalen Werte-Relativismus natürlich.«

»Und wer Cory ist? Hast du das recherchiert?«

»Interessiert doch jetzt wirklich keinen Benz. Hör endlich auf, mich vollzugongen. Ich stelle hier die Fragen! Wer soll Cory schon sein? Cory halt. Du.«

»Was soll das mit dem ›Benz‹? Wovon redest du?«

»Das ist chinesisch. Und damit pik.«

»›Benz‹ soll chinesisch sein? Und was ist ›pik‹?«

»Na, pik. Pikant. Zu deiner Zeit hätte man wohl ›cool‹ gesagt.«

»Zu meiner Zeit … Du hast mich doch gerade erst rekonstruiert. Von damals weiß ich nur irgendwelche Geschichten. Der echte Cory dagegen – hat eigentlich mal jemand rausgefunden, wer hinter dem Künstlernamen steckt?«

»Was gibt’s da rauszufinden. Ist halt irgend so ein postmodernes Versteckspiel. Du musst doch wissen, wer du bist!«

Ich kann mich an eine Preisverleihung erinnern. War es nicht sogar der Literatur-Nobelpreis? Offenbar nur eine der Geschichten. Ich kann meinen Erinnerungen nicht trauen. Wenn ich doch nur in Ruhe über mich nachdenken könnte! Und wie ich hier herauskomme aus dem endlosen Korridor … Ich stelle fest, dass mir das Herz pocht und ich nach Luft ringe. Es kommt mir vor, als hätte ich einen Marathonlauf hinter mir. Oder bin ich einfach nur wütend? Ich bin mir nicht sicher – auch nicht, ob ich überhaupt einen Puls habe oder atme. Ich bin nur eine Simulation, zusammengesetzt aus Worten. Können die mit der Methode alle wieder zurückholen? Joyce, Homer, Kafka, Goethe?

»Weißt du was, Mann?«

Ich lehne schweratmend an einer der Wände des Korridors. Was hätte Cory jetzt getan?

»Ich geb den ganzen Kram meiner Mutter. War ’ne Scheißidee, dich zu rekonstruieren. M? meint, ich brauch die Spitzennoten für später, Karriere und so, und dann soll sie halt was dafür tun. Für sie ist die Facharbeit ein Klacks.«

»Und was ist mit mir?«

»Was soll schon sein. Ich lösch dich wieder.«

»Das kannst du nicht tun!«

»Werden wir ja sehen.«

»Warte!« Wie hieß er noch? «Ich kann dir helfen, Tom.«

Er lässt sich Zeit mit der Antwort. Ich fühle, wie mir der Schweiß ausbricht.

»Es gibt da diese Geschichte«, rufe ich in den leeren Korridor, »über die Chinesen: Sie schrumpfen sich, bis alle von ihnen in die Verbotene Stadt reinpassen. Eine Satire.« Ich muss improvisieren. Ein Versuchsballon, aber etwas Besseres fällt mir nicht ein.

»Ganz schlecht. Das wird dem Dschiessiebi nicht gefallen. Komisch, dass das dem Teach durchgerutscht ist.«

»Wer ist dieser Dschiessiebi?«

»Unser Großer Kaiserlicher Wohltäter. Der auf dem Drachenthron.«

»Eine … chinesische Weltdiktatur?«

»G?upì!« Es klingt wie ein abfälliges »Quatsch!«, als er das sagt. Jetzt bloß nichts Falsches sagen! Ich bin ein namenloser Gefreiter, der Teufel, ein Elefant, ein Schweigemönch, eine alte Frau mit Alzheimer, ein Attentäter, eine Stimme aus dem Jenseits, eine Nachtschwärmerin, ein Computeralgorithmus … Alles zugleich, und alles durcheinander. Um Zeit zu gewinnen, muss ich eine Geschichte erzählen. Die Geschichte, die er hören will.

Ich senke meine Stimme und lege allen Nachdruck hinein: »Aber gerade das könnte doch eine Spur zum Untergang der Postmoderne sein, verstehst du?!«

»Hm. Nicht schlecht. Da könnte ich was dran aufziehen.« Tom scheint anzubeißen.

»Hybris, weißt du? Postmoderner, narzisstischer Größenwahn. So waren wir damals alle. «

Vielleicht habe ich übertrieben, denn Tom zögert jetzt. Schließlich meint er gedehnt: »Hast du nicht gesagt, du warst … integral.«

»Ja, klar, das ist ja gerade der Größenwahn: zu denken, man könne ganzheitlich-nachhaltig alle Aspekte umfassen und integrieren, Machthierarchien durch Kompetenzhierarchien ablösen, pluridimensional-umfassende Lösungen für die komplexesten Probleme finden, den Werteverfall als neuen Wert hochjubeln. Das musste ja zum Untergang führen, gerade angesichts dessen, was sich da zu meiner Zeit in China entwickelte.«

»In China entwickelte?«

»Na, die Remoderne. Oder schon die Prenaissance. Der Dschiessiebi und die – wie hieß noch die neue Menschenrechts-Charta?«

»J?ngshénrechts-Charta.«

»Ja, Mann, was auch immer das ist: der Untergang der europäischen Postmoderne – steht alles drüber drin im Korridorium. Ich kann dir da jede Menge erzählen.«

»Dann schieß los. Du diktierst, und Bàs Táishì schreibt mit. Aber schön mit Gliederung und Fußnoten, hörst du? Ich leg dann mal meine Füße hoch.«

Hätte Cory das gemacht? Um sein – oder ihr – Leben geredet und alles verraten, die Hoffnung, Sehnsucht, die Erkenntnisse und das Ringen um etwas, für das es sich zu schreiben und zu kämpfen lohnt? Nur um nicht umgehend wieder gelöscht zu werden? So muss sich Scheherzerade gefühlt haben.

»Weißt du, Cory, ich will später einfach nur Tiger nachzüchten.«

»Tiger nachzüchten, tatsächlich?«

»Lässt der Great Chinese Benefactor in Zhongguancun über tausend Forscher dran tüfteln, aber die kriegen’s einfach nicht hin, trotz DNA und allem. Wenn ich das dann schaffe, bin ich ein gemachter Mann. Du ahnst nicht, was die da für Tigerj?bas bezahlen würden. Als Afrosidia ... diasi …«

»Aphrodisiakum.«

»Japp.« Und nach einer kurzen Pause: »Bist doch gar nicht so’n Idiot, wie ich dachte, Cory.«

Und damit beginne ich, ein umfangreiches Referat zu halten über den Untergang der Postmoderne, gespiegelt durch 398 skurrile Kurzprosa-Texte, in deren labyrinthischem Versteckspiel immer wieder die monströse Hybris und der ebenso abscheuliche wie fatale Werte-relativierende Narzissmus aufschimmern, die aber dann letztlich das glorreiche Zeitalter der Remoderne einläuteten und die Prenaissance ermöglichten – und natürlich unseren Großen Kaiserlichen Wohltäter auf dem Drachenthron, den Dschiessiebi.

[Auf viele in dieser Geschichte erwähnten Figuren und Situationen wird im Original-Blog jeweils intern verlinkt. Passwort und Link – und damit den Zugriff auf die »Korridore«, auf die in dieser Story angespielt wird – finden Sie im Nachwort dieses E-Books. Anm. d. Hrsg.]

Korridorium – der SciFi-Fraktor

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