Читать книгу Ich hab' den Ausbau nicht gewollt - Cristina Fabry - Страница 10

Schröttinghausener Straße, Mittwoch, 14. September 2016

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Das Mittagessen lag Luise schwer im Magen, obwohl Martina nicht besonders fettig kochte, aber Erbsen vertrug sie nicht mehr so gut und zusätzlich Möhren zu schälen, zu zerkleinern und zu schmoren, war Martina zu viel Arbeit gewesen. Luise beklagte sich nicht, denn Martina hätte ohnehin geantwortet: „Dann iss eben nicht so viel, bist sowieso ein bisschen voll um die Hüften.“

Auch solche Bemerkungen schluckte Luise herunter, obwohl Martinas Becken definitiv das Ausladendere war. Ein bisschen gerundet, klein und kompakt war die alte Frau schon als junges Mädchen gewesen und ihr Leben lang so geblieben, denn sie hatte nie hungern müssen, weder während des Zweiten Weltkrieges noch in der Nachkriegszeit. Nur hatte sie angefangen, auf ihre Ernährung zu achten, als sie gegen Ende ihres fünften Lebensjahrzehnts aufkommendes Sodbrennen bei sich beobachtete, wenn sie zu fettig oder mehr als ein Stück Torte gegessen hatte. Sie wollte nicht so enden wie ihre Mutter, die noch unter siebzigjährig einem schweren Magenleiden erlegen war, mit entsetzlichen Schmerzen, häufiger Übelkeit, dem Erbrechen von Blut und einer fortschreitenden Entkräftung. Gänzlich ohne Lebensfreude hatte ihre Mutter sich die letzten fünfundzwanzig Jahre ihres Lebens durch die Tage geschleppt und Luise vermutete, dass sie die frühen Warnsignale ignoriert und einfach weitergemacht hatte mit der guten, bäuerlichen, ostwestfälischen Kost: in Schmalz gebratenes Fleisch, zerlassene Butter an jedem Gemüse, herrlicher, selbst gebackener Kuchen, fettige Saucen und Rahmsuppen. Dazu häufig Kohl und Hülsenfrüchte, Zwiebeln und saure Äpfel. Luise hatte anfänglich auch so gekocht, aber als sie merkte, dass es in der Magengegend zwickte und sie sauer aufstoßen musste, fragte sie ihren Hausarzt, worauf sie achten müsse und ab sofort gab es weniger Gebratenes, viel gedünstetes Gemüse, leichtere Saucen zu den Salzkartoffeln, höchstens ein Stück Kuchen am Nachmittag und allerhöchstens vier Tassen Kaffee als Tagesdosis. Damit war sie nun ziemlich weit gekommen, ohne Magengeschwüre, Diabetes, Rheuma oder Gicht. Wenn nur Martina etwas rücksichtsvoller wäre. Sie legte sich, so wie sie war, aufs Bett und schloss die Augen. Immer noch lag ein feiner Duft in ihrem Schlafraum. Sie hatte schon Weichspüler für die Wäsche benutzt, als alle anderen darüber noch abfällig die Nase gerümpft hatten, aber in ihrem Schlafzimmer hatte schon damals die Wäsche ihr zartes Parfum verströmt, so dass sie sich zwischen den Laken gefühlt hatte, als habe jemand sie auf einer paradiesischen Blumenwolke gebettet. Das mit dem Weichspüler hatte Martina so beibehalten, auch wenn die Zusammensetzung der Duftstoffe heute viel süßlicher war als damals. Vor allem, wenn Martina bügelte, suchte Luise das Weite. Der intensive Geruch kitzelte unangenehm am Gaumenzäpfchen und verursachte eine leichte Übelkeit. Im kalten Zustand roch es jedoch angenehm sauber und frisch und so hatte sie es immer haben wollen und auch gehabt.

Plötzlich legte sich ein Schatten auf ihr Gesicht, den sie durch die geschlossenen Lider wahrnahm. Luise zuckte zusammen und öffnete reflexartig die Augen. Wie eine bedrohliche Erscheinung stand Martina vor ihrem Bett und schimpfte: „Was liegst du da mit deinen guten Sachen auf dem Bett rum? Das wird doch alles kraus! Zieh wenigstens das Kleid aus und deck dich anständig zu!“

Luise wäre gern einfach liegen geblieben, aber sie gehorchte, damit die Situation nur schnell vorüberging und sie in Ruhe ihr mittägliches Nickerchen halten konnte. Rüde und mit eckigen Bewegungen half ihr Martina beim Entkleiden und hängte das Kleid auf einem Bügel an den Schrank. Dann schlug sie die Bettdecke zurück, hob Luises Füße hoch, damit sie schneller in die Waagerechte kam und stopfte um sie herum die Bettdecke fest, als wolle sie sie im Bett fixieren, obwohl sie ganz genau wusste, dass Luise die Decke lieber locker auf sich liegen hatte, so dass sie auch mal einen Arm oder ein Bein darunter hervorstrecken konnte. Früher hätte sie sich so etwas von ihrer Tochter nicht bieten lassen, aber jetzt hatte sie einfach keine Kraft mehr, Widerstand zu leisten.

Außerdem befürchtete sie, wenn sie ihre Tochter und ihren Schwiegersohn zu sehr reizte, am Ende von ihnen misshandelt zu werden. Sie könnten sie auch in ein Pflegeheim abschieben, und das wollte sie auf jeden Fall verhindern, denn lieber wollte sie sterben, als die Jahre, die ihr blieben in so einer entmenschlichten, unpersönlichen Umgebung frei von jeder Privatsphäre und Selbstbestimmung dahinzuvegetieren. Darum wollte sie auch um jeden Preis verhindern, dass etwas von ihrem schief hängenden Haussegen nach außen drang. Möglicherweise wären Martina und Manfred darüber derartig verärgert, dass sie nicht lange fackeln würden und sie in ein Pflegeheim verfrachteten. Davon abgesehen hatte Luise einen guten Ruf zu wahren; kein noch so kleiner Skandal sollte ihre Familienehre beschmutzen. Selbst wenn Martina und Manfred auszögen und eine professionelle Pflegekraft sie so versorgen und verwöhnen würde, wie es ihren Wünschen entsprach, würde sie die Schmach nicht ertragen, als Mutter versagt zu haben und die Familie auseinanderbrechen zu lassen. Sie fragte sich, warum Martina so gänzlich anders geworden war, als sie es sich als Mutter erträumt hatte. Als Baby war sie so niedlich wie ein Püppchen gewesen und Luise hatte sich ihre Zukunft ausgemalt: ein Mädchen mit der Anmut einer kindlichen Shirley Temple, ein Backfisch wie die junge Romy Schneider, eine Braut wie Grace Kelly und eine Dame von Welt wie Jacky Kennedy.

Als Kleinkind hatte sie Martina herausgeputzt: niedliches Kleidchen mit gestärkter Spitze und Rüschen, im Sommer aus Leinen und im Winter aus leuchtend blauem Samt oder sie hatte weiße Angora-Jäckchen gestrickt und Mützchen gehäkelt, die sie farbig bestickte oder mit Seidenblumen verzierte. Alle erdenklichen Lackschuhe hatte Martina besessen und nichts war ihr für ihr Töchterchen zu kostspielig gewesen. In der Sportkarre hatte sie ihr Mädchen im Dorf spazieren gefahren, und sie wusste genau, wer neidisch und missgünstig hinter der Gardine lauerte, wenn sie ihren kleinen Prachtengel öffentlich präsentierte.

Als Martina die Grundschule besuchte, die damals noch direkt im Dorf stand und nicht wie heute im vier Kilometer entfernten Langenheide, hatte Luise sich dahinter geklemmt, dass ihr Kind gute Noten bekam. Sie hatte das kleine und das große Einmaleins mit ihr gelernt, Übungsdiktate geschrieben, ihr gezeigt, wie man häkelte und Knöpfe annähte, war zum Elternsprechtag gegangen und hatte aus dem Lehrer herausgekitzelt, wie sie ihre Tochter beim Lernen bestmöglich unterstützen konnte. Nie hatte sie sie mit schmutziger oder krauser Kleidung oder ungeputzten Schuhen zur Schule gehen lassen. Sie war immer gründlich gewaschen, ordentlich frisiert und die Fingernägel waren sauber und geschnitten. Sie hatte auch auf eine gehaltvolle Ernährung geachtet, damit das Kind einen guten Start bekam: Morgens gab es Milch und Haferschleim mit Honig, mittags täglich Fleisch mit Kartoffeln und Gemüse und immer Nachtisch, weil man beim Essen auch etwas für die Seele brauchte.

Als der Wechsel zur Realschule anstand, war sie stolz gewesen, dass ihre Tochter sich beim Essen nicht wie andere Mädchen zickig anstellte, sondern ordentlich zulangte und alles verputzte, was sie ihr vorsetzte.

Jeden Morgen hatte sie ihr ein paar stramme Zöpfe geflochten und Martina hatte sich nie beklagt, doch mit zwölf Jahren hatte sie plötzlich den Wunsch, ihr Haar offen zu tragen, nur durch ein Stirnband gehalten oder mit einer Spange zum einfachen Pferdeschwanz gebunden.

„Martina“, hatte Luise erklärt, „offene Haare sind nichts für die Schule. Das ist was für feine Damen, die sich kaum bewegen und immer einen Kamm oder eine Bürste in der Handtasche haben und sich zwischendurch kämmen. Deine Haare wären dann mittags ganz verfilzt und durcheinander und du würdest schreien und heulen, wenn ich sie dir dann bürsten würde.“

„Aber Gitta Hartmann hat die auch so offen und mit Stirnband.“

„Das kann ja sein, aber diese Hartmanns sind auch keine ordentlichen Leute. Das sind so Zugezogene aus Bielefeld, von denen keiner so genau weiß, wie die eigentlich ihr Geld verdienen. Mit denen gibst du dich am besten gar nicht ab.“

„Ich war aber schon bei der zu Hause, und da sieht es überall ganz schön aus, so wie in einem Schloss.“

„Ja, das kann ich mir denken.“, hatte Luise geantwortet und für sich behalten, für welche Art von Schloss sie die Wohnung der Familie Hartmann hielt, die Räume in einem alten Wohnhaus gemietet hatten, das mal der Familiensitz eines großen Glaserbetriebes gewesen war. Im Dorf wusste man, dass er eine kleine Halbweltkneipe in der Bielefelder Altstadt besaß, in der auch seine Frau kellnerte und man munkelte, dass ihm auch ein Bordell im nahegelegenen Steinhagen gehörte, weil er immer behauptete, noch mitten in der Nacht seine Kellnerinnen nach Hause fahren zu müssen. Alle waren sich einig, dass man in einer kleinen Kneipe wohl kaum bis in die Nacht mehrere Kellnerinnen benötigte, sondern dass Hartmann seine Huren heimfuhr, für die er sich als ihr Anstellungsträger und Zuhälter verantwortlich fühlte. Die Tochter besuchte zusammen mit Martina die Realschule und sah für eine Zwölfjährige schon reichlich lasziv aus. Sicher war die Wohnung eingerichtet wie ein Edelpuff. Von solchem Umgang sollte ihre Tochter sich tunlichst fernhalten.

Martina hatte nicht locker gelassen: „Warum kann ich nicht wenigstens mit einem Pferdeschwanz zur Schule gehen? Husemanns Rita hat auch einen.“

„Husemanns Rita hat nicht so lange Haare wie du. Dann hält das besser und die Haare geraten auch nicht so durcheinander. Aber dann müsste dir der Friseur ganz viel abschneiden und dann würdest du ja fast so aussehen wie ein Junge.“

Eines Tages hatte Martina ihre Zöpfe heimlich auf dem Schulweg gelöst und sie bei der Heimfahrt im Bus wieder neu geflochten. Doch das war Luise sofort aufgefallen, denn der Scheitel war nicht gerade, die Strähnen ungleichmäßig dick und es war nicht zu übersehen, dass sie gerade frisch geflochten worden waren. Luise hatte sie zur Rede gestellt und hart bestraft: eine Woche Hausarrest und nach den Hausaufgaben keine Freizeit, sondern putzen, Stachelbeeren abknipsen, Socken stopfen und Taschentücher bügeln. Nichts, was ihre Tochter vom geraden Weg hätte abbringen können, hatte sie ihr durchgehen lassen und Martina tat das nie wieder, sie behielt die Zöpfe bis zur Konfirmation.

Als Martina mit zwölf Jahren bei der Landjugend mitmachen wollte, wusste Luise auch das zu unterbinden. Für den Besuch des Kindergottesdienstes war sie zwar schon langsam zu alt und als Helferin noch zu jung, aber für den Übergang hatte Luise ihren Mann überreden können, einen Klavierlehrer ins Haus kommen zu lassen. Sie hatten ein solides, gebrauchtes Instrument erworben, dessen mit Wurzelholz verzierter Korpus sich einnehmend geschmackvoll in ihrem Wohnzimmer mit Perserteppich, beigefarbenen Polstermöbeln und Hochglanz lackiertem Nussbaumschrank machte. Wenn nun am Donnerstag Nachmittag Hans Dillinger – der Klavierlehrer – ins Haus kam, fühlte Luise sich wie eine Hochwohlgeborene. Er war in ihrem Alter, äußerst gutaussehend, gebildet und hatte so feine Manieren, wie Luise sie zuletzt im Pfarrhaus erlebt hatte, wenn sie in ihrer Kindheit und Jugend bei ihrer besten Freundin Elisabeth Schuchart zu Besuch gewesen war. Etwas von der Kultiviertheit dieses Mannes musste einfach auf ihre Tochter abfärben. Dillinger war streng und ernst, wurde aber niemals laut. Wenn seine perfekt manikürten Finger über die Tasten flatterten, glaubte sie jedes Mal, ihr Herz müsse vor Wonne überlaufen. Obwohl sie sich danach sehnte, von ihm als gleich zu gleich wahrgenommen zu werden und ihm auf Augenhöhe begegnen zu können, hatte sie es sich dennoch nie nehmen lassen, ihn jeden Donnerstag auf geradezu devote Weise zu empfangen. Sie hatte immer ein frisch gebügeltes, feines Kleid getragen, dazu Nylons und elegante Pumps, doch darüber eine blütenweiße, gestärkte Spitzenschürze, in der sie dem Lehrer Kaffee, schwarz mit einem Löffel Zucker und etwas Gebäck serviert hatte. Wie sie schon bald herausgefunden hatte, bevorzugte der Musikpädagoge knusprige Waffelröllchen, die sie von nun an immer in ihrem Plätzchen-Sortiment bereithielt. Auch Jahrzehnte nach den Klavierstunden gehörten die knusprigen Waffelröllchen zu Luises festem Bestand an Kaffeegebäck.

Heute fragte sie sich, ob es Martina wohl aufgefallen war, dass ihre Mutter den Klavierlehrer anschmachtete wie ein Backfisch, aber Luise hatte kein schlechtes Gewissen, denn sie hatte sich nichts zuschulden kommen lassen und nie ein Grenze überschritten. Mit Hans Dillinger war sie stets per Sie gewesen und hatte sein Bedürfnis nach Distanz respektiert., die er durch sein Verhalten zu wahren beabsichtigte.

Etwa um die gleiche Zeit begann für Martina auch der Katechumenen-Unterricht, immer Dienstags von 15.00 – 16.30 Uhr im Gemeindehaus, direkt neben der Kirche. Pfarrer Fischer, der seinen Dienst gerade erst angetreten hatte, hatte zwar bis zur Konfirmation durchgehalten, sich aber zwei Jahre später aus Häger verabschiedet und den Pfarrbezirk einer zweijährigen Vakanz überlassen. Doch im Jahr 1968, am zweiten Sonntag nach Ostern war Martinas großer Tag gewesen und noch heute erinnerte sich Luise an alle Details: Sie hatte den Blumenschmuck auf dem Altar gestiftet – ein Gesteck aus Tulpen, Nelken und Anthurien in rosa und weiß, durchwirkt mit Schleierkraut und eingerahmt in frische Buchsbaumzweige. Martinas Kleid hatte sie in einer Wertheraner Schneiderei nähen lassen, aus fest gewebtem, edlem weißen Bouclé, knielang, leicht ausgestellt mit hohem, aber breitem Rundhalsausschnitt und kurzen Ärmeln, die von feinster, weißer Spitze gesäumt waren. Dazu hatte Martina eine helle Feinstrumpfhose und weiße Riemenschuhe getragen, nicht ganz flach, aber nur mit gerade mal so viel Absatz, dass die Eleganz des Kleides nicht durch die Plumpheit der Schuhe konterkariert wurde.

Martina hatte sich die Haare kurz schneiden und sogar ein wenig toupieren lassen dürfen. Sie trug ein mit weißen Satinröschen besetztes Haarband und gegen den kühlen Wind ein weißes Jäckchen aus Kaninchenfell.

An ihr eigenes Kleid konnte Luise sich ebenfalls noch gut erinnern, das hatte sie auch in Werther nähen lassen: es war ein Kostüm mit geschlitztem Rock und Dreiviertel-Ärmel-Jacke aus altrosa Tweed gewesen, dazu hatte sie eine cremefarbene, weich fallende Nylonbluse gekauft, in der sie auch ohne die Jacke zusammen mit dem Rock eine glänzende Figur gemacht hatte. Cremefarben waren auch ihre weichen Lederpumps gewesen und rosa der Rosenquarz in ihrem Silberring mit ovaler Fassung, den ihr Ludwig zum zwanzigsten Hochzeitstag geschenkt hatte. So elegant war sie gewesen, obwohl sie zuvor zwei Wochen lang das Haus von oben bis unten geputzt hatte und Freitag und Samstag nahezu durchgehend in der Küche zugebracht hatte mit Kuchen backen, braten einlegen, Kartoffeln schälen, Gemüse putzen...Sogar das Mittagsmenü hatte sie noch im Kopf: Hühnersuppe mit Blumenkohl und Eierstich, Rinderbraten und Schweinebraten mit Sauce, Kartoffeln, dazu Erbsen, Möhren und frischen Spargel mit holländischer Sauce. Als Nachtisch gab es Weinschaumcreme in rot und weiß, zum Essen einen leichten Moselwein und nach dem Essen Wacholder für die Herren, Eierlikör für die Damen, und wer es zu schätzen wusste, konnte auch einen Cognac bekommen. Die Anzahl der Gäste war einigermaßen überschaubar gewesen, denn sowohl Ludwigs Vater, als auch ihre Mutter waren bereits verstorben. Ihr Bruder Rudi mit Frau und Kind, ihre Schwester Marie mit ihrem Mann, ihr Vater und Ludwigs Mutter waren die ganze Verwandtschaft. Luises Bruder Georg war im Krieg gefallen, Ludwigs Bruder Heinz ebenfalls und sein Bruder Ewald hatte im Gegensatz zu Ludwig die russische Gefangenschaft nicht überlebt. So waren nur noch Martinas Paten mit ihren Ehepartnern zugegen gewesen und die insgesamt vierzehn Personen hatte sie in Wohn- und Esszimmer unterbringen und bewirten können. Ach und Martina hatte so schöne Wäsche für die Aussteuer bekommen: Tischtücher aus bestem, feinstem Damast, halbleinene Geschirrtücher, griffige Frotteehandtücher und auch viel gutes Geld. Am meisten hatte das Kind sich aber über den Plattenspieler gefreut, den ihr der Patenonkel geschenkt hatte.

Nach der Konfirmation hatte Martina begonnen, sich langsam dem Einfluss ihrer Mutter zu entziehen. Oft hatte sie in ihrem Zimmer auf dem Bett gelegen und Schallplatten angehört, statt wie behauptet an ihren Hausaufgaben zu arbeiten. Luise hatte ihr zwar nicht erlaubt, sich die Bravo zu kaufen, aber Martina hatte immer jemanden gefunden, der ihr das ausgelesene Jugendmagazin zur Verfügung stellte.

Schon bei der Konfirmation war Martinas Körper deutlicher gerundeter gewesen, als der der meisten anderen Mädchen, aber im folgenden Jahr legte sie mächtig an Gewicht zu und hatte mit massiven Hautproblemen zu kämpfen. Es war in dieser Zeit oft zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Mutter und Tochter gekommen, doch in den meisten Fällen hatte Luise sich durchgesetzt. Sie war froh und dankbar gewesen, dass ihre Tochter weder rauchte noch trank und auch nicht mit den Jungs um die Häuser zog wie so manches leichte Mädchen, was dann am Ende mit einer unehelichen Schwangerschaft dastand.

Als Martina die zehnte Klasse besuchte, machte Luise sich große Sorgen. Die Fünfzehnjährige hatte zu gar nichts mehr Lust außer Musik hören, Fernsehen, stricken und häkeln. Höchst selten traf sie sich mit Freundinnen, und in der Schule strengte sie sich nicht mehr an als unbedingt nötig. Sie konnte sich nicht einmal aufraffen, Bewerbungen auf eine Lehrstelle zu schreiben. Bei jedem Beruf, den die Eltern ihr vorschlugen, fielen ihr Argumente ein, warum sie ihn unmöglich ausüben könne. Luise hätte ihre Tochter am liebsten als Chefsekretärin in einem angesehenen Betrieb gesehen, aber Martina hatte mit ihrem plumpen, reizlosen Äußeren und ihrem ungeschickten Auftreten nicht den Hauch einer Chance gehabt. Luise schüttete dem damaligen Pfarrer, der in der noch immer währenden Vakanz den Pfarrbezirk Häger mitbetreute, ihr Herz aus, und der hatte eine Idee: „Wenn die Martina so häuslich ist, wäre der Beruf der Erzieherin doch sicher für sie geeignet. Wer gern strickt, der bastelt auch gern, und den richtigen Umgang mit den Kindern lernt sie sicher schnell. Zum Sommer nächsten Jahres wird in Häger der Kindergarten eröffnet, da bietet es es sich doch geradezu an, einen Lehrling aus dem Dorf einzustellen. Sie soll mal einfach eine Bewerbung an die Gemeinde schicken und sich auch bei der Fachoberschule bewerben. Ich werde mich auf jeden Fall für sie einsetzen.“

Luise hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt und ihre Tochter angetrieben, bis sie die Bewerbungen geschrieben und abgeschickt hatte. Sie hatte genauestens kontrolliert, ob sie auch angemessen gekleidet und gepflegt zum Vorstellungsgespräch erschienen war und hatte erst wieder ruhig schlafen können, als Martina die Zusage für die Lehrstelle in der Tasche hatte. Und mit diesem uralten Gefühl einer tiefen Erleichterung glitt Luise nun in den ersehnten Mittagsschlaf.

Ich hab' den Ausbau nicht gewollt

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