Читать книгу Ich hab' den Ausbau nicht gewollt - Cristina Fabry - Страница 14

Schröttinghausener Straße – Mittwoch, 14. September 2016

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Wieder war ein Tag vergangen und Luise Sickendiek lag entspannt im Bett, eine Wärmflasche zu ihre Füßen, die dritten Zähne im Reinigungsbehälter und um sie herum vollkommene Dunkelheit, weil sie sich schon vor Jahrzehnte daran gewöhnt hatte, mit geschlossenen Jalousien zu schlafen.

Seit der Fußballverein spät am Abend noch bei vollem Flutlicht direkt nebenan trainierte, war das auch bitter nötig geworden.

Obwohl es nichts zu sehen gab, starrte sie mit offenen Augen an die Decke. Bernhards Besuch schickte ihre Gedanken in eine Zeit, in der sie noch jünger gewesen war als ihre Tochter heute und auch in einer gesundheitlich besseren Verfassung als Martina in diesem Alter.

1975 waren ihre Schwester Marie und ihr Schwager Bernhard in den schönen neuen Bungalow in der Neubausiedlung auf der anderen Seite der großen Dorfstraße eingezogen. Das Haus, das sie gemeinsam mit ihrem Mann erreichten lassen hatte, hatte schon seit elf Jahren gestanden. Sie hatte sich damals nicht nur für ihre kleine Schwester gefreut, die nun nach mehreren Jahren den beengten und unwürdigen Verhältnissen bei den Schwiegereltern entflohen war, sondern sich gleichzeitig erinnert, mit welcher Freude sie selbst – immerhin schon vierzigjährig – ins eigene Haus gezogen war, wo sie endlich schalten und walten konnte wie sie wollte. Damals war sie voller Euphorie gewesen. Als sie nun das schicke neue Eigenheim ihrer Schwester bewundert hatte, war Neid in ihr aufgekommen und sie hatte sich dafür geschämt, denn sie hatte Marie das neue Haus von Herzen gegönnt. Nur war bei ihrer Schwester alles so perfekt gewesen, wie es bei ihr niemals sein würde.

Ludwig hatte genau wie Bernhard bei der Kreissparkasse gearbeitet, aber im Gegensatz zu Bernhard, der seine Karriere rasch vorangetrieben hatte und schon bald als Großkundenberater eingesetzt wurde, war Ludwig bis zu seinem Ruhestand ein kleiner Schalter-Angestellter geblieben. Er hatte seine Arbeit stets ordentlich und gründlich gemacht, war beliebt bei den Kunden und angesehen in seinem Dorf gewesen. Aber er hatte nicht Bernhards Esprit besessen, so dass Luise sich immer mit weitaus bescheideneren Ausführungen von Geschirr, Möbeln, Raumausstattung, Haushaltsgeräten, Kleidung und Schmuck hatte zufrieden geben müssen als ihre kleine Schwester. Sie selbst hatte ihren Teil der Abmachung erfüllt: Sie hatte ihrem Mann ein Kind geboren und großgezogen, führte den gemeinsamen Haushalt und trug zum guten Ruf ihres Mannes bei, indem sie den Vorsitz der Frauenhilfe übernommen hatte – wenn auch im jährlichen Wechsel mit Hildegard Bierhoff – und indem sie sich nichts Despektierliches zuschulden kommen ließ. Sie hatte bei Brünings im Laden ausgeholfen, stundenweise, damit Hannelore auch einmal Zeit hatte, auf den Friedhof zu gehen, sich in Bielefeld ein Kleid zu kaufen oder sich beim Friseur eine neue Dauerwelle machen zu lassen. Dafür hatte sie ihr eigenes Geld bekommen – für die Luxusdauerwelle, die frischen Rosen im Winter aus dem Blumenladen, das Parfum und die Pflegeserie aus der Drogerie, dessen türkisfarbene, elegant geformten Behälter perfekt zu den spiegelblank geputzten Fliesen ihres Badezimmers passten. Eigentlich hatte sie alles so bekommen, wie sie es haben wollte, doch angesichts des modernen, nagelneuen Luxus-Bungalows ihrer Schwester erschien ihr das eigene Haus plötzlich schäbig, kleinbürgerlich und verwohnt.

Auch Ludwig entsprach nicht ganz dem Bild ihres Traummannes. Gut, er tat, was sie ihm auftrug, war stets ritterlich um sie besorgt, brüllte sie nie an, tat seine Arbeit, unterstützte sie im Haushalt und bei allen ihren Vorhaben. Doch eigentlich hätte sie sich lieber an der Seite eines weltmännischen Repräsentanten gesehen, einem Doktor oder Professor, ja sogar der Klavierlehrer hatte mehr hergemacht als ihr eigener Gatte.

Und Martina? Um die hatte sie sich wie immer am meisten gesorgt. 1975 hatte sie zwar ihre Ausbildung schon abgeschlossen – immerhin war sie schon ein-und-zwanzig und arbeitete seit zwei Jahren in ihrem Beruf – aber der Kindergarten in Häger hatte sie nicht übernommen und so war sie schließlich in Jöllenbeck untergekommen, wo es ihr überhaupt nicht gefiel. Ihre große Unzufriedenheit war ihr überdeutlich anzusehen gewesen und Luise hatte damals befürchtet, Martina würde nie einen Mann finden. Nicht einmal der Tanzkurs, den sie als Siebzehnjährige absolviert hatte, hatte ihr auch nur ansatzweise einen Erfolg beschert. Überall um sie herum wurden junge Familien gegründet und mindestens einmal im Monat läuteten freitags in Häger die Hochzeitsglocken, aber Martina schien leer auszugehen. Dabei war sie gar nicht mehr so unansehnlich wie als Teenager. Ihr Hautbild hatte sich verbessert, sie trug eine modische Pilzkopffrisur, benutzte Lippenstift und Wimperntusche, lackierte sich die Nägel rot und hatte mit ein paar Diäten auch so viel abgenommen, dass sie zwar noch immer etwas rundlich, aber keinesfalls mehr übergewichtig war.

Doch auch diese sorgenvolle Zeit war vorübergegangen und mit dem Beginn des neuen Jahrzehnts war alles anders geworden.

1980 trat ein neuer Pfarrer seinen Dienst an, die letzten drei hatten es immer nur kurze Zeit ausgehalten: drei bis vier Jahre, dann waren sie wieder verschwunden gewesen. Keiner hätte Pfarrer Schuchart, der sie selbst konfirmiert hatte, das Wasser reichen können, aber der junge Familienvater, der nun seinen Dienst antrat, war aus einem anderen Holz geschnitzt als seine letzten drei Vorgänger, das hatte Luise sofort bemerkt. Er war gutaussehend und selbstbewusst, hatte hervorragende Manieren, eine hübsche Ehefrau, zwei entzückende Kinder, eine gesunde Einstellung zum Glauben und zum Gemeindeleben und einen schier umwerfenden Charme. Hinzu kam, dass auch er fasziniert war von der quirligen, kleinen Luise, die zwar in allen kirchlichen Angelegenheiten zu Hause war, sich auskannte mit dem Kirchenjahr, der Liturgie, den biblischen Geschichten, den kirchlichen Strukturen und dem Netzwerk der Frauenhilfe, aber trotzdem stets fröhlich und lebenslustig war, nicht so verbiestert wie das übliche Material, mit dem er sich herumärgern musste. Sie ging ihre Projekte mit einer Entschlossenheit und einem Selbstvertrauen an wie eine Scarlett O'Hara, die am Ende immer bekam, was sie wollte, abgesehen von ihrem Ashley. Dass sie dabei eher wie die Hobbit-Version von Elisabeth Mountbattan aussah, tat ihrer Wirkung keinen Abbruch. Er schätzte sie und fühlte sich aufs Vortrefflichste von ihr unterhalten. Luise hatte das sehr bald gespürt und wider alle Vernunft ihr Herz an den über zwanzig Jahre jüngeren Mann verloren. Der wiederum genoss die unverhohlene Bewunderung, wenn er auch nicht im Traum daran dachte, sie zu seiner Geliebten zu machen, aber er nahm Sickendieks private Einladungen vor allem wegen der vortrefflichen Bewirtung immer gern entgegen und revanchierte sich mit dem einen oder anderen privaten Abendessen im Kreise seiner Familie. Obwohl Ludwig natürlich immer dazu gehörte, zumal er auch ein treuer Kirchgänger war, der es wirklich ernst meinte, hatte Luises Gatte kein gutes Gefühl bei dieser halbherzigen Freundschaft, erinnerte es ihn doch an Luises Schwärmerei für den Klavierlehrer, die ihm keineswegs entgangen war. Er hatte keine Angst, dass sein Frau mit dem Pfarrer durchbrannte, dafür war er zu realistisch, aber es schmerzte ihn, dass sie für ihn nie diese bedingungslose Hingabe an den Tag gelegt hatte und er befürchtete, seine Frau könne sich mit ihrem offenkundigen Backfisch-Gebaren zum Gespött des ganzen Dorfes machen und ihn gleich mit in den Abgrund ziehen.

1981 ereignete sich etwa, das Martinas Leben in neue Bahnen lenkte. Beim Polterabend einer Kollegin lernte sie einen schüchternen, jungen Mann kennen, der zwar alle Voraussetzungen zur Gründung einer Familie mitbrachte, also: Gesundheit, Zeugungsfähigkeit, Unbescholtenheit, eine hervorragende Ausbildung und einen sicheren Arbeitsplatz in der Verwaltung der Stadt Werther, ja, sogar einen nicht zu vernachlässigenden Bausparvertrag, allein, es fehlte ihm an Esprit, er verstand es nicht, zu flirten und weckte mit seinem einschläfernden Äußeren auch nicht den Jagdinstinkt offensiver, paarungswilliger Weibchen.

Martina hatte es indes längst aufgegeben, auf den eigens für sie auf die Welt gekommenen Märchenprinzen zu warten, doch trotz ihrer wachsamen Kompromiss-Bereitschaft hatten es nicht einmal die bei ihr versucht, die für sie vollkommen indiskutabel waren. An diesem Abend hatte Manfred, der verzweifelt eine Frau suchte, gleich zu Beginn nach möglichen Kandidatinnen Ausschau gehalten und sich beim Gastgeber erkundigt, welche Damen dem Markt überhaupt zur Verfügung standen. Sein Blick fiel auf einen auberginenroten Pilzhaarschnitt auf einem teigigen, blutleeren Gesicht, aus dem ihn ein paar wässrig blaue Augen und knallrot geschminkte Lippen dümmlich anlächelten. Eine Etage tiefer befand sich eine kurze Halskette aus Holzperlen so groß wie reife Süßkirschen, danach eine weiße Puffärmel-Bluse mit roten Ethno-Stickereien. Die Bluse steckte in einer oben zu engen und unten zu weiten, schwarzen Hose, so dass der dreistöckige Rumpf: Hängebrüste, Unterbrustspeckfalte, Tailllenspeckfalte nicht zu verbergen war und wie ein aus Plastikreifen zusammengesetzter Jakobsturm der günstigen Preisklasse erschien.

„Was ist das denn für eine?“, hatte Manfred den Bräutigam gefragt.

„Kollegin von Karin.“, hatte der geantwortet. „Wohnt in Häger. Ist noch zu haben.“

„Na, schönen Dank auch, hatte Manfred abfällig geantwortet und sein erstes Bier hinunter gestürzt. Doch nach dem zwölften Biere ähneln sich alle Tiere, und weil es bei Martina ohnehin nichts zu verlieren gab, hatte er sich im angetrunkenen Zustand in einen Flirt gestürzt, der schließlich zum Selbstläufer wurde, denn noch weniger, als einen Flirt erfolgreich zu beginnen, war er darin erfahren, ihn zu beenden. Das Gerede der Anderen, die ständigen Nachfragen hatten ihm schließlich klargemacht, dass er sich in eine Sackgasse manövriert hatte. Und nach ein paar Treffen mit Martina war er zu der Erkenntnis gelangt, dass sie wahrscheinlich das Beste war, was das Leben für ihn bereit hielt. So übel war sie ja nicht. Sie ging arbeiten, konnte einen Haushalt führen, Kinder kriegen und im Schlafzimmer war es ja meistens dunkel. Wenn er sie im Arm hielt, fühlte sie sich jedenfalls besser an, als ein großes Kissen, denn sie war warm, lebendig, atmete und roch nach Frau.

Martina war es mit Manfred ähnlich ergangen: Kein Paradiesvogel, aber mit so einem hätte sie es auch gar nicht ausgehalten, dafür ein solider Kerl, der ihr etwas bieten konnte. Dass es ihm an Sensibilität und Fingerspitzengefühl mangelte, war ihr zwar schon bald aufgefallen, aber vielleicht würde er das im Laufe des Lebens noch lernen.

Als Luise etwas von dem ersten Techtelmechtel ihrer Tochter mitbekommen hatte, war sie äußerst erleichtert gewesen. Sicher, der Mann taugte nicht, um öffentlich mit ihm anzugeben, aber Martina war auch kein Hauptgewinn und schließlich hatte Manfred einen guten Beruf mit einem gesicherten, überdurchschnittlichen Einkommen. Ein Amtmann machte auf jeden Fall mehr her, als ein dreckiger Handwerker, und Manfreds Schwiegersohn-Qualitäten würden schon nicht zu wünschen übrig lassen. So anspruchsvoll war Luise gar nicht. Wenn er nur fleißig Geld ranschaffte und anständig blieb.

Aber 1981 war auch in anderer Hinsicht für Luise ein Jahr voller Aufregungen gewesen. Es hatte Bestrebungen gegeben, die Frauenhilfe Häger mit der Frauenhilfe Langenheide zusammenzulegen. Und abwechselnd in den beiden Gemeindehäusern zu tagen. Luise hatte gar nichts davon gehalten, weil sie befürchtete, auf lange Sicht jede Woche nach Langenheide gehen zu müssen, weil die Frauenhilfe dort viel größer war als die in Häger. So hätte sie sich jedes Mal eine Mitfahrgelegenheit organisieren müssen, denn Luise besaß keinen Führerschein und um mit dem Fahrrad zu fahren, war ihr der Weg mittlerweile zu hügelig und auch zu gefährlich. In Häger brauchte sie zu Fuß keine fünf Minuten, das wollte sie sich nicht nehmen lassen. Aber Schlingmanns Margarethe, die die Frauenhilfe in Langenheide leitete, traute sie noch viel üblere Motive zu. Sicher hatte sie sich in den Kopf gesetzt, die Leitung beider Frauenhilfen allein zu übernehmen. Das bodenständige Häger war den erweckungsbewegten Langenheidern schon immer ein Dorn im Auge gewesen und Margarethe hatte nicht nur einmal zur Sprache gebracht, dass der christliche Gedanke in Inhalt und Form in Häger wesentlich zu kurz komme, während Tratsch und Torte diese Inhalte im Wesentlichen ersetzten. Luise war jedes Mal empört gewesen, war sie doch schon als Kind im Pfarrhaus ein- und ausgegangen und tat es heute wieder. Doch genau dieses Tatsache hatte die Fehlentwicklung abwenden können. Sie hatte mit dem Pfarrer offene Worte unter vier Augen gewechselt, ihm Margarethes missionarische Machtbestrebungen vor Augen geführt und ihn auf ihre Seite gezogen. Das Vorhaben der Fusion wurde fallen gelassen und für Luise änderte sich nichts. Sie führte die Leitung der Frauenhilfe in Häger weiterhin gemeinsam mit Hildegard Bierhoff durch.

Weihnachten 1981 verlobten sich Martina und Manfred unterm Weihnachtsbaum. Die Hochzeit planten sie für den 8. Mai 1982. Schon vor der Hochzeit zog Martina zu Manfred in seine kleine Mansarden-Wohnung in Bielefeld Milse, auch wenn Luise fand, dass sich so etwas nicht schickte. Hoffentlich ersparte ihr die Tochter die Schmach, dass sie noch vor der Hochzeit guter Hoffnung wurde. Die Sorge war gänzlich unberechtigt, denn Martina war selbst an keiner baldigen Schwangerschaft interessiert, weil sie erst noch ein bisschen Geld fürs Eigenheim beiseite legen wollte, weshalb sie sich die Pille verschreiben lassen hatte.

Die Hochzeit riss ein tiefes Loch in Sickendieks Ersparnisse, denn es wurde ein rauschendes Fest mit fast einhundert Gästen. Morgens ging es zum Bielefelder Standesamt, zum Mittagessen im engsten Familienkreis in die Gaststätte Bewekenhorn, um 16.00 Uhr fand die kirchliche Trauung in Häger statt und in einem Festsaal in Spenge wurde anschließend mit Sektempfang, traditionellem Vier-Gänge-Menü, also Suppe, Reis mit Geflügel und Salat, Schweine- und Rinderbraten mit Kartoffeln, Kroketten und Kaisergemüse und zum Nachtisch diverse Cremespeisen und Eis gefeiert. Der Braut wurden die Schuhe gestohlen, die wieder ausgelöst werden mussten, die Brautführer zwangen das Paar zu albernen Spielchen, selbst gereimte, unterirdische Gedichte wurden vorgetragen und schließlich eröffnete das Brautpaar den Tanz. Um Mitternacht wurde zum kalten Buffet aufgespielt, um vier Uhr nachts gingen die letzten nach Hause.

Luise war hochzufrieden. Da sie und Ludwig den größten Teil des Ereignisses finanziert hatten, waren sie auch die Herren über die Gästelisten gewesen und hatten alle hinreichend beeindruckt, bei denen es nach Luises Dafürhalten darauf ankam.

Nach der Hochzeit kam das Gespräch erneut auf die Eigenheim-Planung und trotz Manfreds nicht unbeachtlichen Ersparnissen und des gegenwärtigen doppelten Einkommens stellte sich die Finanzierung von Bauplatz und Einfamilienhaus angesichts der aktuell hohen Kreditzinsen als zunehmend unrealistisch dar. Es war Ludwig, der den Vorschlag schließlich in den Raum stellte: „Wieso zieht ihr nicht einfach erst mal bei uns ein? Wir könnten doch unser Schlafzimmer nach unten legen, denn das Arbeitszimmer brauchen wir sowieso nicht mehr und das Gäste-WC ist groß genug, um eine Dusche einzubauen. Wenn wir mal alt sind, kommen wir die Treppe sowieso nicht mehr hoch.“

Luise ging das alles ein bisschen zu schnell. Im Arbeitszimmer stapelte sie immer die Bügelwäsche und auf die Badewanne in ihrem türkis gekachelten Badezimmer wollte sie eigentlich auch nicht verzichten, zumal es diese Sorte Fliesen nirgendwo mehr zu kaufen gab.

„Die beiden können doch auch einfach in Martinas Zimmer schlafen“, schlug Luise vor, „und sonst alles ganz normal mitbenutzen.“

„Und wenn dann mal Kinder kommen?“, fragte Ludwig.

„Dann machen wir vom Arbeitszimmer ein Kinderzimmer.“, meinte Luise.

„Also so geht das auf keinen Fall.“, bemerkte Martina entschieden. „Da bleiben wir lieber in Milse wohnen. Ich will meine eigene Küche, mein eigenes Bad und auch alles zusammenhängend. Dann müssen wir eben noch ein bisschen sparen und weiter suchen.“

„Das könnt ihr bei eurem schmalen Vermögen und der derzeitigen Zinslage vergessen.“, erklärte Ludwig. „Wir können das ja mal in Ruhe zusammen überlegen. Da ist ja noch ein Dachboden, den man ausbauen kann und auf die Garage kann man auch noch was drauf setzen. Dann passt da oben locker eine Vier-Zimmer-Küche-Bad-Wohnung rein. Wenn ihr Kinder kriegt, können wir Großeltern auch mal auf die aufpassen und wenn wir dann mal alt sind, sind wir nicht allein im Haus, aber ihr habt trotzdem euer eigenes Reich, und wenn wir unter der Erde liegen, könnt ihr euch im ganzen Haus breit machen. Ihr müsst kein Geld für den Bauplatz ausgeben, nur einen kleinen Ausbau bezahlen und dann bleibt auch genug übrig, damit ihr es euch richtig schön machen könnt, so mit gutem Fußboden, schicken Tapeten, ordentlichen Armaturen und guten, neuen Möbeln.“

„Wahrscheinlich würde das Geld sogar noch reichen, um das ganze Haus zu verklinkern.“, meinte Manfred großspurig, „denn so schlecht wie das isoliert ist, schmeißt man ja sonst das ganze Gesparte fürs Heizen raus.“

„Wir haben gerade vor zwei Jahren eine neue Heizung gekriegt.“, erklärte Luise schnippisch, der das großspurige Gebaren ihres Schwiegersohnes überhaupt nicht gefiel. Niemand fragte, was sie eigentlich wollte, aber Manfred und Martina hatten längst angebissen, und wenn das eigene Kind nach Hause zurückkehren wollte, konnte sie sie schlecht hinausstoßen. Das war weder mit ihren eigenen Wertvorstellungen vereinbar noch mit denen der Menschen, an denen ihr gelegen war und so fügte sie sich in ihr Schicksal.

Dann ging es Hals über Kopf: Ludwig kümmerte sich um die Finanzierung und unterstützte Manfred bei den Bauanträgen und an den Samstagen klapperten sie Handwerker, Baustoffhändler und Ausstattungsmärkte ab. Bereits im Herbst begann der Innenausbau, im Frühjahr wurde ein Geschoss auf die Garage gesetzt und im Sommer das wunderschön weiß verputzte Haus, das Luise so geliebt hatte, mit Dämmmaterial eingekleidet und rotbraun verklinkert. Nicht nur, dass das dunkle, neue Kleid von außen Luise nicht zusagte, es wurde auch drinnen dunkler, weil wegen der dickeren Mauern nun weniger Licht durch die Fenster fiel. Aber sie gewöhnte sich daran und empfand es schon bald als segensreich, dass man das Haus nicht mehr regelmäßig streichen musste, damit es von außen tadellos gepflegt aussah, und dass sie kein schlechtes Gewissen mehr haben musste, wenn sie sämtliche Heizkörper aufdrehte, weil sie es in allen Räumen gern schön warm hatte. Außerdem hatte sie durchgesetzt, dass, solange sie die Treppe hochkam und selbständig in die Badewanne steigen konnte, ihr altes Bad blieb, wo es war. Sie überließ es zwar dem jungen Ehepaar, forderte aber das Recht ein, im Bedarfsfall die Badewanne zu benutzen. Das tat sie schließlich immer seltener, weil die nagelneue WC-Dusch-Kombination noch viel eleganter war, sie das Duschen praktisch fand und sich freute, nicht mehr zwei bis drei Mal wöchentlich die Badewanne auf den Knien kriechend putzen zu müssen. Das Leben ging weiter: Luise leitete die Frauenhilfe, ging zu Kaffeekränzchen und richtete selbst welche aus, verdiente nach wie vor ihr Zubrot bei Brünings an der Kasse und wurde allmählich unruhig, weil das junge Paar sich so viel Zeit mit dem Nachwuchs ließ. Was, wenn es Martina so erging wie ihrer kleinen Schwester? So kränklich wie Manfred aussah und so körperlich leistungsschwach, als was er sich beim Bauen erwiesen hatte, war es sehr gut möglich, dass er ebenso Platzpatronen verschoss wie ihr Schwager Bernhard, denn dass es nicht an Marie liegen konnte, war ihr sonnenklar.

Doch drei Jahre, nachdem die jungen Leute in ihr neues Heim eingezogen waren, kam André zur Welt und Martina war mit zwei-und-dreißig zwar eine späte Erstgebärende, aber Luise war damals auch schon dreißig gewesen und heute war die Medizin ja schon viel weiter. Die Mutterschaft bekam Martina ausgesprochen gut, denn sie musste nicht mehr täglich in den anstrengenden Kindergarten und sich mit den unerzogenen Rotzgören anderer Leute herumärgern, sondern war ganz und gar Herrin der Lage. Sie blühte regelrecht auf, bekam ein frische Gesichtsfarbe und einen entspannten Zug um den Mund. Sie ging täglich spazieren, verlor ein paar ihrer überflüssigen Pfunde, strickte und häkelte die kompliziertesten, buntesten und phantasievollsten Babykleider für ihren Sohn und besuchte sogar jeden zweiten Dienstag einen Kreis für junge Mütter in Werther, während Manfred bei dem Kind blieb.

Im Sommer 1987 starb Ludwig plötzlich und unerwartet im Alter von 71 Jahren bei der Gartenarbeit. Der Hausarzt zerstreute Luises Befürchtungen, er habe sich zu Tode geraucht. Seine allgemein schlechte Konstitution sei eine Spätfolge der fünfjährigen Kriegsgefangenschaft gewesen. Auch wenn sie ihren Mann immer behandelt hatte wie einen Alltagsgegenstand, der selbstverständlich für den täglichen Gebrauch zur Verfügung stand, war sie doch tief erschüttert über den Verlust des Lebenspartners, und sie radelte täglich zum Friedhof, um das Grab ihres Gatten zu pflegen und so wieder gut zu machen, was sie an ihm versäumt hatte.

Ein Jahr später wurde Larissa geboren und Martina war noch immer hochzufrieden. Luise wurde kaum mit der Beaufsichtigung der Enkelkinder betraut, weil Martina befürchtete, sie könnte mit ihren antiquierten Erziehungsmethoden Schaden anrichten. Im Gegensatz zu ihrer Mutter achtete sie darauf, dass ihre Kinder sich möglichst frei entwickeln konnten, selbständig lernten, dass man, wenn man müde wurde, besser ins Bett ging, sich etwas anzog, wenn einem kalt war und bei den Mahlzeiten so lange aß, bis man satt war. Doch als Larissa mit drei Jahren ebenfalls in den Kindergarten ging, fand sie, dass es eigentlich an der Zeit sei, wieder arbeiten zu gegen. Nicht, dass sie große Lust dazu gehabt hätte, aber alle anderen Mütter taten das auch und sie war die scheelen Blicke leid, mit denen die besonders Flotten sie jedes Mal betrachteten, wenn sie erklärte, dass sie ganz und gar für ihre Kinder da war. Sie sprach ihren Mann an: „Du Manfred, ich würde gern wieder anfangen zu arbeiten.“

„Wieso?“

„Na, alle anderen tun das schließlich auch.“

„Das ist doch kein Grund.“

„Das Geld können wir auch ganz gut gebrauchen. Dann könnten wir auch mal wieder in Urlaub fahren.“

„So schlecht verdiene ich nicht. Und Urlaub ist mit kleinen Kindern sowieso keine Entspannung. Ist doch alles gut, so wie es ist.“

„Ja, aber wenn ich zu lange aus meinem Beruf raus bin, kann ich irgendwann gar nicht mehr darin arbeiten.“

„Mit Kindern spielen?! Das kriegen doch sogar Ungelernte hin.“

„Du, wir spielen da nicht nur einfach mit Kindern. Stell dir das mal nicht so simpel vor!“

„Ja, aber wie soll das gehen? Wer bringt die beiden morgens hin? Wer holt sie mittags ab? Und wer bleibt da, wenn sie krank sind?“

„Ich könnte ja erst mit ein paar Stunden einsteigen, so ein oder zwei Tage die Woche. Vielleicht kann ich ein bisschen später anfangen, und du würdest dann einmal die Woche auf deine Mittagspause verzichten und die beiden abholen.“

„Ach, und wenn eins krank ist?“

„Dann lassen wir uns abwechselnd krank schreiben.“

„Das kannst du vergessen.“, sagte Manfred entschieden. „Wenn ich mit so was anfange, nimmt mich im Rathaus bald keiner mehr ernst. Erst laden einen alle aus, dann kriegt man die miesesten Aufträge zugeschustert und am Ende finden sie irgendeinen Grund, einen an die Luft zu setzen. Wenn du unbedingt arbeiten musst, frag doch deine Mutter. Schließlich hat dein Vater damals was von Generationenvertrag gefaselt. Dann soll sie ihr Versprechen jetzt mal einhalten.“

Aber Luise hatte sich entschieden geweigert, als verlässliches Back-up zur Verfügung zu stehen, befürchtete sie doch, wenn sie ihrer Tochter erst den kleinen Finger reichte, bald die Enkelkinder in Vollzeit an der Backe zu haben. Sie war bei der Versorgung ihrer Tochter auch nicht entlastet worden, jetzt sollte die sich gefälligst selbst um ihre Kinder kümmern. Luise brauchte ihre Zeit für die Frauenhilfe, die Grabpflege, ihren Job, mit dem sie weiterhin ihre Witwenrente aufbesserte und sich über das aktuelle Geschehen im Dorf auf dem Laufenden hielt, ihre zahlreichen Sozialkontakte, ihre Fernsehsendungen und den eigenen tadellosen Haushalt. Stress hatte sie in ihrem Leben wirklich genug gehabt und Martina hatte es überhaupt nicht nötig zu arbeiten. Sollte sie doch ehrenamtlich im Kindergarten in Häger mit anfassen, wenn sie beruflich auf dem Laufenden bleiben wollte.

Luise sorgte für sich, im einsetzenden Alter mehr denn je, und es überfiel sie nicht einmal die Spur eines schlechten Gewissens. Martina fügte sich in ihr Schicksal, schluckte den Ärger hinunter und gab sich Mühe, ihn stetig hinwegzulächeln. So wie Luise es jetzt tat, damit die schmerzlichen Erinnerungen ihr nicht den Schlaf raubten.

Ich hab' den Ausbau nicht gewollt

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