Читать книгу Ziggerau - Cristina Zehrfeld - Страница 5
Die übereifrige Urgroßcousine
ОглавлениеKulturhistorische Bedeutung und architektonische Schönheit allein hätten vermutlich dennoch nicht ausgereicht, um Maestro Carl von seiner geliebten Insel wegzulocken. Entscheidend für den bemerkenswerten Wechsel waren vielmehr die engen familiären Bande des Maestros. Soweit ich das verstanden habe, lebt in Ziggerau eine Urgroßcousine vierten Grades mütterlicherseits. Ebendiese Verwandte hat ihren Urgroßcousin in ihrer Nähe haben wollen. Aus diesem Grund hat sie Maestro Carl bei ihrem Pfarrer als künftigen Kirchenmusiker für ihre Heimatstadt vorgeschlagen. Wie jedes Kind weiß, werden Kantorenposten allerdings eher selten auf den formlosen Vorschlag eines Gemeindegliedes hin vergeben. Bei der Kirche wird seit je nicht nur Treu und Redlichkeit gepredigt, sondern vor allem anderen auf Zucht und Ordnung geachtet. Kirche ohne strikte Einhaltung der Regeln ist ja ganz und gar unvorstellbar. Das Problem an der Sache war, dass Maestro Carl sich einerseits wegen seiner Erfahrungen in diesem Metier schon vor Jahren beim heiligen Luzifer geschworen hatte, sich nie wieder um irgendeine Stelle zu bewerben, und sei sie noch so attraktiv. Andererseits ist es bekanntermaßen ganz unmöglich, ohne Bewerbung eine Anstellung als Kantor zu bekommen. Es war also eine an sich ausweglose Situation. Das wusste auch der zuständige Pfarrer Schmidt. Deshalb hat er die übereifrige Urgroßcousine auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, indem er ihr unmissverständlich klargemacht hat: „Ich werde mich keinesfalls bei Maestro Carl darum bewerben, dass er Kantor in Ziggerau wird.“ Allerdings hat der Pfarrer sich dann eben doch einwickeln lassen von der rührigen Verwandtschaft. Er hat Maestro Carl höchst liebenswürdige Zeilen zukommen lassen und ihm die Ziggerauer Kantorenstelle mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln schmackhaft gemacht. Schmidt lobte die Orgeln seiner Kirchen über die Maßen, er plauderte wortreich von einer hochmusikalischen Gemeinde und einer luxuriösen Dienstwohnung. Er versicherte ihm, dass er seit Jahrzehnten sein größter Fan sei und dass man in Ziggerau seit Jahren hart daran arbeite, zur Orgelhauptstadt Europas aufzusteigen. Freilich war Schmidt nicht blauäugig. Ihm war nur allzu bewusst, dass das kleine Ziggerau für den großen Maestro Carl trotz dieser in schillerndsten Farben beschriebenen Vorzüge kaum attraktiv sein konnte. Deshalb ließ er auch deutlich durchklingen, dass diese Kantorenstelle den Meister nicht im Mindesten von seiner ungestümen Konzerttätigkeit abhalten würde. Einer so inständig vorgetragenen Bitte konnte sich Maestro Carl nicht entziehen. Er rief also Schmidt an und kam einige Tage später höchstpersönlich nach Ziggerau, um die Gegebenheiten in Augenschein zu nehmen. Entgegen aller Wahrscheinlichkeit wurde man sich schnell einig. Maestro Carl ließ Schmidt einige Unterlagen zukommen, mit denen der Pfarrer seiner Landeskirche vorgaukeln konnte, es habe sich um eine ganz normale, reguläre Bewerbung gehandelt, und ehe man sich versah, war der Deal perfekt. Doch was heißt Deal: Es war eine Sensation ersten Ranges.
„Schon Eisenbergs Auftrittsapplaus hätte manch anderer gern für sein Finale geerntet.“
(Anastasia Poscharsky-Ziegler, Januar 2001)