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Retter in höchster Not

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Keinesfalls wird man Maestro Carl je gerecht, wenn man glaubt, dass er bei seinen Entscheidungen ausschließlich an sich selbst denkt. Immer hat er vor allem das Wohl der Kirche im Auge. Wenngleich Pfarrer Schmidt nämlich mit seinem unbürokratischen Vorgehen die deutschen Tugenden mit Füßen getreten hat, lässt sich letztlich nicht leugnen, dass mit diesen verwerflichen Machenschaften größeres Übel von Ziggerau abgewendet wurde. Betonen muss ich hier zunächst, dass es sich bei der infrage stehenden Stelle keineswegs um den vermeintlich lukrativen Kantorenposten in dem bereits erwähnten Dom handelte. Da ein Dom ohne Bischof allerdings ohnehin nur den Namen Schummel-Dom verdient, hätte Maestro Carl sich zweifellos geweigert, bei so einer haarsträubenden Aufschneiderei mitzumachen. Nein es ging keineswegs um den prestigeträchtigen Job eines unechten Domkantors. Vielmehr hat sich der Maestro als echter Kantor an einem Vierteldutzend weniger spektakulären Kirchen anheuern lassen. Seine neuen Arbeitsplätze waren die 1906 geweihte Martinskirche, die 1680 fertiggestellte Mauritiuskirche und die klitzekleine Selbdritt-Kirche, deren Historie bis ins 13. Jahrhundert zurückreicht. Alle drei Gotteshäuser waren durch ein inniges, schwesterliches Miteinander verbunden. Allerdings waren die Gemeinden in jüngerer Vergangenheit kirchenmusikalisch nicht gerade verwöhnt gewesen. Nur die ältesten Gemeindeglieder konnten sich überhaupt noch dunkel an jene längst vergangene Ära erinnern, als ihre Gemeinden über einen hauptberuflichen Kantor verfügten. Gleichwohl auf allen Kanälen nach einem Nachfolger gesucht worden war, hatte sich doch niemand gefunden, der willens gewesen wäre, in dieser von Gott verwöhnten Gegend seiner heiligen Pflicht nachzukommen. Die musikalischen Aktivitäten waren im Laufe der Zeit entsprechend übersichtlich geworden: Aller zwei Wochen traf sich der siebenköpfige Kirchenchor unter Leitung von Friedhild Kubernagel, um die Choräle für den Gottesdienst einzustudieren. Leider ließen jedoch Repertoire und Virtuosität inzwischen spürbar nach, was wohl auch am beinahe dreistelligen Durchschnittsalter der Choristen lag. Ebenfalls dem Engagement von Friedhild Kubernagel war es zu verdanken, dass jede Woche ein halbes Dutzend Kinder beim Flötenkreis musizierten. Allerdings ist mit dieser Aufzählung die musikalische Vielfalt an Ma-Mau-Sel (so die offizielle Kurzform für die Schwesterngemeinde Martin-Mauritius-Selbdritt) in vollem Umfang beschrieben. Deshalb waren die Stellvertreter vom lieben Gott bereits drauf und dran gewesen, die Stelle des Kantors für Ma-Mau-Sel nun endlich vollständig und ein für alle Mal zu streichen. Ohnehin war es derweil nur noch eine Teilzeitstelle als B-Kantor. Maestro Carl hub das nicht an. Ganz im Gegenteil sagte er mit Blick auf seinen letzten Arbeitsplatz sogar: "Wer A sagt, muss auch B sagen." Der Urgroßcousine, Pfarrer Schmidt und dem Maestro gebühren also allerhöchstes Lob. Ihnen allein ist es zu verdanken, dass Ziggerau reichlich 2000 Jahre nach der Geburt des Herrn nicht endgültig in der kirchenmusikalischen Bedeutungslosigkeit versunken ist. Maestro Carl wurde nicht nur als Kantor der Kirche willkommen geheißen, sondern auch als Wohltäter und Retter in höchster Not.

„Längst könnte dieser Mann, der in vierzehn Tagen im Petersdom in Rom zu hören sein wird, Allüren haben, sich in irgendwelche Attitüden verrennen. Aber nein, der sympathische Sachse lässt sich durch alles Lob und Anerkennung der Welt nicht verderben.“

(Anastasia Poscharsky-Ziegler, 30. April 2001)

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