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6. Von Elefanten und Löwen

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Lena schreckte aus einem traumlosen Tiefschlaf empor. Ihr Schädel brummte. Dumpf konnte sie sich erinnern, dass gestern Abend ein sogenanntes Buschbraai stattgefunden hatte, mit viel zum Essen und noch mehr zum Trinken. ›Wie bin ich im Übrigen ins Bett gekommen?‹, fragte sie sich und blickte zum Fenster hin. Der Morgen graute. Man hörte dezentes Rufen, sodann energisches Klopfen. »Weckdienst!«

»Yebo!«, rief Princess, »Ja, wir sind munter!« Gähnend kletterte sie aus dem Bett. »Los mach schon, die Duschen sind anderenfalls von den Jungs besetzt!« Princess deutete auf den Tisch. Eine halblange Hose, ein kurzarmiges Hemd, ein breitkrempiger Hut, Kniestrümpfe, alle khakifarben und ein paar derbe Stiefel aus Wildleder lagen dort bereit. »Zieh nachher die Sachen an. Ich habe die passenden Größen für dich herausgesucht.«

»Sieht das nicht affig aus, wenn ich als Ranger verkleidet herumlaufe?«

»Anordnung vom Chef!«, beschied Princess sie knapp. »Zack, zack, das Frühstück wartet!«

Zwei Jeeps verließen das Camp, in jedem quetschten sich zehn Personen zusammen, am Steuer saßen die beiden Game Guards. Der Himmel war wolkenlos, im Osten loderte der Himmel in Rot und Orange.

Sie fuhren nordwärts, überquerten auf einer Brücke den Letaba, verließen die asphaltierte Straße und holperten auf einer Schotterpiste in Richtung Mozambique. In der Nähe des Flusses hielten sie neben einem Kameldorn-Baum, der ein Nest von Webervögeln beherbergte.

»Unter solchen Bäumen parkt man besser nicht, man muss auf Schlangen achten, welche die Nester nach Beute durchsuchen«, erklärte Jan. »Wäre nicht angenehm, wenn eine herunterfällt und beschließt, mit uns mitfahren zu wollen! Schätze, dass sie um diese Zeit noch schlafen.«

»Da! Seht die Hippos! Das müssen über hundert sein!« Aufgeregt deutete Lena zum Fluss hin. Tiere planschten trotz der morgendlichen Kühle im Wasser, andere lagen am Ufer auf der Seite, darunter viele Babys, streckten alle Viere von sich und schliefen. Zwei Hippos standen auf ihren stämmigen Beinen wie Statuen und stützten den massigen Kopf in den Sand. Konnten die Tiere etwa im Stehen schlafen?

Sie verließen die ausgedehnten Mopani-Wälder, welche die Flussufer einsäumten und rumpelten querfeldein durch eine Savanne. Der Boden war vorwiegend mit gelblichen Gräsern und niedrigem, spärlich wachsendem Buschwerk bedeckt, aber es gab auch ausgedehnte kahle Sandflächen in der Farbe von lichtem Ocker. In regelmäßigen Abständen sah man Inseln von Marula-Bäumen und gelbblühenden Kameldorn-Büschen.

Der Game Ranger machte ein Zeichen, die Wagen hielten. »Alles aussteigen!«, befahl er.

Lena bekam wachsweiche Knie. ›Was, wenn jetzt ein Löwenrudel hinter dem nächsten Busch hervorspringt?

Jan schien Lenas Ängste gespürt zu haben, er schloss eine Klappe am Jeep auf und entnahm drei Gewehre, für sich und die Game Guards. Der Anblick der bewaffneten Männer beruhigte Lena.

Die Sonne war über den Bergen aufgegangen und vertrieb die weißlichen Nebelfetzen, die über der Savanne lagen. Sie marschierten los, hielten sich aber abseits von Bäumen und Büschen. In einem Baum vor ihnen war aufgeregtes Schreien zu hören.

»Ossy, nach vorne!«, befahl der Ranger. »Warum lärmen die Affen vor uns? Was beunruhigt sie?«

Sich als Erster präsentieren zu müssen, schmeckte Ossy partout nicht. Mit hängenden Schultern stiefelte er los, schlagartig straffte sich seine Haltung. Er blieb stehen, hob einen Arm und winkte die Gruppe heran.

»Was hast du entdeckt?«

Ossy schien aufzublühen, endlich durfte er seine Bücherweisheit, unter der Lena gestern gestöhnt hatte, loswerden. Er deutete auf den Sandboden. »Wir sehen zwei Fußabdrücke einer Raubkatze. Der hier muss von der Vorderpranke, der andere von der Hinterpranke sein«, legte er los. »An dem Abdruck sieht man nur vier Zehen, und hier, zumindest angedeutet, die fünfte Zehe. Folglich«, fuhr er siegessicher fort, »kann es sich nur um einen Gepard handeln. Der hat die Meerkatzen im Baum da vorne beunruhigt!«

»Gebongt, mein Junge«, sagte Jan. Ossy strahlte zu Princess hin, die ihm bewundernd zulächelte. Jan holte ein Notizbuch aus der Tasche und kritzelte hinein. Als die Gruppe den Baum erreicht hatte, war der Gepard schon über alle Berge, die Meerkatzen lärmten jetzt der Menschen wegen.

Bis gegen Mittag hatten alle Anwärter ihre Kenntnisse im Spurenlesen unter Beweis stellen können und Jan schien mit seinen Schützlingen zufrieden. Die Sonne brannte vom Himmel, alle lechzten nach einem schattigen Plätzchen. Lena war heilfroh um ihren Hut, der sie vor einem Sonnenbrand schützte.

Im Moment überquerten sie eine staubige Ebene, als sich am Horizont eine Staubwolke zeigte. Jan blickte durch den Feldstecher und pfiff durch die Zähne. »Elefanten«, murmelte er. »Sie kommen nicht direkt auf uns zu, also keine unmittelbare Gefahr. Zusammenrücken, erhöhte Vorsicht!«

›Wieso Gefahr?‹, dachte Lena, ›Sind Elefanten uns Menschen gegenüber gewalttätig?‹ Davon hatte sie noch nie gehört.

Durch das Glas suchte Jan die Umgebung genau ab. »Rechts von uns ist eine Baumgruppe. Zügig voran!«, befahl er. Man konnte die Elefanten jetzt schon mit bloßem Auge erkennen. »Das scheint eine Gruppe von dreißig Tieren zu sein«, erklärte er im Laufen. Seine Stimme klang zunehmend besorgt. »Vorwiegend Kühe, höchstwahrscheinlich mit Kälbern. Wir müssen damit rechnen, dass sich in der Gruppe ebenfalls mehrere erwachsene Bullen befinden. Hoffentlich bemerken sie uns nicht. Hinter die Bäume und keinen Laut!«

Sie waren noch mehrere hundert Meter von der Baumgruppe entfernt. »Wir laufen doch rascher als Elefanten, oder?«, fragte Lena den neben ihr rennenden Ossy.

»Kannst du 35 Kilometer in der Stunde rennen?«, kam es kurzatmig zurück. Als Ossy ihr bestürztes Gesicht sah, minderte er seine Antwort ab: »Zum Glück halten sie das Tempo allenfalls einhundert Meter durch.«

»Achtung!«, brüllte Jan los. »Die Herde hat ihre Richtung gewechselt, sie kommt jetzt direkt auf uns zu! Tempo, Tempo!«

Sie rannten wie die Wilden. Als sie die Baumgruppe keuchend erreicht hatten, waren die Elefanten nur noch dreihundert Meter entfernt. Mir nichts, dir nichts ließ die Leitkuh ein schnurrendes Kollern hören, das von den anderen prompt erwidert wurde. Die Herde blieb stehen, ein riesengroßer Bulle schob sich nach vorne.

»Mist, sie haben uns bemerkt«, flüsterte Jan. »Alles bleibt hinter mir. Kein Laut.« Er gab den Game Guards ein Zeichen, die nahmen die Gewehre von der Schulter und machten sie schussbereit.

Urplötzlich brach das Inferno los! Brüllend, mit hochgerecktem Rüssel und wedelnden Ohren, eine ungeheuere Staubwolke aufwirbelnd, lief der Bulle bis auf zweihundert Meter auf ihre Baumgruppe zu, dann blieb er stehen. Er schien zu überlegen, ob sich ein Angriff lohne. Er senkte den Rüssel unter die Brust und lautlos mit angelegten Ohren raste er los. Paradoxerweise war das Einzige, was Lena hörte, das Poltern der Erdklumpen und der abgestorbenen Äste, die von den imposanten Füßen in die Luft geschleudert wurden. Sie spürte, wie der Boden unter ihr zu zittern begann.

Vor Angst packte Lena das Handgelenk der neben ihr stehenden Princess. Hinter ihr war unterdrücktes Japsen zu hören, alle erwarteten einen schrecklichen Aufprall auf die Bäume, sie hörten schon das Zersplittern der Stämme, sahen sich zerquetscht auf dem Boden liegen, totgetrampelt. Die Ranger hatten die Gewehre hochgerissen, die Finger krümmten sich, um Kugeln in die Augen und das Gehirn des Bullen zu jagen. Er machte der eine leichte Rechtskurve und die Urgewalt aus über sieben Tonnen Muskelfleisch donnerte an ihnen vorbei, machte einen Bogen und kehrte vernehmlich trompetend zu der Herde zurück. Friedlich setzte die Herde ihren Zug zum Letaba fort.

»Puh!, das war knapp«, stöhnte Jan. »Der wollte seine schlechte Laune an uns auslassen!« Die Ranger schulterten wieder die Gewehre. »Rückmarsch zu den Wagen!«, befahl er. Er schnappte sich Lena. »Kompliment!«, strahlte er sie an. »Jeder andere Tourist hätte sich vor Angst nass gemacht oder wäre davon gerannt. Du hast dich prima gehalten. Überleg dir mein Vorschlag, der Park braucht Leute wie dich!«

›Du bräuchtest mich, nicht der Park‹, dachte Lena. Sie war froh, dass seine Blicke nicht hinunter wanderten. Die halblange Hose verbarg ihre schlotternden Knie nur unvollkommen.


»Männer und Frauen, der Tag der Abschlussprüfung ist gekommen! Für jeden von euch haben wir eine klitzekleine Katastrophe vorbereitet. Mal sehen, wie ihr damit zurechtkommt.« Sie saßen beim Frühstück und Jan verdarb ihnen mit seinen Reden den Appetit.

›Oh je‹, dachte Lena, ›Katastrophen, das hatten wir gestern schon gehabt!‹ Der Angriff des wildgewordenen Elefantenbullen steckte ihr noch in den Knochen.

»Wir werden Richtung Longwe Aussichtspunkt fahren und dort aussteigen. Ich gehe mit einem Prüfling und unserem Übungsgast los.« Er deutete auf Lena, die den ängstlich Zuhörenden süßsauer zulächelte. »Der Rest der Truppe bleibt bei den Jeeps. Wenn ihr zwei Schüsse hört, macht sich der Nächste fertig und kommt mit seinem Gewehr zu mir.« Er ließ eine Namensliste mit der Reihenfolge herumgehen. »Alles klar?« Allgemeines nicken.

Jan nahm Lena beiseite, Cheetah rieb den Kopf an den Beinen des Mädchens. »Keine Sorge, Lena, die Prüflinge ballern nur mit Platzpatronen«, sagte er. »Du brauchst keine Angst zu haben, wenn einer durchdreht und nicht dorthin schießt, wo er hinschießen soll.« Er griff in die Tasche und gab Lena eine Plastiktüte mit zwei Ohrstöpseln. »Die solltest du tragen, die Gewehrschüsse gehen mit der Zeit auf die Ohren!«

›Falls du glaubst, Platzpatronen und Ohrstöpsel würden zu meiner Beruhigung beitragen, bist du schiefgewickelt‹, dachte Lena. Sie gab sich cool und schob die Tüte in ihre Tasche.

Sie überfuhren den Letaba, bogen auf eine Sandpiste ein, fuhren holpernd durch die Savanne ostwärts in Richtung auf eine Hügellandschaft zu. Noch verbarg sich die Sonne in dem dichten weißen Nebel, der über der Landschaft lag. Lena, die im zweiten Jeep saß, bemerkte, dass sie im Schritttempo fuhren. Jan hob die Hand, die Wagen stoppten.

Aus dem Morgennebel schoben sich, als würden sie dem Tor einer anderen Welt entsteigen, erst Köpfe auf unendlich langgestreckten Hälsen, sodann getupfte Körper. Die Giraffen schwebten vorbei, unwirkliche, majestätische Riesengeschöpfe, und verschwanden erneut in den Nebelschwaden. Gedämpftes Hufgetrappel, der weiße Nebel gab schwarze Streifen preis, das Weiß der Zebras verschluckte er.

Die Sonne schwang sich über die Kämme der Hügel und vertrieb den Nebel, die Tautropfen an den Gräsern begannen wie Diamanten zu funkeln. In Andacht versunken stand eine Herde von Buschböcken, die Köpfe gesenkt.

Am Fuß eines bewaldeten Hügels machte Jan ein Zeichen. Die Wagen hielten, alle stiegen aus. »Wir sind jetzt am Fuß des Longwe Aussichtspunktes«, erklärte er und öffnete die Waffenkiste. Er überreichte jedem ein Gewehr, überprüfte zuvor, dass keine Patronen im Lauf waren. Er schob jedem Prüfling vier Platzpatronen in die Hand. »Gewehre laden!«, befahl er. »Alle bleiben bei den Wagen, Lena und Princess, mir nach!«

Princess schulterte das Gewehr und blickte beklommen zu Lena hin, die riesenhafte Waffe wirkte an dem Körper der zierlichen Makuleke wie für einen Riesen gemacht. Sie trotteten hinter Jan und den Game Guards her.

Lena war unbehaglich zu Mute, hatte doch Bücherwurm Ossy verkündet, im Park liefen 1 500 Löwen und 1 000 Leoparden frei herum. Sie wusste nicht, sollte sie den Game Ranger bewundern, wie er lässig vor ihnen herlief, als wäre er auf einer Wandertour im Piliongebirge? War es bodenloser Leichtsinn oder das Ergebnis einer jahrelangen Erfahrung? Sie hoffte auf das Letztere, jedoch hatte das Erlebnis mit dem Elefanten Spuren von Zweifel in ihr hinterlassen.

Am Beginn eines Trampelpfades, der sich in einer Biegung hügelaufwärts verlor, wartete Jan auf sie. Die Guards hatte er den Weg hochgeschickt, bald waren sie in den Büschen verschwunden. Er wandte sich an Princess. »Stell dir vor, du bist mit einem Gast auf einem Wanderweg im Park unterwegs. Das Gelände ist schlecht einsehbar.« Er deutete auf das verkrüppelte Mopani-Dickicht. »Denk daran, was wir im Unterricht besprochen haben und sei auf der Hut! Ich gehe mit, halte mich aber im Hintergrund. Los jetzt!«

Princess versuchte ein zustimmendes Lächeln hervorzubringen. Sie schob den Waffengurt höher auf ihre Schulter und zog Lena auf ihre rechte Seite. »Du hälst mit mir Schritt, bleibst aber in Körperkontakt hinter mir. Verstanden?«

Beide stiefelten los.

Auf beiden Seiten standen dichtbelaubte Büsche. Da, ein nahezu unhörbares Rascheln, eine winzige Bewegung im Blattwerk. Princess erstarrte, ihr Arm fuhr nach hinten, ihre Handfläche bremste Lena ab. »Atem anhalten«, flüsterte sie, »vor uns ist ein Tier verborgen.« Im Schneckentempo schob sich der Kopf einer Löwin hervor. Entsetzt blieben die beiden Mädchen stehen, unschlüssig verharrte die Katze.

»Zurück, gelassen zurück«, flüsterte Princess. »Garantiert hat die Löwin ihre Jungen bei sich.« Unsicher und unbeholfen ließ sie den Gewehrgurt von ihrer Schulter gleiten.

›Na bitte‹, dachte Lena, ›Da haben wir den Salat.‹ Im Gegensatz zu Princess fühlte sie sich überraschend gefasst. »Bist du verrückt?«, zischte sie Princess zu, »Was willst du mit dem Gewehr? Auf die Löwin anlegen und sie mit Platzpatronen erschrecken? Das ist keine glückliche Idee.«

»Unter Umständen ergreift sie die Flucht«, lispelte Princess.

»Sie wird ihre Jungen nicht zurücklassen«, warnte Lena. »Nein. Jan ist hinter uns, lass den machen.«

»Dreh dich bloß nicht nach ihm um. Behalte die Löwin genau im Auge.«

Die Löwin machte einen Scheinangriff, markerschütternd klang ihr wütendes Brüllen über die Savanne. Ihre Augen fixierten Princess, ein zweiter Scheinangriff brachte sie auf fünf Meter an die Frauen heran.

Beschwichtigend begann Princess auf die Löwin einzureden. »Wir wollen nichts von dir und deinen Jungen«, sagte sie einschmeichelnd mit leicht zitternder Stimme, »Schau, wir ziehen uns zurück. Keine Panik. Gleich sind wir weg.«

»Was treibt Jan? Warum hilft er uns nicht?«, zischte Lena vernehmlicher, als sie es vorhatte. Die bernsteinfarbenen Augen der Löwin nahmen sie ins Visier. ›Die Katze hat runde Pupillen‹, war merkwürdigerweise das Einzige, was Lena anfangs registrierte. Ihre Blicke tauchten in das wunderbare Farbenspiel der Augen ein und schlagartig veränderte sich Lenas Sicht auf die Welt.

Ihre Augen reflektierten teilweise das einfallende Licht, die Farben vergrauten, die Körperausdünstungen der vielen Beutetiere vor ihr überdeckten den Familiengeruch ihrer Babys. Ihre Zunge mit den tausenden Widerhaken an der Oberseite raspelte über den oberen linken Eckzahn und verstärkte den bohrenden Schmerz, der dort tobte. Die Ohren drehten sich unabhängig voneinander und erzeugten ein dreidimensionales Klangbild der Beute, die jenseits der Lichtung stand und unvernünftig und überlaut lärmte. Sie konzentrierte sich auf die drei Wesen, die vor ihr standen. Die Frau mit dem abstoßenden Angstgeruch, den Riesen, der eine todbringende Waffe auf sie gerichtet hatte und ... auf sich selbst! Der erstaunlichste Anblick trat in den Hintergrund, als ihre Katzenaugen registrierten, dass der Finger an der Waffe sich krümmte, um die tödliche Sprengladung auf die Reise in ihren Schädel zu schicken.

Im Bruchteil einer Sekunde verschwand die seltsame Illusion eines Körpertauschs und Lena stand vor der sie anstarrenden Löwin. Verwirrt strich sie sich über die Augen und hob die Hand. »Jan«, sagte sie aus voller Kehle, »Mach jetzt um Gotteswillen keinen Fehler. Schieß nicht!«

Die Löwin drehte sich zur Seite, gab einen Lockruf von sich und die Gesichter zweier Löwenbabys schoben sich aus dem Buschwerk. Leichtfüßig trottete die Mutter mit ihren tollpatschigen Kindern davon.

»Puh, das war gefährlich«, stöhnte Princess. Verdattert starrte sie Lena an. »Sag mal, wie hast du es geschafft, derart cool zu bleiben?«

›Das wüsste ich auch gern‹, dachte Lena. ›Verrückt, einen Augenblick habe ich geglaubt, ich hätte durch die Augen der Löwin geblickt.‹ Ihre merkwürdige Anziehungskraft Katzen gegenüber schien sich erst in Südafrika entwickelt zu haben.

»Goodbye, Zinda«, hörte man im Rücken der beiden Frauen eine Stimme murmeln. Sie drehten sich um, Jan stand fünf Meter hinter ihnen. Er senkte das Gewehr und wischte sich mit der Hand über die Augen.

Mit Beinen wie aus Pudding staksten sie in seine Richtung.

Das Gesicht des Rangers hatte alle Farbe verloren. Fassungslos starrte er Lena an, trat auf sie zu und packte ihre Hand. »Danke, dass du mich davor bewahrt hast, meine Freundin Zinda zu erschießen.« Seine Augen waren feucht. »Hab sie persönlich aufgezogen und ausgewildert. Wusste nicht, dass sie sich hier herumtreibt. In der Regel lebt sie drüben am Fluss. In dem Augenblick, als du ’Schieß nicht!’ gerufen hast, wollte ich abdrücken. Im gleichen Augenblick hat die Löwin sich von euch abgewandt.« Verdutzt hörte er dem Klang seiner Worte nach. »Wieso hast du gewusst, dass ich bereit war zu schießen?«

›Ja, wieso habe ich das gewusst?‹ »Keine Ahnung, könnte Intuition gewesen sein.« Lena blickte Jan an. »Schwamm drüber, es ist nochmal gutgegangen.« Da sie seine Tränen gesehen hatte, konnte sie nicht anders. Obwohl eine innere Stimme sie schalt, umarmte sie ihn und drückte ihn an sich. ›Heute Abend sag ich ihm, dass ich vergeben bin‹, nahm sie sich vor, ›er soll sich keine Hoffnung machen. Warum nur mussten mir zwei prima Kerle wie Yannis und Jan über den Weg laufen?‹ Sie löste die Umarmung und vermied ihn anzuschauen. »Nebenbei bemerkt, meine Affinität den Katzen gegenüber hat mir eingeflüstert, dass die Löwin ein Problem mit den Zähnen hat. Dem solltest du nachgehen.«

Hatte er gehört, was sie gesagt hatte? Er schien völlig neben der Spur zu sein. »Äh, Jan, alles klar mit dir?«, fragte sie, »Was steht an?«

Der Game Ranger riss sich zusammen, er nahm sich Princess vor. »Wer macht hier die Prüfung?«, fragte er ungehalten. »Ich denke du und nicht Lena!« Er blickte auf die Uhr. »Jetzt los, ihr Beiden! Geht links an den Büschen vorbei und hierauf den Weg nach oben.«

Sie mochten zwanzig Schritte gegangen sein, als sie hinter der Biegung des Weges ein seltsames Rumpeln hörten. Blitzschnell fuhr der Arm von Princess mit gestrecktem Zeigefinger in Richtung von Lena. »Hinter mich! Sofort!«, brüllte sie. Auf einem Blechschild, das vor einen vierrädrigen Wagen montiert war, erschien der aufgemalte Kopf eines Gnus. Mit Höllentempo und ohrenbetäubenden Gebrüll der beiden Guards raste das Gefährt auf die Frauen zu.

Schon beim ersten Geräusch hatte Princess ihr Gewehr von der Schulter heruntergerissen und es entsichert. Sie legte an und feuerte auf die Stirn des aufgemalten Gnu-Kopfes ihre Waffe ab. Sofort lud sie nach, trat auf das Blechbild zu und setzte den nächsten Schuss direkt in das Auge. Die Schüsse wurden von den Hügelhängen zurückgeworfen und ihr Donnern rollte über die Savanne. Sie lud nach, schaute sich kurz nach ihrem Gast um, dann nach vorne, gerüstet, den nächsten Angreifer zu erledigen.

Unbeeindruckt vor der schönen Leistung zogen die beiden schwarzen Helfer das Gefährt erneut nach oben. »Montiert jetzt den Hippo-Kopf!«, rief Jan ihnen hinterher. Er wandte sich Princess zu. »Na also, geht doch«, sagte er beifällig und gab ihr die Hand. »Gratulation zur bestandenen Prüfung, Trail Ranger Princess!« Er griff in die Tasche, zog eine Schachtel heraus, entnahm eine Anstecknadel und steckte sie Princess an die Bluse ihrer Khaki-Uniform. »Alles vorschriftsmäßig gemacht! Gast im Rücken gesichert, fixer und präziser erster Schuss, ruck, zuck nachgeladen, zweiter Schuss direkt in das Auge, Gast und Gelände kontrolliert. Ungeachtet dessen, die Sache mit dem Löwen ... Princess, Princess ... mehr Coolness in gefährlichen Situationen!«

Der Makuleke standen Tränen in den Augen. Aus Freude oder des Tadels wegen? Lena trat auf sie zu, beglückwünschte und umarmte sie. »Vortrefflich, Princess«, sagte sie mit Überzeugung. Löwen gab es jetzt weit und breit keine mehr, alles was laufen und kriechen konnte, hatte die Flucht ergriffen.

Der Bund der Katzenfrauen

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