Читать книгу Der Bund der Katzenfrauen - D. Bess Unger - Страница 7
2. Chief Innocent
ОглавлениеIm Eiltempo schob Filippos den Gepäckwagen aus dem Terminal zu den Taxiständen hin, die beiden Frauen trotteten hinterher. Alle Taxis waren weg. »Verdammt, wo steckt der Bursche nur!« Ungehalten blickte er um sich.
»Erwartet uns Dads Freund hier in Johannesburg?«, fragte Lena ihre Mutter verwundert. »Ich dachte, der wohnt in der Nähe von Durban.« Die war außer Atem und konnte nicht antworten.
»Passt auf das Gepäck auf«, befahl Filippos. »Die Afrikaner klauen wie die Raben! Ich geh Geld wechseln.«
Von einem sommerlichen Afrika konnte keine Rede sein, die Luft war kühl, es nieselte leicht. Lena blickte zu dem trüben Himmel empor und zerrte ihre unter den Koffern eingeklemmte Jacke hervor. »Hoffentlich beeilt sich Dad«, stöhnte sie und warf sich die Jacke über die Schultern. »Warum hat er nicht schon zuhause Euros in Rands gewechselt?«
Ein stämmiger Mann mit einer Hautfarbe mehr Umbra als Schwarz steuerte geradewegs auf die Beiden zu. Je mehr er sich näherte, desto breitgezogener wurde sein Lächeln. Er blieb vor ihnen stehen und nahm die Mütze ab. »Sawubona!«, rief er ihnen zu, »My name is Innocent.« Blitzende Zähne und das Weiß der Augen funkelten sie an.
›Soll das Guten Tag heißen?‹, fuhr es Lena durch den Kopf. ›Innocent, unschuldig? Will der uns verkohlen?‹ Da Mum ihm lächelnd die Hand gab, tat sie es auch, zumal er sympathisch wirkte. ›Ist das etwa Dads Freund, der uns herumkutschieren will?‹ Sie schob die Sonnenbrille in den Ausschnitt ihrer Bluse und blickte dem Mann prüfend in die Augen.
Eine hellblaue Aura umflammte ihn, eine Farbe, die nach ihrer Erfahrung für Ruhe und Ausgeglichenheit stand. Sie verlor sich in Bildern verwirrender Farben und fremdartiger Töne. Mister Innocent wiegte sich mit nacktem Oberkörper im Rhythmus einer Trommel. Er trug einen knielangen Lendenschurz aus Kalbfell, von den Hüften hingen Schnüre aus gestreiften Tierfellen herab. An den Oberarmen und Kniegelenken baumelten buschige Enden von Kuhschwänzen. Der kitschige Eindruck wurde durch ein Stirnband aus Leopardenfell keinen deut gemildert, es verlieh ihm endgültig das Aussehen eines Schauspielers eines B-Movies. Er führte das hüfthohe, geschwungene Horn einer Kudu-Antilope, auf das er sich bisher gestützt hatte, zum Mund und blies kräftig hinein. Der seltsam klagende Ton berührte Lena. Sie schob ihre Brille auf die Nase.
»Ach, ihr habt euch schon bekannt gemacht?«, hörte Lena in ihrem Rücken die leicht enttäuschte Stimme ihres Vaters.
Die Männer gingen aufeinander zu, gaben sich zuerst nach westlicher Art die Hand, sodann umgriffen beide den Daumen des jeweils anderen und blickten sich strahlend an.
Der kräftige Innocent hob ihren Vater empor und drehte sich mit ihm im Kreis herum. »Sawubona!«, rief er aus. Als Filippos, wie es die Sitte erforderte, mit »Yebo, sawubon!« antwortete, begann er zu strahlen. »Du hast es nicht vergessen!«, schrie er los. »Nach all den vielen Jahren!« Er setzte ihn ab und wandte sich den beiden Frauen zu. »Du hast eine wunderhübsche Frau! Und erst deine Tochter, wow, eine wahre Schönheit!« Er streichelte Lena über die Wange. Sie, die solche vertraulichen Berührungen hasste, konnte nicht anders, geschmeichelt und verlegen lächelte sie Innocent an.
»Mein Freund! Schön, dass du Zeit hast, uns deine Heimat zu zeigen.«
Innocent machte eine wegwerfende Gebärde. »Rede keinen Unsinn, Filippos«, lachte er. »Vor zwanzig Jahren wollte ich in deinem Geburtsland eine Ausbildung zum Kaufmann machen. Du hast dir viel Mühe mit mir gegeben, weißt du noch? Es war, na logisch, hoffnungslos.« Er klatschte Filippos eine Riesenpranke auf den Rücken. »Das Rechnen war nie mein Ding!«, brüllte er. Er schnappte sich den Gepäckwagen. »Beeilt euch, mein Auto steht im Parkverbot, die Polizei hier versteht keinen Spaß!« Er rannte los, begleitet von Ava, die sich mit ihm derart angeregt unterhielt, als würde sie ihn schon seit Jahren kennen.
Filippos wollte ihnen hinterher, aber Lena packte ihn an der Jacke und hielt ihn zurück. »Du, Dad. Innocent. Ist das ein Name? So heißt doch niemand, oder?«
»Haargenau Innocent«, erwiderte er. »In der Schule haben ihn alle so genannt.«
»In Ordnung. Wie lautet sein Nachname?«, fragte Lena.
Filippos schien echt verblüfft. »Das habe ich ihn kein einziges Mal gefragt«, gab er zerknirscht zu.
›Du bist mir ein schöner Freund gewesen‹, dachte Lena, ›hast dir in der Schulzeit mit einem Mitbewohner ein Zimmer geteilt und kennst nicht mal den kompletten Namen.‹
»Los jetzt, wir müssen uns beeilen«, drängte ihr Vater. »Heute Abend wollen wir am Sabie River sein!«
Sie eilten hinter den beiden her, eine Frage interessierte Lena noch: »Was macht Innocent? Womit verdient er sein Geld?«
»Viel Kohle wird er nicht machen«, erwiderte ihr Vater leicht geringschätzig. »Im letzten Brief hat er geschrieben, er würde sich für irgendeinen sozialen Kram engagieren. Keine Ahnung, was genau er da treibt.« An der Stimmlage merkte Lena, dass ihn die Arbeit des Freundes schnurzegal war. »Praktischerweise kommt er viel mit dem Auto herum. Ebendrum kann er es sich bequem einrichten, uns zum Kruger National Park und nach Zinkwazi, unserem Urlaubsort am Indischen Ozean, zu fahren.«
Sie hatten einen Spurt einlegen müssen, kurzatmig stieß er »Nicht zu vergessen, im Hauptberuf ist er Häuptling!« hervor.
Lena starrte zu ihrem Vater hin. Hatte der nicht alle Tassen im Schrank? »Was? Willst du mich verkohlen?«, fragte sie verdutzt. »Das gibt es hier noch? Häuptlinge?« Amüsiert lachte sie auf.
»Nur konsequent, rückständig wie dir hier sind«, schnaufte er. »Man nennt das hier Chief oder in der Landessprache Inkosi. Frag ihn, wenn dich das interessiert.«
›Das tut es. Chief? Das würde zu den Gedankenbildern passen, die ich gesehen habe. Fehlt nur noch, dass er mehrere Frauen hat!‹
Die Türen des klapprigen Mercedes, der mit laufendem Motor schon auf sie wartete, waren geöffnet. Lena warf sich auf den Beifahrersitz, ihr Vater zu seiner Frau auf der Rückbank. Sie schmissen die Türen zu, Innocent gab Gas, der Motor heulte auf und mit quietschenden Reifen schoss der Wagen davon.
Zwei Polizisten drohten ihnen mit Knüppeln wütend hinterher.
Lena starrte den Fahrer an. »Heißt du tatsächlich Innocent?«, fragte sie wissbegierig. »Oder ist das nur ein Spitzname?«
Innocent blickte sie von der Seite an. ›Schau an‹, dachte er erfreut, ›das Mädchen will alles genau wissen, in der habe ich mich nicht getäuscht. Ist nicht so oberflächlich wie ihre Eltern.‹ »Hier in Afrika«, klärte er auf, »wird der Vorname nicht nach Klang oder Beliebtheit ausgewählt! Es geht mehr um Bedeutung, Wünsche, Hoffnungen oder Lebenssituationen. Wenn es im Verlauf der Geburt geregnet hat, heißt das Kind unter Umständen Zanemvula, also etwa ’Der mit dem Regen kommt’. Wenn die Mutter zufällig vor der Geburt Arbeit findet, nennt sie ihre Tochter etwa Letshego, was ’Das Mädchen, das Glück hat’ bedeutet. Mein Vater zum Beispiel saß im Gefängnis, als ich zur Welt kam. Unschuldig, wie viele in den Zeiten der Rassentrennung. Demzufolge gab meine Mutter mir den Namen Innocent. Alles klar?«
Lena war beeindruckt. ›Meine Eltern hätten bei meinem Vornamen ebenfalls mehr Fantasie aufbringen können‹, überlegte sie. ›’Die mit dem Regen kommt’ klingt cooler als so ein x-beliebiger Name.‹
»Nebenbei bemerkt, Namen erhält man in Afrika nicht nur einmal im Leben«, setzte Innocent seine Erklärungen fort. »Nach überstandener Krankheit oder Schicksalsschlag oder wenn man eine Arbeit antritt, gibt man sich einen zweiten, einen dritten Namen usw.« Er lachte zufrieden. »Umfassende Verhängnisse sind mir in meinem Leben bislang zum Glück erspart geblieben, ebendrum heiße ich noch Innocent.«
›Okay, da hast du Glück gehabt‹, dachte Lena. ›Aber ich, ich müsste jetzt schon den dritten oder vierten Vornamen haben! Doch Lena genügt mir. Mich an einen anderen Namen zu gewöhnen, nein, dafür bin ich zu nicht mehr jung genug.
Straßenschilder wiesen in Richtung Hazyview und Paul Kruger Nationalpark. In der kargen Landschaft setzten blau blühende Jacaranda-Bäume, in Gelb erstrahlende Akazien, rote Flammen-Bäume, vanillefarbene Frangipani, lila Bougainvillea, Hibiskus und Weihnachtssterne wunderschöne Farbtupfer. An einem Flussufer stand ein Pompom-Baum. Er sah aus, wie eine Wolke aus rosa Ballen, die sich auf einem Baumstumpf herabgesenkt hatte. Am Straßenrand war auf eingebeulten Schildern ’Beware of Hippos’ zu lesen.
»Hippos? Sind damit etwa Flusspferde gemeint? Wieso wird von denen gewarnt, die sehen doch harmlos und putzig aus!«
»Von wegen harmlos!«, sagte Innocent. »Hippos, wie wir in Südafrika die Flusspferde nennen, sind die gefährlichste Tierart in Afrika!«
»Machst du Witze? Ein Mensch kann garantiert fixer laufen als ein Hippo«, sagte Lena skeptisch. »Dick und träge wie die aussehen!«
»Da täuschst du dich gewaltig. Wenn ein Hippo-Baby im Wasser badet, seine Mutter in den Büschen am Flussufer nach Fressen sucht und ein Mensch versehentlich zwischen Mutter und Kind gerät, dann ist er unrettbar verloren! Das Hippo wird schrecklich wütend, greift ohne Warnung an und trampelt den Menschen zu Tode. Das passiert hier dutzende Male im Jahr!«
Lena blickte sich um, ihre Eltern auf der Rückbank waren eingedöst. Perfekt, Zeit für ein ausführliches Schwätzchen. »Zu was für einem Volk gehörst du?«, fragte Lena den Chauffeur. »Sprecht ihr untereinander Englisch oder habt ihr eine eigene Sprache?«
Innocent war baff ob solcher Unkenntnis. »Hat dir dein Vater das nicht erklärt?«, wunderte er sich. Auch Lena fand, dass sich das von ihrem Vater schlankwegs gehört hätte.
»Ich gehöre zum Volk der Zulus, dem Volk des Himmels«, sagte er mit stolzgeschwellter Brust. »Na logisch haben wir eine eigene Sprache! Sie heißt isiZulu. Das Besondere daran ist, dass es neben den Vokalen und Konsonanten viele Klicklaute gibt!« Er ließ ein paar Hörproben hören, die sprachbegabte Lena war schwer beeindruckt.
»Bist du verheiratet? Hast du Kinder?«
»Na hör mal! Wie jeder weiß, bin ich ein Häuptling, ein Inkosi«, lachte Innocent. »Ein Inkosi muss verheiratet sein! Zurzeit habe ich nur vier Frauen.« Er sagte das mit einem gewissen Bedauern. »Meine Erstgeheiratete heißt uSibusiswe, das bedeutet in isiZulu ›Gesegnet‹, du wirst dir denken können, warum«, fügte er gelassen hinzu.
Lena war fürs Erste bedient und brachte kein Wort über die Lippen. Sie warf dem sogenannten Häuptling einen wütenden Blick zu.
Der schien amüsiert. »Jetzt schau nicht so entgeistert! Ein Inkosi muss sich von gewöhnlichen Männern abheben«, sagte er ungerührt. »Zudem, ich habe für alle meine Frauen einen anständigen Preis gezahlt.«
»Du hast deine Frauen gekauft?«, fragte sie hellauf empört. ›Das wird ja immer besser‹, dachte sie, ›Wir sind bei Hinterwäldlern gelandet.‹ »Das ist in Südafrika erlaubt?« Ihre Stimme bebte vor Entrüstung. »Wie viel kostet eine Frau?«
»Elf Kühe im Durchschnitt«, antwortete er lässig. »Hör mal, ich glaube, du verstehst dieses und jenes verkehrt!« Er warf ihr einen belustigten Blick zu, doch sie presste die Lippen aufeinander und schaute stur nach vorne auf die Straße. »Der Brautpreis ist auf keinen Fall als Kaufpreis für die Frau zu betrachten. Er ist eine Gegenleistung in einem Tauschgeschäft. Der Vater der Braut bekommt von mir wertvolle Kühe im Austausch für die verlorene Arbeitskraft der Tochter. Das ist bloß fair, oder?«
»Was sagte deine uSibusiswe, als du Konkurrentinnen ins Haus geholt hast?«, fragte Lena grantig. »Die war garantiert nicht begeistert!«
»Im Gegenteil«, lachte Innocent. »Je mehr Frauen ein Mann hat, desto höher ist der Respekt, den man der Erstfrau zollt! Meine drängt mich immer, mir noch eine Frau zuzulegen, damit sich die Arbeit besser verteilt.«
›Im Grunde geht es mir nicht anders wie uSibusiswe‹, überlegte Lena bitter. ›Unter Umständen teile ich mir Yannis mit meiner Tante. Der einzige Unterschied ist, sie treiben es nicht vor meinen Augen.‹ »Wohnt ihr alle zusammen? In einem Haus?«, fragte sie. »Das klappt, ohne jeden Streit?«
»Meine Frauen kommen miteinander aus«, grunzte er zufrieden. »Jede hat ihre eigene Hütte, führt ihren eigenen Haushalt, bestellt ihr eigenes Feld, hat ihre eigenen Milchkühe, kocht nur für sich, ihre Kinder und mich. Wenn ich bei ihr bin ...« Er warf Lena einen anzüglichen Blick zu. »Logischerweise muss ich versuchen, sie alle gleich zu behandeln.« Er tätschelte das Cockpit. »Ist in meinem Alter nicht immer problemlos. Von daher bin ich froh, wenn ich mit dem Auto unterwegs sein darf.«
»Wo lebst du mit deiner Familie?«
»In PheZulu«, erklärte er mit vor Stolz geschwellter Brust. »PheZulu bedeutet in unserer Sprache ’hochoben’, mein Dorf liegt oben am Rande des Tals der Tausend Hügel!« Er geriet ins Schwärmen. »Warte nur, bis wir in der Provinz KwaZulu-Natal sind, durch den Hluhluwe-Umfolozi Park in Richtung Durban fahren und in meinem Dorf ankommen! Du wirst von den Socken sein, wenn du die wundervolle Aussicht sehen wirst.«
»Schluschluwi-Umflozzi?«, radebrechte Lena, was ungewohnt für sie war, galt sie doch als Sprachwunder, das Griechisch, Englisch und Deutsch fließend beherrschte. »isiZulu scheint eine enorm vertrackte Sprache zu sein. Warum lebst du nicht ständig bei deiner Familie? Abgesehen von der Schonung deiner Männlichkeit.«
Innocent war nicht beleidigt. »Unsere jetzige Regierung garantiert zwar freie Bildung für alle, doch Papier ist geduldig. In den Townships und auf dem Lande liegt vieles im Argen, von daher engagiere ich mich für bessere Bedingungen in Waisenhäusern und Kinderkrippen.« Unvermittelt wirkte er bedrückt.
Lenas Achtung für ihn stieg deutlich an.
»Es fehlt an beinahe allem«, sagte er. »Viele Waisen leben in elenden Verhältnissen. Am Rande des Kruger National Parks liegt zum Beispiel ein Waisenhaus, das mir speziell am Herzen liegt. Wenn ich da bin, versuche ich, den Kindern ein bisschen Stolz und Würde zu vermitteln.« Er seufzte. »Ach, man bräuchte viel mehr Geld.«
»Erzähl mir von deiner Heimat, Innocent«, bat Lena gerührt. »Von der Landschaft, den Menschen, ihrer Geschichte und was es für dich heute bedeutet, ein Zulu zu sein.«
»Darüber spreche ich besser, wenn du meine Heimat persönlich siehst. Unter der klaren Luft der uKhahlamba fallen mir bessere Worte ein als hier.«
»Ukaschlammba?«, fragte sie und kam sich bei ihrem Gestammel blöd vor.
»uKhahlamba ist das, was die Weißen die Drakensberge nennen.«
»Drakensberge? Seltsames Wort, unzweideutig leitet es sich von dem deutschen Wort Drachenberge ab«, sagte Lena mehr zu sich selbst.
»Wir Zulu mögen die Bezeichnung nicht«, warf Innocent sofort ein. »Wir nennen die Berge uKhahlamba, ’Die Wand der aufgestellten Speere’. Wegen der vielen Schluchten, Kämme, Höhlen, Überhänge und Zinnen, verstehst du?«
»Das ist ein schönes Wort für ein Gebirge«, meinte Lena diplomatisch, beide Bezeichnungen gefielen ihr nicht. »Es klingt verflixt kriegerisch!«
»Wenn du die Berge siehst, wirst du es verstehen!«, tröstete er sie. »Weißt du, mit euch Weißen ist es ein Jammer«, fuhr er fort, »Als Schwarzer durfte ich in meinem Land nichts Gescheites lernen. Ebendeshalb bin ich für zwei Jahre nach Griechenland gegangen. Bei euch habe ich gemerkt, dass unsere Kultur euch Europäern scheißegal ist. Von den Indianern wissen die Schulkinder bei euch in Europa eine Menge, von uns Schwarzen so gut wie nichts.«
Er sagte das mit leichtem Vorwurf. »Was zum Beispiel weißt du von König Shaka und dem Volk der Zulus?« Er blickte sie fragend an und sie zuckte betreten mit der Schulter. »Na bitte«, sagte er. »Von den Häuptlingen Sitting Bull, Crazy Horse und den Stämmen der Apachen und Sioux hast du schon gehört!«
»Selbstredend. Das kommt vor allem daher, dass meine Mutter indianische Wurzeln hat«, erklärte sie, wie um Entschuldigung bittend. »Mein Großvater ist vom Stamme der Navahos.«
Der Häuptling warf ihr einen erstaunten Blick zu. »Stimmt, deine Mutter ist Amerikanerin. Dass sie Halbindianerin, wusste ich nicht.« Er blickte sich kurz zu der pennenden Ava um. »Kaum zu glauben«, murmelte er.
»Erwähne ihr gegenüber nichts davon. Sie ist, glaube ich, nicht Stolz darauf.«
»Und du, wie siehst du das?«, fragte er sichtlich gespannt.
»Ich weiß nicht so recht«, sagte Lena zögerlich, »Meine Mum hat mir erzählt, dass ihr Vater kein netter Mensch war ...«
Innocent spürte, dass er einen wunden Punkt berührt hatte und summte eine Melodie vor sich hin. Minutenlange Gesprächspausen waren seine Sache nicht. »Weißt du, warum du mir gleich sympathisch warst?«, platzte er unvermittelt heraus. »Du ähnelst meiner Tochter uThembani.«
uThembani. Hatte sie das korrekt verstanden? Lena ließ sich das Wort gemächlich auf der Zunge zergehen, es gefiel ihr. »uThembani ist ein fabelhafter Name! Hat er in isiZulu eine konkrete Bedeutung?«
»Zwangsläufig. Aus dem Grund wählen wir Namen ja aus! uThembani bedeutet in isiZulu so viel wie ’Hoffnung’. Die Geistheilerin unseres Dorfes empfahl mir den Namen.«
›Oh je‹, dachte Lena bei sich, ›ich hätte nicht so heißen mögen. Müsste man sich als Trägerin von dem Namen nicht ständig fragen, ob man die Erwartungen der Eltern schon erfüllt hat?‹ Sie scheute sich nicht, die Frage zu stellen. »Und? Hat sie deine Hoffnungen wahr gemacht? Oder wartest du noch darauf?«
Innocent warf ihr einen prüfenden Blick zu, wie um sich zu vergewissern, ob sie tatsächlich eine Antwort erwartete. An ihrer Miene las er sofort ab, dass sie sich mit einer oberflächlichen Auskunft nicht zufriedengeben würde. »Nun, sie ist eine Sangoma und Inyanga«, erwiderte er. Supertoll schien er das nicht zu finden.
Lena war elektrisiert, das klang geheimnisvoll. »Sangoma?«, fragte sie. »Was ist das?«
»Das lässt sich einem Weißen nicht leicht erklären«, sagte Innocent betreten. »Weißt du Lena, wir Zulus sind ein verdammt abergläubisches Volk! Wir glauben, dass alle Krankheiten durch Dämonen, die ein Hexenmeister zu dem Zweck extra erschaffen hat, verbreitet werden. Als Folge dessen muss der Sangoma, der Geistheiler, herangezogen werden, um gegen das Übel anzukämpfen!«
»Ein Hexenmeister erschafft sich Dämonen?«, fragte Lena. Davon hatte sie noch nie gehört. »Was sind das für Wesen?«
»Wenn es dich nicht erschreckt, erkläre ich es dir«, sagte Innocent zögerlich und schaute zu ihr hin, als prüfe er, wie psychisch belastbar sie sei.
»Nur zu! Erschreckender, als es in den Sagen meiner griechischen Vorfahren zugeht, können deine Geschichten auch nicht sein«, sagte sie gelassen. »Mum pennt, du kannst loslegen.«
»Ein Dämon, wir nennen ihn Tokolosh, ist ein, wie soll ich es formulieren, ein Zombie, ein lebender Toter«, sagte er gedämpft. Die Sache schien ihm nicht geheuer zu sein. »Der Hexer beschafft sich eine Leiche, sticht ihr die Augen aus und schneidet ihr die Zunge heraus.«
Er warf Lena einen kurzen Blick zu, sie nickte ihm beruhigend zu.
»Er treibt eine glühende Eisenstange durch die Schädeldecke in den Leib der Leiche, worauf der Körper auf die Größe eines Pygmäen zusammenschrumpft. Dann reißt der Hexer die Mundhöhle der Leiche auf und bläst magische Medizin hinein. Der Tokolosh erwacht zu einem furchtbaren Leben. Nun kann der Hexenmeister ihn aussenden, um Krankheit, Wahnsinn und Tod zu verbreiten.«
»Das glaubt ihr im Ernst?« Lena war fassungslos und versuchte ihre Abscheu zu verbergen.
»Wir Zulus glauben das«, sagte Innocent. »Nachts verschließen wir unsere Türen. Unsere Frauen legen Ziegelsteine unter ihre Betten, damit sie höher sind und der zwergenhafte Tokolosh nicht hochklettert und sie vergewaltigen kann. Wenn es nachts an unsere Tür klopft, öffnen wir nicht und schweigen. Wer antwortet, verfällt dem Schwachsinn, wer öffnet, erleidet den Tod.«
»Ihr glaubt, dass alle Krankheiten solche Ursachen haben?«, fragte Lena verblüfft.
»Selbstverständlich können auch die Geister der Ahnen Ursache von Erkrankungen sein«, gab er zu. »Das passiert, wenn sie sich vernachlässigt fühlen. Bei Geburten, Hochzeiten und Beerdigungen müssen wir ebendarum ausreichende Schlachtopfer bringen, gleichfalls wenn Regen fällt oder die Ernte ertragreich ist.«
»Was ist mit Vererbung, blöden Zufällen, Schicksalsschlägen, von Gott gesandten Prüfungen?«
»Lena, so etwas wie ein Schicksal gibt es für uns Zulus nicht! Auch den Gott der Zulus, den Großen Unkulunkulu, kannst du nicht verantwortlich machen, er schert sich einen Dreck um uns Menschen. Von Hexer erschaffene Dämonen bringen das Unglück über uns und der Sangoma muss den Hexer finden und den Dämon auslöschen. Basta.«
»Der Mensch wird geheilt?«, fragte Lena skeptisch. »Selbst bei AIDS, Krebs und andere schreckliche Sachen?«
»Na klar«, sagte Innocent. »Vorausgesetzt, der Sangoma beherrscht sein Handwerk.«
Kaum wagte Lena das Wort auszusprechen, aber sie musste es tun. »Magie?«, fragte sie mit trockenem Mund, »Deine Tochter benutzt Schwarze Magie?«
»Schwarze Magie? Was ist das?« Doch er schien keine Antwort von Lena zu erwarten. »Nein, uThembani benutzt nur Wurzeln, Kräuter, Baumrinden, Häute von Schlangen, getrocknete Tierteile, Asche und Mineralien, Tierfelle und verschiedene Knochen.«
Lena war beruhigt. Aber wusste Innocent denn überhaupt die komplette Wahrheit? Aids konnte man mit einem Kräutersud garantiert nicht heilen, egal, was für eine Schlange darin mitgekocht wurde. Sie nahm sich vor, auf der Hut zu sein, sollte sie auf uThembani treffen. »Was macht eine Sangoma außerdem noch?«
»Oh, eine Menge. Wirft Knochen und enthüllt damit die Vergangenheit und blickt in die Zukunft. Findet verlorene Gegenstände, weiß, wie man die erzürnten Geister der Ahnen besänftigt. Spürt Diebe auf und ruft den Regen herbei. Du siehst, die Frau oder der Mann ist für die Dorfgemeinschaft lebenswichtig!«
»Wie wird man eine Sangoma?«
»Sie werden im Kindesalter ausgewählt«, sagte er. »Die Alten erkennen das an irgendwelchen Zeichen sofort, nehmen die Kinder als Lehrling zu sich und bilden sie aus.«
Eine Ahnung stieg in Lena auf, ihr dämmerte, woran die Sangomas ihre Nachfolger erkannten.
»Du hast vorhin noch ein Wort erwähnt. Injanka oder so ähnlich. Was treiben die?«
»Du meinst Inyanga?«
Lena nickte.
»Wenn du Husten oder Magenschmerzen hast, also unerheblichere Wehwehchen, dann musst du einen Inyanga aufsuchen«, sagte Innocent aufgeräumt. Über das Thema schien er eher reden zu wollen, die Welt der Hexer und Dämonen war ihm nicht geheuer.
»Wie schaffen die Inyangas das?«, fragte Lena und bemühte sich, den Spott in ihrer Stimme zu unterdrücken, weil sie ähnlichen Hokuspokus vermutete.
»Sie gehen in mondhellen Nächten auf die Suche nach Kräutern, Wurzeln und Rinden. Die mixen und kochen sie zu einer Medizin zusammen.«
›Das macht Kaljas Vater als Homöopath ähnlich‹, dachte Lena versöhnt. Die Tätigkeit einer Inyanga erschien ihr nachvollziehbarer und sympathischer als die einer Sangoma.
»Die medizinische Fürsorge ist nur ein Teilaspekt«, zerstörte Innocent gleich ihre positive Einschätzung. »Sich um Ernten kümmern, einen Liebesbann über jemand legen, das Haus vor Blitzeinschlägen und Dieben schützen, sich um einen besseren Job kümmern gehört auch dazu. Du siehst, hier überschneiden sich die Aufgaben der Sangoma und Inyanga.«
»Wie lange dauert die Ausbildung?«
»Zwischen acht und zehn Jahre. Du musst nicht überrascht schauen, das ist ein angesehener und lebensnotwendiger Beruf, das braucht Zeit zur Ausbildung.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Klar, es gibt auch viele Betrüger, man muss schon aufpassen, wen man konsultiert. Die beste Ausbildung erfährt man im Tal der Schamanen, einem heiligen, geheimnisvollen Ort.«
»Wer hat deine Tochter als künftige Sangoma und Inyanga erkannt? Der Heiler aus deinem Dorf?«
»Nein«, sagte er. »Eine furchtbare Geschichte war das, ich mag gar nicht daran denken.« Er wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirn. »Als meine Kleine acht Jahre zählte, erkrankte sie schwer. Der Inyanga aus dem Dorf konnte ihr nicht mehr helfen und gab sie verloren. Man brachte einen weißen Arzt zu uns. Ohne viel Geld kümmerte er sich um uns Schwarze. Er warf einen Blick auf mein Kind, schüttelte bedauernd den Kopf, gab uns alle die Hand und ging weg.« Die Erinnerung daran schien Innocent mitzunehmen, seine Fröhlichkeit war von ihm abgefallen. »Ich machte einen letzten verzweifelten Versuch, ich holte Nomvolo, den größten männlichen Sangoma, der in unserem Volk lebt.« Er schluckte, bevor er weitersprach. »Als er kam, schickte er uns alle aus der Hütte. Stundenlang saßen wir davor und warteten. Endlich kam er heraus, an der Hand führte er meine Tochter. Kerngesund! Bei dem Anblick spaltete sich mein Herz, die eine Hälfte leuchtete vor Jubel, die andere versank in Schwärze vor Trauer.« Seine Stimme klang bewegt, die Erinnerung setzte ihm zu.
Lena glitt bei den Worten in ihrer Erinnerung zwei Jahre zurück: Der überdimensionale Skorpion hatte den todbringenden Stachel in ihre linke Hand versenkt. Das Gift begann zu wirken, das Gefühl von Taubheit und bitterer Kälte kroch in ihren Körper hinein, bis in die letzte Körperzelle. Ihr Herz blieb stehen. Auch in jener Zeit war jemand zu ihr gekommen, hatte sie geheilt wie das schwarze Mädchen.
Sie fasste nach Innocents Hand. »Dein Kind war geheilt, wieso war dein Herz gespalten?«, fragte sie vorsichtig.
»Nomvolo, der Herr des Regenbogens, ist bekannt dafür, dass er sich für Dienste königlich bezahlen ließ. An Gold und weißen Rindern war er nicht interessiert, mehr an Menschen. Als ich sah, wie kräftig er uThembanis dünnes Handgelenk umfasst hielt, wusste ich Bescheid.«
»Er hat doch nicht etwa dein Kind von dir gefordert!«, entsetzte sich Lena.
»Genau das, Lena. Als Lohn für seine Dienste nahm er meine Tochter mit sich ins Tal der Schamanen. Erst nach zehn Jahren durfte sie zu uns zurückkommen. Vor einem Jahr habe ich meine Tochter zum ersten Mal wiedergesehen. Sie war Sangoma und Inyanga geworden.« Seine Hände umklammerten das Lenkrad, schweigend mit zusammengebissenen Lippen raste er über die verkehrsarme Straße.
Lenas vager Verdacht verstärkte sich zur Gewissheit: Nomvolo wird zu einem todkranken Kind gerufen, er schickt alle vor die Hütte, nach einiger Zeit kommt er mit einem geheilten Kind heraus. Dieser Nomvolo musste ohne Zweifel ein herausragender Magier sein. Warum nur war er so interessiert an dem Mädchen gewesen? Natürlich, das lag auf der Hand, das Mädchen war eine Sternenstaubträgerin! Er hatte die magischen Möglichkeiten, die in dem Mädchen steckten, erkannt, sie mitgenommen und in den zehn Jahren zu einer ihm ergebenen Magierin ausgebildet. Doch zu welcher? Einer Schwarzen oder einer Weißen? Sie musste es herausbekommen, und zwar bevor ihr uThembani über den Weg lief.
Innocents Gesicht hatte sich entspannt, seine Hände umfassten das Lenkrad unverkrampft. »Meine Tochter kümmert sich um Arme, Schwache und Kranke«, fuhr er fort, »Dabei hätte sie lukrativere Chancen. Hohe Politiker aus der Hauptstadt Tshwane, sogar der König der Zulus will sie als Beraterin.«
»Was, ihr habt einen König?«, entfuhr es Lena überrascht. »Das Erste, was ich höre!«
»Wir Zulus haben Häuptlinge«, er klopfte sich selbstbewusst auf die Brust, »und wir haben einen König. Er heißt Goodwill Zwelethini und herrscht über acht Millionen Menschen.«
Lena war nicht an dem König interessiert, uThembanis Person war von grundsätzlicherer Bedeutung. »Du sagtest, etwas an mir würde dich an deine Tochter erinnern«, unterbrach sie Innocent, der zu einem Monolog über den Zulu-König ansetzen wollte. »Was genau ist es?«
Er warf ihr einen prüfenden Blick zu. »Na ja, die Hautfarbe nicht«, scherzte er. »Davon abgesehen? Figur, Körpergröße, Alter, alles wie bei meiner uThembani.« Er zog die Stirn in Falten. »Doch das ist es nicht. Ihr beide habt eine Winzigkeit gemeinsam ...« In dem schwarzen Gesicht rollten die weißen Augäpfel, Schweißtropfen perlten auf der Stirn, trotz aller Anstrengung, ihm fiel nichts ein. Stumm fuhren sie Kilometer auf Kilometer dahin. Straßenschilder wiesen auf Numbi, Phabeni und Paul Kruger Gate hin, den südwestlichen Eintrittspforten in den Nationalpark.
»Na, was ist es?«, drängte Lena. Sie mühte sich, ihm auf die Sprünge zu helfen. »Augenfarbe, Frisur, Nase?« Sie griff an ihre Nase, die ihr als Teenager durch ihre Länge viel Kummer gemacht hatte und rieb ihre Finger die Nasenflügel entlang.
»Nein, nein«, wehrte er ab, »Mit dem Aussehen hat das nichts zu tun. Es ist vertrackter, liegt in eurem Inneren verborgen. Ich fühle, dass du eine Spur in dir trägst, die dich mit meiner Tochter verbindet.« Er wischte sich über die Stirn. »Lassen wir das«, beendete er das Thema. »Wenn mir die passenden Worte einfallen, wirst du es erfahren.«
›Oha‹, dachte Lena, ›ahnt Innocent, dass ich Sternenstaubträger bin? Nein, das ist unmöglich, er muss anderes im Sinn haben. Aber was? Hat es mit meiner entfernten Abstammung als Navaho zu tun? Trage ich aus genau dem Grund die magische Energie in mir? Sind Naturvölker hierfür empfänglicher?‹