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Die Welt wurde entgöttert – aber auch entwundert

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Selbstverständlich war die Zurückdrängung der ausschließlich mythologischen Vorstellungen und die Hinwendung zu Realität und Rationalität ein deutlicher Fortschritt. Aber wie so vieles hatte auch das eine zweite Seite. Selbst Einstein erregte sich einmal, angesichts der Entdeckung so grundsätzlicher Naturgesetze sei die Welt nun leider nicht nur entgöttert, sondern auch entwundert worden.

Die gleiche Wissenschaft, die die Erde aus dem gottgewollten Zentrum des Universums herausgerissen und zu einem durch das All fliegenden Körper unter vielen anderen gemacht hatte, die Wissenschaft, die damit auch den Menschen seiner geographischen Sonderstellung im Zentrum des Universums und des Weltgeschehens beraubt und an den Rand des universalen Geschehens gestellt hatte, rückte ihn auf andere Weise wieder in den Mittelpunkt. Die Natur war nun ein riesiges, gut funktionierendes, fein aufeinander abgestimmtes Uhrwerk, eine präzise arbeitende Maschine, derer sich der Menschen bedienen konnte.

Die klassische Physik hatte dem Menschen die Welt in ihren Strukturen und Vorgängen überschaubar, in ihren Zusammenhängen und Regeln durchschaubar, in ihrem Verlauf berechenbar und in ihren Konsequenzen beherrschbar gemacht.

Damit aber war der Mensch auch wissenschaftlich zur obersten, fortgeschrittensten und mächtigsten Erscheinungsform der Materie im Universum und so offensichtlich doch wieder zum eigentlichen Ziel von Evolution, wahlweise auch von Schöpfung geworden. Zwar war die Erde nicht im Mittelpunkt des Universums, der Mensch mit seiner Intelligenz, seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten schien das wohl irgendwie doch zu sein.

Der Mensch, das war die res cogitans, die Welt der Vernunft und der Erkenntnis, alles Übrige die res extensa, die Welt der leblosen Dinge. Wenn sich die Welt in res extensa und res cogitans aufteilen ließ und der Mensch der Welt der Vernunft angehörte, dann nahm er, das war so klar wie das Amen in der Kirche, eine bevorzugte Stellung ein, war also doch wieder im Mittelpunkt allen Geschehens.

Das auf der klassischen Physik beruhende Paradigma, das allen wissenschaftlichen Theorien der damaligen Zeit zugrunde lag, stand auf fünf festen Pfeilern. Es sind dies Grundansichten, die Voraussetzung und Zielrichtung allen wissenschaftlichen Denkens und Forschens waren, die von niemand ernsthaft angezweifelt wurden und die uns auch heute noch recht vernünftig, wenn auch nicht mehr so ganz unantastbar erscheinen.

1. Das Universum besitzt eine objektive Existenz. Vorgänge in ihm finden unabhängig vom Willen des Menschen statt, Objekte existieren unabhängig jedes Beobachtungsvorganges; die Planeten und Sterne, die Bausteine der Materie und das Licht, alle Erscheinungen, in denen sich das Universum repräsentiert, gab es schon, als noch kein Beobachter existent war, oder gibt es, auch wenn kein Beobachter sich ihnen widmet; und sie sind so wie sie sind.

2. Die Objekte besitzen unterschiedliche Eigenschaften. Diese sind ebenfalls an die verschiedenen Objekte gebunden; sie ändern sich als Folge von Ursachen. Das Werden und Vergehen der Objekte einschließlich aller Veränderungen ihrer Eigenschaften vollzieht sich nach Gesetzen.

3. Jeder Ursache folgt eine Wirkung, jeder Wirkung geht eine Ursache voraus. Alle Vorgänge im Universum sind Ursache - Wirkung - Folgen. Ursache und Wirkung sind durch den unveränderlichen Lauf der Zeit miteinander verbunden.

4. Alle Erscheinungen besitzen eine 3-dimensionale Ausdehnung und ebensolche Distanzen zu anderen Erscheinungen. Der Raum und die Zeit bilden den unabänderlichen, unverzichtbaren, nicht erschaffenen und nicht vernichtbaren Rahmen für die Existenz aller Dinge und Vorgänge.

5. Ein mit Intelligenz und Vernunft ausgestattetes Wesen kann potentiell alle im Universum existierenden Objekte und Vorgänge, Zusammenhänge und Regeln erkennen, alles Geschehen – wenn es erst über hinreichende Kenntnisse verfügt – vorausberechnen und die Dinge und Vorgänge für seine Zwecke nutzen. Diese Rolle im Universum auszuüben, kommt dem Menschen zu.

Auf dieser Grundlage erlebte der deterministische Mechanismus seine Blüte. Die Natur schien zwar ein unabhängig vom Menschen arbeitender Mechanismus zu sein, dem der Mensch aber nicht gänzlich hilflos ausgeliefert war, sondern den er immer besser zu durchschauen vermochte und für sich nutzbar machen konnte, je mehr er von den Einzelteilen und ihrer Rolle im Ganzen verstand. Die Natur war etwas, was der Mensch mit der von ihm geschaffenen Mathematik und Physik und den von ihm aufgedeckten und formulierten Gesetzen begreifen, mit den von ihm geschaffenen Apparaten und Verfahren nachmachen (und sogar verbessern) und mit dem ihm eigenen Verstand überlegen sein konnte. Der Mensch war zwar nicht der Uhrmacher, der die Mechanismen der Natur erfunden hatte, aber er konnte sie durchschauen, verstehen, nachmachen und nutzen.

Das war die andere Seite des mechanistischen Paradigma, das durch die klassische Physik geschaffen und genährt wurde. Es war so dem Charakter nach ein Weltbild, das den Menschen zum einzig verstehenden Beobachter und allein berechtigten Nutzer aller Dinge machte. Auch wenn der Mensch nach diesem Paradigma in der Freiheit seines Willens und Handelns stark eingeschränkt und in das komplexe Räderwerk der Maschine Universum unentrinnbar eingebunden war, das geozentrische Weltbild war nicht wirklich aus der Welt, sondern nun zu einer Art anthropozentrischem Weltbild mutiert.

Und doch war es ein gewaltiger Fortschritt. Es ist zu unterstreichen, dass die Wissenschaft mit diesem Paradigma außerordentlich erfolgreich war. Auf vielen Gebieten wurde ein stabiles Grundlagenwissen geschaffen, auf das wir uns noch heute berufen; wurde ein dichtes Netz an anwendbaren Kenntnissen etabliert und Großes geleistet, erworbenes Wissen schnell in praktische Anwendungen zu überführen.

Die Physik mauserte sich von der Spielwiese der praxisfernen Universitäts-Denker und Katheder-Visionäre zum Feld der akribischen Beobachter und Datensammler, Erfinder und Konstrukteure. Es ging gut voran mit der Physik. Die Schmelz-und Siedepunkte von Stoffen wurden entdeckt (Hooke;1668), der Energieerhaltungssatz für mechanische Prozesse formuliert (Huygens;1673), die Lichtgeschwindigkeit wurde erstmals – noch nicht sehr genau, aber in der richtigen Dimension – bestimmt (Römer;1676), die Gasgesetze entdeckt (Amontons;1699), das Thermometer erfunden (Fahrenheit;1714), die Kräfte zwischen elektrischen Ladungen in ein Gesetz gefasst (Coulomb;1785), die Schallgeschwindigkeit in Flüssigkeiten und Festkörpern bestimmt (Chladni;1796), eine erste elektrochemischen Spannungsquelle gebaut (Volta;1799), der Wellencharakter des Lichtes nachgewiesen (Young;1802), der erste Elektromotor (Henry; 1832), der erste Wechselstrom-, der erste Gleichstromgenerator (Pixii; 1832, 1833) und die erste elektrische Batterie (Daniell; 1836) gebaut, die Gasentladungsröhre (Plücker; 1854) und die Spektralanalyse erfunden (Kirchhoff, Bunsen; 1859). Und da habe ich, um den Leser nicht zu ermüden, nur einige Namen und Entdeckungen jener Zeiten genannt.

Die Lichttheorie, die Wärmelehre, die Theorie der Gase, die Kenntnisse über Elektrizität und Magnetismus, über Masse und Energie hatten einen Umfang und eine Qualität erreicht, dass sie im Zusammenwirken mit einem allgemeinen Zuwachs an geistiger Reife und Rationalität dafür sorgten, dass Technik und Technologie immer mehr in den Mittelpunkt menschlicher Aktivität gestellt wurden. Die Physik schwelgte in immer neueren Erkenntnissen, in immer mehr Zuwachs an Wissen und der Aussicht auf immer noch mehr praktischer Anwendung.

Die klassische Physik schien schließlich so komplex und komplett zu sein, dass es Ende des 19. Jahrhunderts zu der verbreiteten Auffassung führte, die Grundgesetze der Natur seien vollständig bekannt, die Entwicklung der Physik sei im Wesentlichen abgeschlossen, es seien nur noch kleinere, unbedeutendere quantitative Erweiterungen und Ergänzungen zu erwarten. Und es waren Physiker, die dieser Meinung waren.

James Clerk Maxwell (1831-1879) soll 1871 in seiner Antrittsvorlesung an der Universität Cambridge formuliert haben, schon in wenigen Jahren würden alle fundamentalen physikalischen Konstanten annähernd bestimmt worden sein, und die einzige Beschäftigung, die dann den Wissenschaftlern noch bliebe, würde sein, diese Messungen eine Dezimalstelle zu erweitern.

1875, als sich Max Planck (1858-1947) an der Universität zu München einschrieb, meinte sein Physikprofessor, er möge doch lieber die Naturwissenschaften meiden, denn da gäbe es nichts mehr zu entdecken. Albert Michelson vermutete 1894, künftige Entdeckungen müssten in der sechsten Stelle nach dem Komma gesucht werden. Das heißt, man erwartete einen Zuwachs an Genauigkeit, aber keinen Zuwachs an Erkenntnis, nichts grundlegend Neues mehr. Das stellte sich schon bald als ein leichtfertiges Vorurteil heraus. Das Ende des 19. und der Beginn des 20. Jahrhunderts waren angefüllt mit einer ganzen Folge neuer und fundamentaler Entdeckungen. Da war die Entdeckung der Röntgenstrahlen 1895, der Radioaktivität 1896, des Elektrons 1897, des Planckschen Wirkungsquantum 1900, der speziellen Relativität 1905, der Atomkerne 1911, der allgemeinen Relativität 1915, um nur die wichtigsten physikalischen Entdeckungen und Erkenntnisse in einem Zeitraum von gerade mal 20 Jahren zu nennen. Diese Entdeckungen erfolgten ganz auf der Basis der Paradigmen der klassischen Physik und damit des mechanistischen Determinismus, aber sie führten zu reichlich anderen Betrachtungsweisen, als sie für die klassische Physik typisch waren.

Das in Überwindung von Mythologie und Glaubenslehren entstandene, wissenschaftlich geprägte, rationale Weltbild, das im allgemeinen Verständnis heute als das Klassische angesehen wird, entspricht allerdings unseren sinnlichen Erfahrungen und Beobachtungen, wird durchaus durch Tatsachen und überzeugende Theorien weitestgehend gestützt und wird von der heute lebenden Menschheit in den wichtigsten Grundsätzen noch immer mehrheitlich akzeptiert.

Wir werden aber nun im weiteren Verlauf auf wissenschaftliche Tatsachen und Betrachtungsweisen zu sprechen kommen, die anderen Grundsätzen folgen, als wir sie eben erst für die klassische Wissenschaft dargestellt haben. Zumindest die physikalische Wissenschaft des 20. Jahrhundert war durch drei – Ausgangs des Jahrhunderts kam noch eine vierte hinzu – Theorien geprägt, die dem ‚gesunden Menschenverstand’, den Alltagserfahrungen, dem uns logisch Erscheinenden wenig bis überhaupt nicht entsprechen, die in teilweise erschreckendem Maße sogar eine Rückkehr zu Mystik und Glaubenslehre zu sein scheinen. Wie konnte es geschehen, dass die schlüssige und erfolgreiche klassische Physik ihren Niedergang selbst in Gang setzte und in eine zwar praktisch noch erfolgreichere, aber weitestgehend unverständliche, unanschauliche, manchmal auch fragwürdige Physik mündete?

Doch der Reihe nach.

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