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Weltbilder sind Zeitbilder oder Nichts ist endgültig

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Zu allen Zeiten haben die Menschen Überlegungen angestellt, wie denn die Welt ‚im Großen’, über die individuellen Gegebenheiten weit hinaus, beschaffen sein könnte. Die Vorstellung des Menschen über die Welt als Ganzes, über den Charakter und die Struktur des Universums war zu verschiedenen Zeiten recht verschieden. Es würde uns hier zu weit vom Thema wegführen, wollten wir die komplette historische Entwicklung dieses Weltbildes in aller Ausführlichkeit erörtern. Dazu gibt es im Einzelnen leicht zugängliche Veröffentlichungen.

Und doch ist die historische Herkunft unseres Bildes von der Welt unbedingt interessant und kann deshalb nicht ganz ausgelassen werden. Als Kompromiss will ich daher hier die wichtigsten Etappen des Urspungs in einem ‚Schnelldurchlauf’ wenigstens anreißen.

Zunächst und über eine lange Zeit war das Bild, das sich die Menschheit von der Welt machte, geprägt durch Glaube und Mythologie.

Vor ca. 4000 Jahren betrachteten die Sumerer die Welt als eine flache Scheibe, die mit der Erde identisch war, über die die Götter ein Gewölbe mit den Körpern der Sonne, des Mondes, der Planeten und der Fixsterne errichtet hatten.

Die Welt der Sumerer war geschaffen von den Göttern und wurde von diesen in Gang gehalten und kontrolliert.

Die alten Ägypter hielten ihr Land für das Zentrum der Welt (also lange schon bevor die US-Amerikaner sich in diesem wähnten), in der die Himmelsgöttin Nut täglich aufs Neue den Schöpfungsakt vollbrachte. Darunter agierten der Luftgott Shu und der Erdgott Geb.

Bei den Babyloniern gab es eine noch größere Anzahl von Göttern, deren Wirken sich mit solch irdischen Dingen wie Süß- und Salzwasser und Schlamm verband, aus deren Verbindung neue Göttergeschlechter hervorgingen und Himmel und Erde geschaffen wurden. Dabei ging es recht brutal zu, denn nach der Überlieferung waren die Babylonier der Ansicht, der göttliche König Marduk habe die Urmutter Tiamat kurzerhand getötet und in zwei Teile gespalten, aus denen Himmel und Erde entstanden.

Bei den Chinesen waren die Götter dagegen erstaunlich systematisch vorgehende Pragmatiker, die Naturgesetze festlegten und Baustoffe wie Feuer, Erde, Luft, Wasser und Äther erfanden, aus denen sie das Universum errichteten.

Die griechische Mythologie schließlich sah zu Beginn der Welt vier Urgötter, die sich ganz menschlich paarten, zahlreiche Götter und Göttinnen hervorbrachten und schließlich auch das Menschengeschlecht.

In der Distanz einiger tausend Jahre kann Dieser oder Jener unter uns Heutigen die Bemühungen unserer Urahnen mit naserümpfender Verwunderung als entsetzlich weltfremd mehr ver- als beurteilen. Und doch wäre es falsch, frühe Kulturen ausschließlich als in Mystik und Religion befangen anzusehen.

Es ist ja nicht so, dass sich Babylonier oder Ägypter, Chinesen oder Inder, Griechen oder Römer ausschließlich in mystischen Vorstellungen ergingen. Schon in den frühen Zeiten der Entwicklung der menschlichen Zivilisation verfügten die fortgeschrittenen Völker in vielen Bereichen über umfangreiches Wissen von den Dingen und Vorgängen in der Natur und beherrschten viele verschiedene Methoden, damit umzugehen. Die geistigen Eliten der antiken Völker, vornehmlich Priester, beobachteten auch die Bewegungen der Sonne, des Mondes und der Planeten, entdeckten bestimmte Regelmäßigkeiten und konnten bereits recht exakte astronomische Voraussagen machen.

Bereits vor 4000 Jahren besaßen die Mesopotamier und wenig später die Chinesen recht genaue astronomische Beobachtungsdaten. Von den alten Kulturen Mittelamerikas ist uns inzwischen gut bekannt, über welch reife Kenntnisse der Astronomie sie verfügten.

Die Kenntnisse über die Eigenschaften der Stoffe oder über gewisse Zusammenhänge der Mechanik z.B. waren schon erstaunlich weit entwickelt. In einigen Dingen geben uns Fertigkeiten und Fähigkeiten von damals noch heute Rätsel auf, weil wir – trotz unserer Hochrüstung mit vervielfachtem Wissen und ausgeklügelter Technik – nicht nachzuvollziehen vermögen, was die Damaligen offensichtlich gut beherrschten. Die Pyramiden-Bauten sollen hier nur als Beispiel genannt werden. Fertigteilhäuser können wir ‚mit links’ bauen, aber am Bau einer Pyramide mit den damals vermutlich zur Verfügung stehenden Technologien scheitern wir heute sehr linkisch, wie entsprechende Versuche gezeigt haben.

Noch in unseren Tagen wird jenen frühen Kenntnissen über den Lauf der Gestirne und den Umgang mit Stoffen und Materialien, wie auch den Fertigkeiten im Umgang mit Material und Daten mitunter außerirdische Herkunft angedichtet, so unvorstellbar ist uns noch heute der Besitz konkreter Kenntnisse dieser Qualität zu einer Zeit, da religiöse Vorstellungen und überhaupt alles Mystische das Denken und die Vorstellungen der Menschen dominierten.

Wir müssen jedoch berücksichtigen, wenn in jenen alten Kulturen von den kosmischen Dingen, vom Lauf der Gestirne, vom großen Weltgeschehen die Rede war, dann wurde nicht von ewigen Naturgesetzen gesprochen, die Sternbilder und Planetenumläufe wurden nicht als nach solchen Gesetzen funktionierender Mechanismus verstanden, sondern als Gottesgeschehen, als von übernatürlichen Mächten in Gang gesetztes und kontrolliertes Geschehen. Gemäß dem herrschenden Weltbild führten solche Kenntnisse lange Zeit lediglich zu astrologisch-religiösen Deutungen. Sie wurden meist als Geheimnisse, als von den Göttern den besonders gottesnahen Priestern zum Wohle der Herrschenden großmütig überlassenes Wissen behandelt.

Aber schon vor etwa 2600 Jahren gab es erste Versuche, sich von der Vorstellung zu lösen, die Dinge und Geschehnisse in der Welt würden vollständig durch Götter beherrscht und von deren Launen, Willen und Geneigtheiten abhängig sein. Es tauchten da Fragen recht ketzerischen Charakters auf, obwohl sie damals keineswegs als Ketzertum angesehen wurden.

Wie kommt es, dass die Natur so auffällig vielfältig eingerichtet ist? Warum verändert sie sich? Wer oder was steuert die Veränderung? Woraus besteht die Welt?

Da waren plötzlich Menschen, die nach Ursachen und Zusammenhängen fragten und mit den Antworten die Erscheinungen der Welt auf rationale Weise zu erklären versuchten. Inspiriert und auch „handfest“ beeinflusst durch das Wissen der Eliten der arabischen Welt entstand die Naturphilosophie des antiken Griechenlands, die unser heutiges Wissen stark und nachhaltig beeinflusste. Es war das antike Griechenland mit seinen Philosophen, das jene Grundlagen des Denkens legte, an denen wir uns in der westlichen Welt noch heute prinzipiell orientieren, auch wenn uns das häufig nicht bewusst ist. Und es war ganz wesentlich die islamische Welt, die die griechische Philosophie bewahrte, weiter entwickelte und der westlichen Welt vermittelte. Davon will die westliche Welt heute erst recht nichts mehr wissen.

Mindestens aus der Mathematik ist uns der Name des Thales von Milet (624-548 v. Chr.) bekannt. Obwohl sein Lehrsatz über die Winkel im Halbkreis wahrscheinlich bereits lange vor ihm den Ägyptern gut bekannt war, hat sein Name für uns noch immer einen guten mathematischen Klang. Zu seiner Zeit wurde er von seinen Mitbürgern mit nahezu göttlicher Verehrung bedacht. Das vor allem deshalb, weil er die Sonnenfinsternis des 28. Mai 585 v. Chr. vorausgesagt hatte. Wenn ein Mensch von einem Ereignis, das ohne jeden (damaligen) Zweifel von den Göttern bestimmt wird, im Voraus genaue Kenntnis hat, dann konnte er nur mit den Göttern im engen Bunde sein.

Als Philosoph, der er eigentlich war, stellte Thales aber eine Frage, die auf etwas ganz Ungöttliches zielte: Gibt es in einer sich ständig verändernden Natur etwas Unveränderliches? Ist die Vielfalt der materiellen Erscheinungen auf eine nicht veränderbare Grundsubstanz reduzierbar? Thales gelangte zu dem Schluss, Wasser müsse die Grundlage alles Bestehenden sein. Wasser, oder besser die Feuchtigkeit, war schon immer existent und würde nie vergehen, aus ihm habe sich alles Stoffliche gebildet. Das war schon eine gewaltige, nichtmythologische Denkleistung. Zum vielleicht ersten Mal war hier versucht worden, eine Erklärung für die unüberschaubare Vielfalt und Komplexität der Natur in der Einfachheit ihrer Grundstruktur zu geben. Wenn man so will, war das schon die Geburtsstunde jener Methode, die bis in unsere Tage hinein die Grundmethode wissenschaftlichen Forschens und Denkens geblieben ist. Im Allgemeinen wird zwar Demokrit als Vater des Reduktionismus angesehen, aber Thales hat offenkundig schon den Versuch unternommen, die Vielfalt auf die Einfachheit zu reduzieren. Es zeigt, dass bereits in einer Welt, in der das Denken der Menschen nahezu vollständig von Göttern, Mythen und Dämonen beherrscht war, der Mensch versuchte, die Natur der Natur zu verstehen. Vordem hatte die Frage nach der möglichen Existenz einer Grundsubstanz niemanden interessiert. Auch nach Thales von Milet blieb die Fragestellung lange Zeit exklusive Angelegenheit einer kleinen Anzahl von Gebildeten.

Ein Zeitgenosse und Schüler des Thales, Anaximander (610-546 v. Chr.), bezweifelte, dass Wasser die Grundsubstanz sein könne. Schließlich, so erkannte er pfiffig, würde Wasser durch Feuer vernichtet. Überhaupt wären irdische Substanzen ungeeignet, da sie veränderbar, ja vernichtbar sind. Für Anaximander sollte die Grundsubstanz etwas absolut Unangreifbares sein. Er gab dieser Grundsubstanz eine neuartige Bezeichnung - apeiron -, was sich mit das ‘Unbestimmte’, ‘Unbegrenzte’ übersetzen lässt.

Aus dieser Substanz der Unendlichkeit, die niemals verloren gehen kann, sei die zunächst feuchte Erde entstanden, die durch die sie umgebende feurige Sphäre getrocknet wurde, wobei die Meere übrig blieben. Abgetrennte Teile der feurigen Sphäre bildeten die Gestirne. Das Leben entstand nach Anaximander zunächst im Wasser und siedelte erst später auf das Festland über.

Dies ist die erste komplexe, nichtmythologische Weltvorstellung, die wir zwar heute belächeln mögen, die aber trotzdem als eine Vorstellung mit wissenschaftlichen Charakter angesehen werden kann und die streng genommen von unseren heutigen Vorstellungen auch gar nicht allzu weit entfernt ist.

Anaximenes (545 v. Chr.) erkannte bereits Sonnen- und Mondfinsternisse als physikalische Erscheinungen und vermutete die Existenz einer Vielzahl, auch nicht beobachtbarer Himmelskörper. Ihm war der mysteriöse Grundstoff apeiron zu unbestimmt. Luft dagegen schien ihm gut geeignet, durch Verdichtung oder Verdünnung alles Konkrete hervorbringen zu können, ohne selbst vergänglich zu sein.

Anaxagoras (500 v. Chr.) entwickelte eine stimmige Theorie der Sonnen- und Mondfinsternisse und vermutete die Sonne und die Sterne als glühende Steine von gewaltiger Größe.

Rund einhundert Jahre später sprach Empedokles (490-435 v. Chr.) von den vier Grundsubstanzen Erde, Wasser, Feuer und Luft und den zwei Grundkräften Liebe und Hass. Nach seinen für jene Zeit ungewöhnlichen Vorstellungen würden sich alle Veränderungen in der Natur dadurch vollziehen, dass sich die vier Grundstoffe in unterschiedlichen Verhältnissen miteinander mischen und wieder voneinander trennen. Auch darüber kann man heute mitleidig lächeln, besonders über die Vorstellung, Liebe und Hass könnten das Naturgeschehen verändern. Wenn man allerdings Liebe mit Anziehung und Hass mit Abstoßung übersetzt, sieht die Sache plötzlich viel wissenschaftlicher aus. Jedenfalls propagiert Empedokles bereits einen wesentlichen Grundgedanken unserer heutigen Weltsicht, nämlich, dass verschiedene Substanzen über Kräfte aufeinander einwirken. Dass Empedokles also zwischen Stoff und so etwas wie Kraft unterschied, war ein großer Denkfortschritt, der freilich noch lange ohne Konsequenzen blieb. Empedokles machte sich sogar bereits Gedanken über die Evolution des Lebens. Er gelangte zu der Vorstellung, dass sich das Leben in einem langen Prozess, in dem nur die lebensfähigsten Formen dauerhaft überleben konnten, von niederen zu höheren Formen entwickelte. Darwin kam erst einige hundert Jahre später auf diese Idee.

Leider hatte Empedokles einige Zeit bei den Pythagoreern (denen ich in einem anderen Zusammenhang noch einige Sätze widmen werde) zugebracht. Das reichte ihm offensichtlich, um sich später für göttlich zu halten und entsprechende Verehrung zu beanspruchen. Er soll seinen eigenen Tod so inszeniert haben, dass die Welt es als sein Einswerden mit den Göttern verstehen sollte. Sein Sprung in den Krater des Ätna war wenig göttlich, nur tödlich.

Heraklit von Ephesos (550 - 480 v. Chr.) soll den seinerzeit noch wenig, dafür später um so heftiger gefährlich-ketzerischen Gedanken formuliert haben, die Welt sei von keinem Gott und keinem Menschen erschaffen worden, sondern sei ein “ewig lebendiges Feuer, nach Maßen erglimmend und nach Maßen erlöschend." (Heraklit; Fragmente) Seine Philosophie war ein dynamisches Weltbild, eine ewige Bewegung, das berühmte „panta rhei“ – alles fließt.

Ganz Erstaunliches für seine Zeit verkündete Demokrit aus Abdera (460-371 v. Chr.). Alle Dinge hätten zunächst allein die Eigenschaft des Räumlichen und der Bewegung und setzen sich aus einfachen Raumeinheiten, den unteilbaren Atomen zusammen. Es gäbe überhaupt nur die unendliche Leere und die Atome. Alle Atome bestünden aus demselben Stoff, unterschieden sich aber in Größe, Form und Lage im leeren Raum. Ihre Zusammenballungen führen schließlich zur Entstehung der sichtbaren Dinge und der Welten, in denen nichts dem Zufall überlassen bleibt, sondern sich alles deterministisch aus Vorausgegangenem ableitet. Demokrit wurde vor ca. 2460 Jahren geboren!

Einer der entschiedensten Gegner der atomistischen Ideen war Aristokles, der uns wohl unter seinem Spitznamen Platon (427-347 v. Chr.) besser geläufig ist. Auch er hatte die Pythagoreer kennen gelernt, war aber auch ein Schüler von Sokrates gewesen, bis er in Athen eine Akademie gründete, die 916 Jahre lang existierte, einige Berühmtheit erlangte und erst von Kaiser Justinian als ‚heidnische Einrichtung’ geschlossen wurde.

Für Platon war die Idee das Grundlegende. Alle Dinge erscheinen uns als Abbilder von Ideen. Die Ideen sind absolut perfekt, aber nicht direkt beobachtbar. Man kann sich ihnen jedoch durch die Vernunft nähern. Die Vernunft ist der einzige Weg, die hinter den materiellen Erscheinungen stehenden reinen Ideen als das Wesen der Welt zu entdecken. Die Beobachtung der materiellen Dinge führt lediglich zu verfälschenden Ansichten. Nur die Vernunft kann dem Menschen das Wesen der Welt näher bringen.

Mit meinen Vorstellungen von Vernunft hatte es Platon jedoch nicht so sehr. Er war gegen jede Form von Demokratie und vertrat die Auffassung, es sei völlig in Ordnung, für seine politischen Auffassungen zu lügen, zu stehlen; auch Sklaven zu züchten und zu züchtigen. Versteht sich fast von selbst, dass er extrem rassistisch eingestellt war. Platon war das, was wir heute verachten oder, wenn es uns verkleidet in markige Phrasen, beschönigt durch Täuschungen, penetriert durch bombastische Berieselung und unantastbar durch Macht daherkommt, bejubeln.

Es wäre aber ungerecht und falsch, Platon darauf zu reduzieren. Seine Überlegungen zur Dialektik, zum Verhältnis von Denken und Sein, vom Einzelnen und Allgemeinen, zur Rolle der Erziehung und der Wissenschaft hatten große Bedeutung für die Entwicklung wissenschaftlichen Denkens weit über seine Zeit hinaus.

Wir sehen, die alten Philosophen waren auch schon recht widersprüchliche Gesellen, haben nicht nur manche der späteren Triumphe des Geistes vorweg genommen, sondern auch seine Entartungen. Die Dinge wiederholen sich, manchmal in tragischen Überspitzungen mit Folgen, mitunter als Groteske, die häufig noch schlimmere Folgen hat.

Vor rund 2300 Jahren lebte Aristoteles (384-322 v. Chr.), der wohl universellste und deshalb auch lange unantastbare Gelehrte der Antike. Als Schüler Platons, späterer Erzieher Alexanders des Großen und schließlich Gründer einer philosophischen Schule in Athen wurde Aristoteles einer der einflussreichsten Denker des Altertums, dessen Ideen mehr als 2000 Jahre lang eine weitreichende Dominanz ausübten und bis in unsere Zeit hinein ihre Wirkungen haben. Aristoteles hatte Platons Glauben an die Rolle der Ideen modifiziert. Für ihn steckt die Idee unmittelbar in jedem materiellen Gegenstand. Das Objekt ist kein billiges und verfälschendes Abbild der reinen Idee, sondern es ist die Realisierung der Idee. Jedes Ding hat einen bestimmten Zweck, alles in der Natur ist zielgerichtet entstanden. Nicht der Zufall ließ die Natur so werden, wie sie ist, sondern die Ausrichtung auf ein bestimmtes Ziel hin bestimmte das Werden aller Dinge. Die Macht, eine solche Zweckbestimmung zu verfolgen, konnte nur einem göttlichen Schöpfer obliegen, das Ziel aller Zweckbestimmung ausschließlich der Mensch sein. Aristoteles verwarf die Ideen Demokrits und berief sich auf die vier Grundstoffe Feuer, Wasser, Luft und Erde sowie auf eine mysteriöse, vielleicht als Weltäther zu definierende Substanz, quinta essentia – fünfter Stoff. Dieser feiert, wie noch erläutert werden wird, in unseren Zeiten fröhliche Wiederkehr.

Zu Gute halten kann man Aristoteles und seinen Gefolgsleuten, dass sie sich nicht auf das reine Denken, wie Platon, beschränkten, sondern bereits recht umfangreiche Beobachtungen der Natur vornahmen. Aristoteles soll die größte botanische und zoologische Sammlung seiner Zeit geschaffen haben. Es gelang ihm allerdings nicht, die Beobachtungen zu verallgemeinern und im Sinne von Naturgesetzen zu interpretieren. Stattdessen formulierte er z.B. ein Bewegungsgesetz, nach dem die Fallgeschwindigkeit eines Gegenstandes proportional von seinem Gewicht abhängt. Erst rund 2000 Jahre später bewies Galilei durch einfache Experimente, dass ein solches Gesetz nicht existiert.

Aristoteles überlieferte uns zahlreiche Kenntnisse der Lehren der Naturphilosophen früherer Zeiten. Sein Zweck der Beschäftigung mit diesen war zwar die kritische Auseinandersetzung, aber so verdanken wir ihm doch viele Kenntnisse der früheren Lehren. Seine eigenen Lehren verkamen dank seiner Stellung unter den geistigen Eliten zu unumstößlichen Dogmen, die noch lange nach ihm einen hemmenden Einfluss auf die Entwicklung des Weltbildes der Menschheit hatten. Das Aristotelische Weltbild sah die Erde als Mittelpunkt mehrerer konzentrischer und sich drehender Sphären, in denen die verschiedenen Himmelskörper angesiedelt waren.

Zwar gelangte Aristarchos von Samos (310 - 230 v. Chr.) unmittelbar nach Aristoteles zu der Auffassung, dass sich die Erde einerseits um ihre Achse und alle Planeten um die Sonne drehen, aber dieses erstmals nicht geozentrische Weltbild wurde erbarmungslos bekämpft und als gottlos aus dem Denken verbannt. Es passte nicht in das Paradigma der Zeit und wurde deshalb geistig vernichtet. Vielmehr etablierte sich über lange Zeit das geozentrische Weltbild, wohl auch deshalb, weil es eine Vielzahl durchaus exakter mathematischer Berechnungen enthielt, mit denen die Planetenbewegungen eben auch recht exakt und anschaulich-einleuchtend erklärt wurden.

Claudius Ptolemäus (100-160) hatte mit der Ausarbeitung der Epizyklentheorie dem Geozentrismus starken Rückhalt verliehen. (Auch dazu später etwas mehr)


Abb.: I/01 Weltbild des Ptolemäus; Erde im Mittelpunkt des Universums

Heute neigen wir mitunter zu der Ansicht, die Gelehrten des Altertums hätten der Vorstellung von der Erde als Scheibe lange, allzu lange nachgehangen. Das ist eine ziemliche Oberflächlichkeit. Die alten Griechen jedenfalls waren sich der Kugelgestalt der Erde völlig sicher. Dieses Wissen ermöglichte es zum Beispiel dem pfiffigen Eratosthenes, gegen 276 v. Chr. den Erdumfang, den Radius der Erde, die Entfernung Erde-Mond, die Größe der Sonne und ihre Distanz zur Erde zwar noch etwas ungenau, aber immerhin in der richtigen Größenordnung zu berechnen.

Aristoteles Lehren wurden allerdings bald zu ‚unumstößlichen Wahrheiten’, denn sie waren eine gute philosophische Basis für Religion. Für lange Zeit rückten religiöse und metaphysische Fragen in den Mittelpunkt, das Interesse an naturwissenschaftlichen Dingen geriet immer mehr in den Hintergrund. Daran hatte die um sich greifende Macht der Kirche ihren Anteil. Sie war es vor allem, die nicht nur ihre eigenen, sondern auch die ihre Lehren stützende Behauptungen und Vermutungen zu Dogmen erhob und sogar dazu überging, alle davon abweichende Auffassungen als gegen Religion und Glauben gerichtet vehement und viel zu oft auch blutig zu verfolgen.

Es ist also eine schon recht alte Erfahrung der Menschheit, dass Dogmen jedes schöpferische Denken lähmen und dem Fortschritt im Wege stehen. Leider gelang es bis in unsere Tage hinein nicht, den bitteren Erfahrungen zu entsprechen. Dogmen haben noch lange viel Schaden angerichtet und tun es immer noch, auch wenn es sich nicht immer um religiöse Dogmen handelt.

Das geozentrische Weltbild galt lange uneingeschränkt. Der Mensch war das Abbild Gottes, die Krone und das Ziel seiner Schöpfung und daher war es nur logisch, recht und wissenschaftlich, dass er und die Erde als Mittelpunkt des Universums galten. Eine Wende deutete sich erst und noch zaghaft etwa im 13. Jahrhunderts u. Ztr. an. Thomas von Aquin (1225-1274) vertrat die Auffassung, die Philosophie müsse keineswegs der Theologie untergeordnet sein, sondern könne sich selbständig entwickeln und die Wahrheit nicht im Glauben, sondern in Beobachtung und Untersuchung suchen.

Das ganz und gar unheilige Wirken der Kirche bezüglich der Entwicklung eines wissenschaftlichen Weltbildes ist bekannt, aber immerhin war es der Kardinal Nikolaus von Kues (1401-1464), der die Vermutung aussprach, das Universum sei eine Kugel, deren Mittelpunkt überall und deren Umkreis nirgendwo existiere. Damit verdrängte er nun wieder die Erde aus dem Mittelpunkt des kosmischen Geschehens. Der Verstand müsse die Einheit der Welt in Beziehungen und in der Harmonie der Dinge suchen.

Vielleicht kommt es dem Leser merkwürdig vor, sich das Universum als Kugel zu denken, deren Mittelpunkt überall und deren Umkreis – Rand – nirgendwo sei. Aber es ist dies nichts anderes, als die später und lange Zeit gültige, teils noch heute gepflegte Auffassung von der Unendlichkeit des Universums. In einem Raum unendlicher Größe kann jeder beliebige Punkt als Mittelpunkt gedacht werden und an einen Rand des Raumes kann man nie gelangen, weil von jedem beliebigen Punkt in jede beliebige Richtung jeweils unendliche Punkte gedacht werden müssen. Ein unendliches Universum ist daher tatsächlich ein Raum, dessen Mittelpunkt überall und dessen Umkreis nirgendwo existiert.

Die Ansichten, die Aquin und Kues vertraten, waren vorsichtige Anfänge, sich aus den Zwängen der allmächtigen Theologie zu lösen. Wie aber konnte es geschehen, so mögen wir uns heute fragen, dass die mythologischen Vorstellungen das Weltbild der Menschen so lange Zeit nahezu unbedrängt dominierten, obwohl doch im alten Griechenland recht zukunftsträchtige und vielversprechende Ansätze existierten? Warum hielt sich die Vorstellung von einer sich im Mittelpunkt der Welt befindlichen Erde so hartnäckig? Warum konnte die atomistische Idee des Demokrit, die doch einfach und logisch war, so lange und so gründlich missachtet werden?

Natürlich spielten dabei die Lehren und die Macht der Kirchen eine wesentliche Rolle. Die selbsternannten Vertreter eines Schöpfers aller Dinge, welcher Name diesem auch immer gegeben worden war, akzeptierten selbstverständlich alle Theorien und Modelle, die einer Schöpfung und ihrem großen Lenker Platz ließen. Ein Denkmodell z.B. bei dem nur einige wenige Grundformen unteilbarer Bausteine nötig sind, die sich mit Hilfe bestimmter Mechanismen auf ganz verschiedene Art und Weise verbinden oder wieder lösen können und so selbst die beobachtete Vielfalt der Stoffe und Vorgänge herstellen, passte schlecht in das von den religiösen Mythologien vertretene Bild. Wenn man aber den Apfel immer und immer wieder teilen kann, ohne je auf ein Unteilbares zu stoßen, dann müssen alle Eigenschaften des Apfels auch in allen seinen Teilen repräsentiert sein. Es ist dann am besten durch Schöpfung erklärbar, warum eine so große Vielfalt verschiedener Stoffe existent ist.

Auf das Modell des geteilten Apfels und auf die damit verbundenen Vorstellungen der Atomisten werde ich gleich noch eingehen. Was (fast) allen mythologischen Vorstellungen gemeinsam war, ist die Vorstellung, dass alles irgendwann begonnen hatte zu existieren. Die Ähnlichkeit und Verwandtschaft der Götter und Menschen, die Vorstellung, dass die Götter zwar ‚Übermenschen’ seien, aber die Menschen durch die Götter als deren Abbild geschaffen wurden, war für die meisten mythologischen Vorstellungen typisch. Daher nimmt es auch nicht wunder, dass das gesamte mythologisch bestimmte Weltbild die Erde und den Menschen als Mittelpunkt des Universums ansah. Wenn der Mensch durch die Götter geschaffen wurde und wenn er nicht nur das Geschöpf der Götter, sondern auch das eigentliche Ziel göttlichen Schaffens war, dann werden jene diesen ja nicht irgendwo in einer unbedeutenden Region am Rande des Universums, sondern selbstverständlich absichtsvoll in das Zentrum des ganzen Geschehens gesetzt haben. Rund 2000 Jahre beherrschte dieses Weltbild die Vorstellungen der abendländischen Kulturvölker.

Es gibt allerdings auch eine zu berücksichtigende objektive historische Ursache für die Hartnäckigkeit des Mythologischen in den Vorstellungen. Die berühmte Frage Demokrits, ob man einen Apfel unendlich teilen kann oder nicht, war letztlich nicht durch Philosophie und nicht durch Glauben entscheidbar. Dazu musste die Materie direkt befragt werden. Man musste gewissermaßen den Apfel tatsächlich teilen und so fragen können: Woraus bestehst Du, was ist in Deinem tiefsten Innern, ist da auch nur Apfel, oder ist da etwas ganz anderes? Solche Frage so stellen zu können, dass man eine verbindliche Antwort erwarten konnte, das bedurfte geeigneter Methoden und Techniken. Weder zu Zeiten Demokrits noch lange Zeit nach ihm hatte man die Möglichkeiten dazu.

Auch die Frage der Stellung der Erde im Universum war mit den zur Verfügung stehenden Beobachtungsmitteln nur schwer anders zu entscheiden. Und mit dem bloßen Auge konnte man ferne Galaxien wirklich nicht identifizieren. Da war es einfacher und einleuchtender, Sterne als Lichter anzusehen, die göttliche Großzügigkeit zur Erbauung der Menschen installiert hatte. So bewirkte eine Allianz von subjektivem Machtkalkül und objektivem Unvermögen auf dem Feld der Unwissenheit und Unsicherheit, aber auch der Leichtgläubigkeit und Unterwürfigkeit eine Jahrhunderte andauernde Befangenheit in Mythologie und Mystik.

Darüber sollten wir nicht den Kopf schütteln. Auch wir Heutigen sind dem nicht abgeneigt. Und wir können nicht sicher sein, was spätere Generationen von unseren heutigen Überzeugungen und Wahrheiten in späteren Zeiten als mythologische Verirrung und primitiven Glauben entlarven werden.

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