Читать книгу Wegen Wersai - Dagmar Schifferli - Страница 10
ОглавлениеICH MUSS KAPIEREN, dass Tantelotte auch einmal freihaben will. Weil sie nicht arbeitet, verstand ich nicht sofort, was sie mit freihaben meinte. Inzwischen schon. Sie will sich nicht ständig um mich kümmern müssen und auch einmal einfach wegfahren.
An diesem Wochenende ist nicht nur Tantelotte weg, auch mein Vater. Er musste gerade auf eine Geschäftsreise. Weil Mama nie über Nacht mit mir alleine in der Wohnung sein will, fahren wir zu Tante Lucille. Sie ist meine Patin und Mamas Schwester. Also, nicht wir fahren zu ihr, sondern sie holt uns ab. Ihr Auto hat einen schönen Namen: Lancia Aurelia. Vielleicht werde ich mein Kind auch einmal Aurelia nennen. Oder Binaca. Blöd nur, dass das auf jeder Zahnpastatube steht. Lancia hingegen gefällt meinem Vater, weil Ferrari von Lancia die Rennautos übernehmen konnte. Seither besitzt Ferrari die besten Boliden der Welt, triumphiert Papa.
Er selbst fährt eben auch für sein Leben gern Auto, sagt meine Mutter. Aufs Pedal drücken und weg. Als der Sankt-Bernhard-Tunnel eröffnet wurde, wollte er unbedingt zu den Ersten gehören. Mitfahren aber durfte niemand von uns. Zu gefährlich, meinte er. Fast sechs Kilometer durch den Berg – stellt euch vor, was da alles geschehen könnte. Und wenn man am anderen Ende hinauskommt, ist man in Italien. Später erzählte er, dass am Eröffnungstag über tausendzweihundert Autos durch den Tunnel gefahren seien. Als Allererstes jedoch nicht er, sondern eine Ambulanz mit einem nierenkranken Mädchen, das dringend nach Bern in das Spital gebracht werden musste. Die verkürzte Strecke habe dem Kind bestimmt das Leben gerettet. Tantelotte hat kurz darauf Frau Kradolfer, die in der Wohnung nebenan wohnt, auch von einer Autofahrt durch einen langen Tunnel nach Italien berichtet. Ich hörte es, als ich im Treppenhaus auf Susi wartete.
Wenn wir zu Tante Lucille fahren, darf ich immer vorne sitzen, damit Mama auf dem hinteren Sitz bei einem Unfall besser geschützt ist. Obwohl ein Auto ja auch von hinten gerammt werden könnte. Das behalte ich aber lieber für mich.
Es käme Tante Lucille nie in den Sinn, ihre Kinder bei einer Pflegemutter aufwachsen zu lassen, sagt sie, worauf meine Mutter die Stirn runzelt. Lucilles Mann heißt Ernst und ist fast nie zu Hause. Früher hat er in einer Art Schuppen Liegestühle hergestellt, später ist daraus eine große Fabrik mit vielen Angestellten entstanden. Trotzdem wird er von meinem Vater immer nur Röhrlibieger genannt. Keinen einzigen Schweizer habe er angestellt, alles nur Italiener. So einer wie Ernst gehöre einfach nicht in unsere Familie.
Einen Hund gibt es auch: Fips. Er sieht aus wie Struppi, Tims Hund, und gleicht den Hündchen, die Tantelotte auf die Kinderpullover stickt. Tim im Lande der Sowjets gehört zu Tantelottes Lieblingsbüchern. Weil darin endlich mal jemand sagt, wie es in der Sowjetunion zu und her geht. Nichts funktioniert dort nämlich, rein gar nichts. Sie hat das Buch auf Französisch gekauft und Tommy geschenkt. Tim heißt darin Tintin. Und Katharina würde Catherine heißen – klingt hell und luftig, finde ich. Aber eine Catherine kommt im Buch nirgends vor.
Wenn wir bei Tante Lucille ankommen, spielt Stefan meistens mit seiner Modelleisenbahn, deren Gleise über den weiten Boden des Bastelraumes im Keller verlegt sind. Sonja und Priska sind mit Rasenmähen und Schuheputzen beschäftigt. Das müssen sie jeden Samstag tun, abwechslungsweise. Obwohl sie sich eine Haushalthilfe leisten könnten, sagt meine Mutter.
»Von den Reichen lernt man sparen.«
»Wieso sparen sie denn?«
»Um zu verbergen, dass sie Geld haben. Das war schon immer so. Man hat es, zeigt es jedoch nicht.«
»Wir sparen ja auch. Sind wir denn auch reich?«
»Wir wären es vielleicht, müssten wir nicht so viel Geld für Tante Lotte ausgeben. Und für meine Krankheit.«
Mama sitzt in Tante Lucilles Wohnzimmer, die beiden Krücken gegen das schwarze Ledersofa gelehnt. Irgendwann fallen sie immer um, von selbst oder weil jemand darüberstolperte. Wenn die kleine Glocke das Mittagessen ankündigt, dürfen Sonja und Priska mit Putzen und Rasenmähen aufhören, egal, ob sie damit fertig geworden sind oder nicht. Am nächsten Samstag macht dann die andere weiter.
Sonja geht schon aufs Gymnasium. Als ich noch im Kindergarten war, hatte sie mir verboten, Stefan zu verraten, dass es das Christkind gar nicht gibt. Ich fand es blöd, weil ich damals noch selbst daran geglaubt hatte. Einmal hatte Stefan einen Anfall. Gelber Speichel rann aus seinem Mund, von seinen Augen sah man nur noch das Weiße. Plötzlich lächelte Sonja, rieb sich an der Nase, dann sagte sie so laut, dass es alle hören konnten: »Wenn Stefan jetzt stirbt, haben wir morgen alle schulfrei.« Tante Lucille schrie auf, Mama schlug sich die Hand vor den Mund.
Nach dem Essen rennen wir schnell hinauf in den oberen Stock, wo jedes Kind ein eigenes Zimmer hat. Das ist eben in einer Villa so, sagt Sonja. Es ist noch nicht lange her, da schloss sie die Tür hinter sich zu, um mich an ihrer Brust saugen zu lassen. Es kam keine Milch, schön war es trotzdem.
Mama fährt gern zu Tante Lucille. Im Salon steht ein glänzender schwarzer Flügel, den Deckel immer hochgeklappt. Wenn Mama vorher ihre Tabletten genommen hat, kann sie fast eine halbe Stunde lang Klavier spielen. Viel lieber als Fremdsprachensekretärin wäre Tante Lucille Opernsängerin geworden. Manche Lieder singt sie auf Französisch, weil sie in Clairmont war und keine schlechten Erinnerungen daran hat, erzählte Mama. Außer an den Karzer.
»Karzer?«
»Zur Strafe halt.«
»Also, was ist das jetzt, Mama?«
»Wenn sie nicht gehorcht hatten, wurden die Mädchen eingesperrt. In einen Keller, Karzer hat man das genannt.«
Ich kann mir nicht vorstellen, dass meine Patin einmal ein Mädchen gewesen sein soll, und schon gar nicht, dass man sie in ein Kellerloch gesperrt hat.
Tante Lucilles Stimme gefällt mir, Sonja und Priska aber können ihre Stimmübungen schon lange nicht mehr ausstehen. Tonleiter rauf, Tonleiter runter.
»Ha, ha, ha, haaaa – hi, hi, hi, hiiii – ho, ho, ho, hoooo –«, äfft Priska ihre Mutter nach.
»Hör auf«, schreit Sonja und knallt Priska eine. Jetzt wird die kleine Schwester erst richtig laut. Ich halte zu Priska, Sonja verschwindet in ihrem Zimmer und schlägt die Tür hinter sich zu.
»Ruhe da oben!«, ruft Tante Lucille herauf. »Kann man denn keinen Augenblick …«
Ich halte mir die Ohren zu, weil es mir plötzlich vorkommt wie bei Tantelotte.
»Immer nur lächeln und immer vergnügt«, klingt es von unten herauf.
Mama lächelt nicht immer, in letzter Zeit sogar immer seltener. Am ernstesten hat sie ausgesehen, als sie mich fragte, ob ich auch finde, dass Papa und Tantelotte nach einem Wochenende, das wir bei Tante Lucille verbracht haben, immer so ähnliche Geschichten erzählen. Sie hat dabei das Gesicht verzogen, als hätte sie Schmerzen. Bis dahin war mir das noch nie aufgefallen. Danach schon: Segelschiffe, die direkt vor dem Hotelfenster durchziehen, ein riesiges Frühstücksbuffet, sogar mit Lachs.
Stefan quengelt und nervt, bis Priska und ich seine Modelleisenbahn anschauen kommen. Wir müssen im völlig abgedunkelten Bastelraum warten, während er mit irgendetwas herummacht, sich dabei anstößt und flucht, dann endlich das Licht andreht. Da steht er: mit Bähnlermütze, Fahrkartenblock, Knipszange und Schaffnerkelle. Zwischen seinen Lippen eine rote Trillerpfeife.
Pausbacken, pusten, ein schriller Ton, los geht’s.
Priska und ich sitzen im Speisewagen, der direkt an der Krokodil-Lok hängt. Wir fahren weit, sehr weit, bis nach Afrika.
»Gibt es hier eigentlich auch einen Schlafwagen?«
»Erst an Weihnachten«, erklärt der Lokführer, mit der gestreckten Hand am Mützenrand.
Der Zug fährt durch zwei Tunnel, über eine Brücke, durch eine Baumallee. Wenn er anhält, ziehen wir die Fensterscheiben herunter und winken hinaus. Der Schaffner streckt die Kelle zum Himmel, pfeift und steigt schnell wieder zu.
Plötzlich ruft jemand nach mir.
»Komm schnell herauf, Kathi, deine Mama will nach Hause!«
»Wir sind doch noch gar nicht in Afrika angekommen! Ich möchte noch länger bleiben!«
»Nein, das geht heute nicht«, ruft Tante Lucille zurück, »beeil dich. Deine Mama fühlt sich elend, ihr ist schwindlig, und jetzt sieht sie auch noch alles doppelt.«
»Soll ich bei dir bleiben?«, fragt Tante Lucille, als sie später meine Mutter die Treppe zu unserer Wohnung hinauf begleitet.
»Danke, lieb von dir. Lass nur. Ich kenne das schon.«
Kurz nachdem Tante Lucille in ihrem Lancia Aurelia zurückgefahren ist, muss Mama sich übergeben. Ich greife nach der leeren Früchteschale auf dem Esstisch. Mama würgt, mir wird selbst übel, doch bei mir kommt nichts.
»Kathi, bitte ruf den Krankenwagen.«
Mama hakt sich bei mir unter, die paar Schritte bis zum Sessel schafft sie kaum.
Der Mann am Telefon erkundigt sich, was passiert ist, wo wir wohnen und wer ich bin. Ich weiß alles, ohne Mama fragen zu müssen. Das Krankenauto sei in einer Viertelstunde da, sagt er, ich brauche keine Angst zu haben. Vielleicht könne ich ja bei einer Nachbarin klingeln. Während ich telefoniere, sehe ich einen nassen Fleck auf dem Teppich. Ich schäme mich, dass ich eine Mama habe, die in die Hose pinkelt.
Mama fährt ohne mich ins Krankenhaus. Sie hat den kleinen Lederkoffer dabei, der für einen Notfall immer bereitsteht. Und das ist ein Notfall. Ich soll auf Papa warten, der bestimmt bald nach Hause komme. Jetzt wäre ich sogar froh um Tantelotte. Niemand da, der sagt, es wird schon alles wieder gut, Mama wird nicht sterben. Der Fernseher. Jetzt könnte ich ihn doch anstellen, ohne fragen zu müssen. Ich hole mir eine Handvoll Erdnüsse aus dem Vorratsschrank, setze mich damit in Papas Fernsehsessel. Der Fernseher hier und der bei Tantelotte sind Zwillinge, dunkelbraune Möbel auf dünnen Beinchen. Mit den Knöpfen direkt unterhalb des Bildschirms kann man die Sender und die Lautstärke einstellen. Vielleicht wurden die beiden Geräte gleichzeitig gekauft, weil dann das zweite billiger war. Alle sagen immer, dass wir sparen müssen. Aber zwei für eins, wie manchmal Salatköpfe verkauft werden, gibt es bei den Fernsehern bestimmt nicht.
Gerade eben fährt einer, der Jim Clark heißt, als Erster durchs Ziel. Er winkt wie der Papst. Jemand, den man im Bild nicht sehen kann, schreit, dass der Rennfahrer mit diesem Sieg schon jetzt Weltmeister geworden ist. Einen Ferrarifahrer erwähnt niemand, sodass ich Papa besser nichts davon erzähle.
Morgen schreibe ich Tommy, dass Mama im Spital ist. Bei der Adresse muss man jetzt vor der Stadt vier Zahlen setzen. Wie die genannt werden, haben wir in der Schule geübt: Postleitzahl. Da, wo ich mit Tantelotte wohne, ist es 8048, bei Mama und Papa 8038, bei Tommy 1700.