Читать книгу Wegen Wersai - Dagmar Schifferli - Страница 9
ОглавлениеALLE, WIRKLICH ALLE glaubten, dass Gelsenkirchen niemals getroffen würde, hat Tantelottes Papa ihr immer wieder erzählt. Und nun erzählt sie es mir ständig. Auch jetzt. Sie seufzt und schüttelt den Kopf, weil sie sich daran erinnert, als wäre es gerade gestern gewesen. »Und das ausgerechnet an meinem Geburtstag«, sagt sie wie jedes Mal. »Britische Bomber – mitten in der Nacht, obwohl strikte Verdunkelung herrschte und sich alle daran hielten. Unser lieber Papi war zu der Zeit schon nicht mehr Direktor. Er wollte Verantwortung übernehmen und hatte sich freiwillig gemeldet. Viele Männer haben sich damals freiwillig gemeldet. Mutti und ich waren mächtig stolz auf ihn, als er sich von uns verabschiedete. Schneidig hat er ausgesehen in seiner Uniform, schwarz und schick von Kopf bis Fuß.«
Tantelotte schweigt eine Weile, schaut an mir vorbei aus dem Fenster. Gleich wird sie sich mit einem Ruck aufrecht hinsetzen, und ich weiß schon, was kommt: »In der Nähe unseres Hauses gab es Hunderte von Frauen und Mädchen. Aus Ungarn, munkelte man.«
»Was heißt munkelteman?«, hatte ich sie beim ersten Mal gefragt.
»Man munkelte es eben nur, du weißt nicht, was das heißt? Wo gibt’s denn so was!«
»Nein, sonst hätte ich ja nicht gefragt.«
»Werd nicht frech.«
»Ich habe doch nur gefragt.«
»In diesem Ton?«
»Tantelotte, bitte, was heißt munkelteman?«
»So gehört es sich. Man munkelte, also, wie soll ich das erklären? Munkeln, munkeln …«
Sie kratzte sich am Kopf.
»Also, munkeln. So was wie heimlich etwas sagen, damit es nicht alle hören. Meistens mit der Hand vor dem Mund. Wir wussten ja nichts Genaues, geschweige denn, ob sie tatsächlich im Hydrierwerk arbeiteten.«
Wieder so ein Wort, das ich nicht verstand und mich nicht zu fragen getraute.
»In einer Art Zeltlager sollen sie gewohnt haben. Sehen konnten wir sie nie, das Gelände war eingezäunt und abgeriegelt. Wie gesagt, wir wussten die ganze Zeit über rein gar nichts. Fünfundvierzig war dann alles zerstört. Die ganze Gelsenkirchener Industrie komplett vernichtet. Armes, armes Deutschland. Da war ich gerade zwanzig.«
Bis hierher konnte ich alles auswendig. Doch diesmal reibt sie die Hände aneinander und sagt mit ungewohnt tiefer Stimme: »Wir hatten den Krieg nicht gewollt, aber diese Demütigungen die ganze Zeit … Wegen Wersai, Wersai neunzehnneunzehn. Neununddreißig war es dann so weit. Nur damit du in der Schule nichts Falsches lernst. Bei deiner Lehrerin weiß man nie.«
Wersai – was das nur wieder ist. Und sie soll bloß aufhören, so über Frau Simonis zu reden.