Читать книгу Wegen Wersai - Dagmar Schifferli - Страница 3

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SCHON WIEDER HAT sie mich ausgesperrt. Nur weil sie nicht will, dass ich plötzlich im Flur stehe und sie sich so grausam erschreckt.

Ich drücke kräftiger auf die Klingel. Sie telefoniert weiter. Also nochmals: Dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz. SOS. Das kann sie am allerwenigsten ausstehen.

»Tschüss, schön, hast du angerufen«, höre ich sie flüstern. Dann ihre harten Schritte und ihren harschen Ton: »Hetz mich nicht, ich komme ja gleich!«

Jetzt steht sie vor mir: Tantelotte, groß und breit, blonde Lockenwicklerhaare, die rot-weiß karierte Schürze umgebunden, auf dem Brustlatz Trautes Heim – Glück allein aufgestickt, damit ich ein für alle Mal weiß, wie Kreuzstiche gehen. Ihr Gesicht ist gerötet wie bei einem Sonnenbrand. Aber wahrscheinlich kommt es vom Telefonieren.

Auf meinem Teller schwabbeln graue Würmer mit einem zottigen Rücken. Die meisten sind so lang wie meine Finger. Die Würmer schwimmen in einem trüben Blutbrei. Ich will wegschauen, geht nicht.

»Jetzt stell dich bloß nicht an. Den ganzen Morgen war ich in der Küche, habe alles fein säuberlich in schmale Streifen geschnitten, nicht schon geschnetzelt gekauft, wie andere das machen.«

»Tantelotte, ich kann diese Würmer …«

»Das sind keine Würmer, das sind Kutteln. Kutteln an einer feinen Tomatensauce.«

»Ich kann das nicht essen, ich würde schon, wenn ich könnte.«

»Mein Gott, was wären wir froh gewesen, hätten wir überhaupt etwas zu essen gehabt.«

»Ich weiß, Tantelotte, der Krieg.«

Sie schöpft sich nach, während ich die Gabel noch nicht einmal angefasst habe. Sie wird mich zwingen, alles aufzuessen. Jetzt oder später.

Wenigstens gibt es Brot auf dem Tisch. Und in der hintersten Ecke meines Bettumbaus versteckt, noch einen Rest Schokolade. Die mit den ganzen Haselnüssen. Meine Lieblingsschokolade. Das sieht man dir an, Katharina, hat der Schwimmlehrer gestern gesagt. Den Kopfsprung mussten wir üben. Bauch einziehen, einziehen, nicht rausstrecken! Die Hände über dem Kopf gefaltet. Ich getraute mich nicht, blieb mit steifen Beinen vornübergebeugt am Beckenrand stehen, zögerte, stand und stand und rührte mich nicht, bis mich der Lehrer von hinten ins Bassin schubste. Ein Ränzler, voll auf dem Bauch gelandet. Ausgelacht von allen, sogar von Monika.

»Darf ich jetzt vom Tisch?«

»Meinetwegen, am Abend stelle ich dir den Teller einfach wieder hin.«

Ich hab’s ja gewusst, trotzdem wird sie mich nicht dazu bringen, die Würmer zu essen. Es ist mir egal, wenn sie während des Krieges fast verhungert wäre. Und auch noch hungern musste, als der Krieg längst vorbei war. Wenn das überhaupt stimmt.

»Nächstes Mal sag ich’s deinen Eltern, wie störrisch du bist«, ruft sie mir hinterher. Es macht ihr Freude, mir Angst einzujagen. Dann: »Der Staubsauger steht schon in deinem Zimmer. Alles schön sauber machen, picobello, zum Schluss die Fransen richten und mit der Stärkedose besprühen. Hast du gehört, Katharina?«

»Jahaah!«

Den anderen in meiner Klasse stellt die Mutter immer alles bereit. Kocht, räumt auf, spült das Geschirr. Tantelotte ist eben nur fast eine Mutter. Eine gemietete, sagt Papa. Besser, du wohnst bei ihr als in einem Heim, zudem ist es günstiger. Wegen Mama haben wir schon Auslagen genug.

Ich drehe den Staubsauger auf das Maximum. Es wird so laut, dass ich Tantelotte nicht mehr hören kann. Lustig, wie der Elefantenrüssel alles einsaugt: die herumliegenden Heuhalme und Haferflocken, kleine Glasperlen, die mir beim Auffädeln hinuntergefallen sind, Holzkringel vom Anspitzer, ein glitzerndes Haargummi. Bestimmt würde er auch die Kuttelwürmer verschlingen. Muss ich mir merken.

Als hätte es jemand befohlen, bewegt sich das Saugrohr plötzlich zum Meerschweinchenkäfig hinüber, hebt ab und zielt geradewegs auf Pico. Ha, dich haben wir! Er strampelt mit den Beinen und quiekt wie am Spieß. Flüssiger Kot rinnt aus seinem Hintern. Selbst schuld, hast du dich nicht rechtzeitig versteckt.

Soll ich den Motor ausschalten?

Nicht sofort.

Eins – zwei – drei – vier – viereinhalb – vierdreiviertel – fünf.

Pico plumpst auf den Boden und bleibt platt liegen. Jetzt, da es ruhig ist, lugt Pepsi hervor, trippelt herbei, stupst Pico mit der Schnauze an. Es vergeht ein Weilchen, bis er seinen Kopf hebt. Schließlich kommt er doch auf die Beine und schleppt sich hinter Pepsi in die Kuschelröhre.

Pico ist das größere meiner beiden Meerschweinchen. Ich wollte von Anfang an zwei haben, weil Meerschweinchen immer zu zweit sein müssen, mindestens. Kinder eigentlich auch. Tommy ist aber im Internat.

Ich bin erst zwölf. Wenn ich groß bin, will ich keine Teppiche in meiner Wohnung. Keinen einzigen. Auch keine Fußmatte vor der Tür. Vielleicht werde ich gar nie groß? Auf dem Friedhof gibt es viele Kindergräber. Zu Tode geschimpfte Mädchen und Jungen. Weil sie nicht schön aufgegessen haben. Weil ihre Zimmer nicht picobello aufgeräumt waren. Weil sie am Kiosk um ein Eis bettelten, keins bekamen und dann erst recht eins wollten.

Wegen Wersai

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