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1. Kapitel – Neue Aufgaben
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Die Rückkehr des ficha'thar
Der aufziehende Morgen war kühl und neblig. Feinste Wassertröpfchen hatten sich auf Cridans Schuppenkleid niedergeschlagen, als er erwachte.
Einen Moment lang blieb er reglos liegen und starrte in die dunstigen Schwaden, spürte den kalten Sand der Dünen unter sich und lauschte dem Echo seiner eigenen Gefühle aus der vergangenen Nacht.
Für einen Moment gab er sich der trügerischen Hoffnung hin, alles sei bloß ein verwirrender Traum gewesen – doch er wusste nur zu gut, dass es nicht so war.
Ratiko'khar, sein Freund und König, dem er bedingungslos gefolgt war, der Mann, für den er sein Leben riskiert und beinahe verloren hatte, hatte mit wenigen Worten Cridans gesamte Welt auf den Kopf gestellt.
Und nun stand er vor dem Nichts.
Cridan setzte sich auf und ballte in hilflosem Zorn die Fäuste.
Er war zurück auf Gantuigh: in seiner Heimat, nach der er sich mehr als ein Jahrzehnt vergeblich gesehnt hatte und zu der er endlich hatte zurückkehren können. Aber irgendwie hatte das plötzlich seine Bedeutung verloren.
Alles hatte mit einem Mal seine Bedeutung verloren.
Oder nein – wenn er genauer darüber nachdachte, war es noch viel schlimmer. Es war nicht die Welt um ihn herum, die ihre Bedeutung verloren hatte: Er selbst hatte seine Bedeutung verloren.
Cridan rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht und versuchte angestrengt, den bitteren Beigeschmack, den diese Gedanken in ihm auslösten, zu ignorieren. Es gelang ihm nicht.
Sein halbes Leben lang war er der ficha'thar seines Königs gewesen – der einflussreichste Mann neben dem Herrscher über die T'han T'hau selbst.
T'han T'hau – der Name löste eine ganze Lawine an Erinnerungen aus. Die Kriegerkaste, die einst geschaffen worden war, um das Inselvolk von Gantuigh vor Übergriffen anderer Länder zu schützen, war über die Jahrhunderte zu einem Volk herangewachsen, das für seine Aufgabe gewappnet war. Von Geburt an waren die T'han T'hau für den Kampf gerüstet: ausgestattet mit einem kräftigen Körperbau und einem harten Schuppenkleid sowie Zähnen, die ebenso scharf waren wie ihre Sinne und Reflexe, fiel ihnen der Umgang mit jeglicher Art von Waffe leicht. Doch waren sie mehr als stumpfe Söldner – nicht nur ihre Bewegungen waren schnell und gewandt, sondern auch ihr Denken. Zudem hatten sie ihren eigenen Ehrenkodex, eigene Regeln und Gesetze und einen unbeugsamen Stolz. Und so hatte ihr Volk über die Jahre nicht nur hervorragende Krieger, sondern auch seine eigenen Könige hervorgebracht.
Skatarhak, der wohl mächtigste König, den es in ihrer Geschichte gegeben hatte, hatte Cridan vor vielen Jahren als seinen Ziehsohn angenommen und ihn zu seinem ficha'thar gemacht – zu seinem Richter, Berater und Vertrauten. Es waren gute Jahre gewesen, Jahre, in denen Cridan sich als jüngster ficha'thar aller Zeiten und als herausragender Krieger einen Namen gemacht und hohes Ansehen und Respekt genossen hatte. Für ihn hätte es ewig so weitergehen können – doch die Kluft zwischen den T'han T'hau und den Menschen auf Gantuigh war über die Jahre immer tiefer geworden, bis Skatarhak eines Tages hasserfüllt und zornig genug gewesen war, den Menschen den Krieg zu erklären.
Cridan, der ebenso wie Skatarhaks Sohn und Thronerbe Ratiko'khar den Wahnsinn hinter diesem Unterfangen erkannt hatte, hatte versucht, den König davon abzubringen. Skatarhak, vor Wut über den vermeintlichen Verrat tobend, hatte seinen Sohn verbannt, und Cridan, dessen Eid von ihm verlangte, die Blutlinie der Könige und insbesondere Ratiko'khar zu beschützen, war mit ihm gegangen – nicht ohne einen hohen Preis dafür zu bezahlen, dass er Skatarhak im Stich ließ.
Über ein Jahrzehnt hatten sich Ratiko'khar, Cridan und die T'han T'hau, die mit ihnen gegangen waren, in den Sümpfen des Kontinents versteckt, auf Nachricht aus Gantuigh wartend, bis eines Tages ein Bote bei ihnen aufgetaucht war und sie gebeten hatte, mit ihm auf die Insel zurückzukehren.
Doch es war nicht Skatarhaks Bote gewesen.
Skatarhak war tot, gefallen in seinem eigenen Krieg, und das Volk der T'han T'hau, das ihm gefolgt war, war vernichtet worden. Nur eine Handvoll der ehemals so mächtigen Krieger hatte sich von der Insel retten können und sich wie Ratiko'khars Gruppe irgendwo auf den anderen Kontinenten vor der restlichen Welt verborgen. Erst Sureth, ein Mischling der Menschen und T'han T'hau, hatte sie gefunden und nach Gantuigh zurückholen wollen.
War die Zeit bis zu jenem Tag nur quälend langsam verstrichen, so hatten sich von da an die Ereignisse überstürzt: Zu dritt waren Cridan, Ratiko'khar und der Bote namens Mert in einem kleinen Schiff über den Ozean nach Gantuigh gesegelt. Die Seereise mit all ihren Strapazen und Gefahren hatte die beiden T'han T'hau Ratiko'khar, der nach Skatarhaks Tod nun König der T'han T'hau war, und Cridan, seinen ficha'thar, noch enger verbunden, und zwischen Mert und Cridan war eine vorsichtige Freundschaft entstanden.
Cridan seufzte lautlos.
Mert hatte ihn gewarnt. Er hatte ihn vor Sureth gewarnt, und er hatte Recht behalten sollen: Sureth hatte zwar außer der Gruppe um Ratiko'khar noch etliche T'han T'hau aufgespürt und nach Gantuigh geholt, doch war es ihm dabei nicht darum gegangen, ihnen ihre Heimat zurückzugeben. Er plante, die T'han T'hau für seine eigenen Zwecke zu nutzen, und als Ratiko'khar das erkannt hatte, hatte er sich von ihm losgesagt.
So unwahrscheinlich es auch klingen mochte – Ratiko'khar war es danach entgegen allen Prophezeiungen Sureths gelungen, sowohl Enod, den Herrscher Gantuighs, als auch Mar'Tian, Gantuighs Heerführer, auf ihre Seite zu bringen. Dieses Bündnis war ausgesprochen wertvoll, denn Sureth würde von nun an gegen sie arbeiten. Es war vor allem Mar'Tian, auf den sie ihre Hoffnungen gesetzt hatten: Selbst ein Mischling, war er vielleicht der einzige, der die Spaltung zwischen den beiden Völkern von Gantuigh überwinden konnte:
Mar'Tian war der älteste Sohn von Skatarhak, somit Ratiko'khars Halbbruder, und ebenso Erbe der königlichen Blutlinie der T'han T'hau. Er trug zudem einen schauerlichen Beinamen: Auf Gantuigh nannte man ihn den Dämonenschlächter – denn ausgerechnet er hatte vor mehr als einem Jahrzehnt Gantuighs Streitmacht gegen die T'han T'hau angeführt und die Vernichtung aller gefassten T'han T'hau befohlen, um die Gefahr, die von ihnen ausging, für alle Zeiten zu bannen.
Cridan ließ die Hände sinken und starrte nachdenklich auf die grün-goldenen Schuppen auf seinem Handrücken, deren verschlungene Muster sich in den größeren Hornplatten auf seinen Unterarmen fortsetzten.
Mar'Tian war ihr größter und gefährlichster Feind gewesen – und irgendwie hatte Tiko, wie Ratiko'khar von seinen Freunden genannt wurde, es geschafft, den Krieger umzustimmen und ihn davon zu überzeugen, dass die wenigen T'han T'hau, die noch existierten, nicht mehr danach trachteten, die Menschen zu unterwerfen und sich Gantuigh zu eigen zu machen.
Es schien Cridan bis heute nahezu unglaublich, dass es ihnen gelungen war, so weit zu kommen – er verstand Mar'Tians Misstrauen und Skepsis nur zu gut. Umso mehr hatte der vergangene Tag eine überraschende Wendung gebracht:
Auf dem Schiff, das an Gantuighs Küste gelandet war, um noch mehr T'han T'hau aus ihren Verstecken zurück in die Heimat zu bringen, hatte sich ein weiterer Erbe und Königsanwärter der T'han T'hau befunden: Cor'tarach. Er und Tiko hatten um die Vorherrschaft gekämpft, als einer von Cor'tarachs Männern Tiko heimtückisch niedergestochen hatte.
Tiko hatte den Anschlag überlebt, doch den Kampf zu Ende gebracht hatte Mar'Tian. Er hatte Cor'tarach besiegt – und dieser und Ratiko'khar hatten ihren Anspruch an ihn abgetreten.
Seit dem gestrigen Abend war Mar'Tian der König der T'han T'hau.
Und Cridan war nichts mehr.
Schritte drangen an sein Ohr. Er kam auf die Füße und blickte Tiko entgegen, der die Düne hinauf stapfte.
Die beiden Männer sahen sich eine Weile schweigend an. Dann trat Tiko neben ihn und blickte auf den Strand hinaus, über den die Nebelschleier wogten.
»Es tut mir Leid«, sagte er leise. »Ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlen musst.«
»Bei allem Respekt«, entgegnete Cridan, »aber das kannst du nicht.«
Tiko blieb eine Weile stumm.
»Ich werde dich weiterhin brauchen«, murmelte er schließlich. »Nicht als meinen ficha'thar, aber als meinen Freund.«
»Du hast mich nie als deinen ficha'thar gebraucht«, gab Cridan zurück, bemüht, sich nichts anmerken zu lassen. »Wo ist also der Unterschied?«
Tiko lachte halblaut.
»Wenn es keinen Unterschied gibt«, sagte er spöttisch, »warum bist du dann hier und nicht bei uns unten?«
Er unterbrach Cridans Redeansatz mit einem Kopfschütteln und den Worten:
»Ich brauche dich, Cridan. Und das weißt du.«
Cridan schwieg.
Tiko seufzte. »Vielleicht versuchst du, das Gute darin zu sehen. Es steht dir endlich frei, eine eigene Entscheidung zu treffen. Nun ist es an dir, deinen Weg zu wählen.«
Cridan wandte den Kopf und sah Tiko an, sagte jedoch noch immer kein Wort, und schließlich senkte Tiko den Blick.
»Bevor ich es vergesse: Ich habe dir etwas versprochen. Das hier ist für dich.«
Er streckte die Hand aus.
Auf seiner Handfläche lag ein Messer. Es war schmal, mit einer leicht gebogenen Klinge: das Messer eines ficha'thar, und zwar genau von der Art, wie Cridan es auf der Überfahrt nach Gantuigh verloren hatte. Im Sturm auf dem Ozean war es ihm aus der Hand geprellt worden, als er ihr Schiff und ihre Mannschaft, bestehend aus Mert, Tiko und Cridan selbst, gerettet hatte.
Zögernd nahm Cridan es auf. Der Griff schmiegte sich in seine Hand, als hätte er nie etwas anderes getan, und die Schneide war so sorgfältig geschärft, wie er es gewohnt war.
Als er aufsah, begegnete er Tikos goldenen Augen.
»Es ist deine Entscheidung, Cridan. Es liegt an dir, sie zu treffen. Du bist immer noch ein ficha'thar, wenn du es sein willst. Der ficha'thar. Vergiss das nicht.«
Mit diesen Worten wandte er sich um und kletterte die Düne wieder hinunter. Cridan blieb mit seinen Gedanken allein.
Langsam stieg er den seewärtigen Hang der Düne hinab und ging durch den Nebel bis an die Wasserkante, wo er stehenblieb und in den grauen Dunst hinaus starrte.
Beinahe wie von selbst zogen seine Finger die beiden schmalen Messer aus dem Gürtel, eins mit kurzer, gerader Klinge, das andere leicht gebogen. Er hielt sie in den Händen und sah darauf hinab.
Die offiziellen Zeichen eines ficha'thar, dachte er, dann blickte er wieder aufs Meer.
Es steht mir frei, meinen Weg zu wählen, gingen ihm Tikos Worte durch den Kopf. Ich könnte den Weg des ficha'thar hier beenden und einen anderen wählen. Alles, was ich tun muss, ist weit genug zu werfen.
Er nahm beide Messer in die Rechte und schloss die Faust darum.
Aber was wäre der König der T'han T'hau ohne einen ficha'thar? Was wäre das Volk der T'han T'hau ohne einen ficha'thar? Was wäre ich?
Eine Weile starrte er noch in den Nebel, während in ihm die Gefühle stritten. Dann stieß er ein raues Lachen aus und schob die Messer mit einer entschiedenen Bewegung in den Gürtel zurück, bevor er sich endgültig abwandte und zu den anderen zurückkehrte.
Die anderen, das waren nicht nur Ratiko'khar, sondern auch Mar'Tian und seine Ehefrau Béo und darüber hinaus deren Begleiter: Syrian, Luitolf, Leik und Gironna. Letztere war seit kurzem Tikos Gefährtin, während Syrian und Luitolf befreundete Abenteurer waren. Leik war Arzt.
Syrian, der schlanke, beinahe hagere Krieger vom Kontinent, war auf eine etwas sonderbare Art mit Mar'Tian befreundet. Man erzählte sich über ihn, er sei ein ausnehmend guter Schwertkämpfer, doch er war vor allem klug. Es war Syrian gewesen, dessen Weitsicht sie es zu verdanken hatten, dass sie genau hier an Gantuighs Küste auf das Schiff von Cor'tarachs T'han T'hau trafen. Er hatte die Landung des Schiffes an dieser Stelle vorausgesagt.
Cridan konnte sich nicht helfen, er hatte etwas übrig für den schwarzhaarigen Mann, dessen Arroganz und Kaltschnäuzigkeit eine perfekte Maske für den trotz aller Härte verletzlichen Menschen dahinter bildete, und er mochte auch Luitolf, den Kämpen mit den wilden Locken, der immer zu lachen schien und außerdem über eine gehörige Portion Wissen in der Heilkunst verfügte.
Leik schien ebenfalls ein anständiger Kerl zu sein. Er tat Cridan in gewissem Sinne sogar ein wenig Leid: Er war Gironna, die gegen ihren Willen mit ihm verlobt worden war, nach Gantuigh gefolgt – um hier mitansehen zu müssen, wie sich seine Braut in den König der T'han T'hau, in einen sogenannten Dämon, verliebt hatte und dieser sich in sie.
Cridan verbarg ein unwillkürliches Lächeln. Gironna und Tiko waren ein äußerst ungleiches Paar, wenn man sie von außen betrachtete, und doch: Der Ausdruck in ihren Augen und ihren Mienen, wenn sie den anderen anblickten oder auch nur von ihm sprachen, sagte alles. Der ehemalige König der T'han T'hau hatte seine Gefährtin gefunden – wobei es nicht einer gewissen Ironie entbehrte, dass diese einem Volk entstammte, das jahrzehntelang unter den Raubzügen der T'han T'hau gelitten hatte.
Und Mar'Tian… Ja, Mar'Tian war nicht bloß ein Kapitel, sondern ein ganzes Buch für sich. Er war trotz seines menschlichen Aussehens, bei dem nur die schwarzen Augen verrieten, dass er ein Mischling war und auch Dämonenblut in seinen Adern floss, ein T'han T'hau durch und durch. Dennoch hatte er sich dafür entschieden, sein Wissen, seine Klugheit und nicht zuletzt sein Leben für die Menschen einzusetzen.
Er war besonnen, scharfsinnig und ein Meister der Kampfkunst. Cridan hatte ihn ein paar Mal beobachten können, und er war beeindruckt vom Können des Kriegers. Zu gerne hätte er mit ihm einmal in einem freundschaftlichen Kräftemessen die Klingen gekreuzt, doch er befürchtete, dass es niemals dazu kommen würde – Mar'Tian traute ihm nicht. Er traute Ratiko'khar, aber nicht dessen ficha'thar. Cridan sah es ihm an. Es würde Zeit brauchen, den neuen König der T'han T'hau davon zu überzeugen, dass Cridan der stärkste Verbündete war, den er haben konnte – und zudem der treueste.
Dann gab es da noch Béo, Mar'Tians Ehefrau. Ihre Geschichte, so Cridan sie denn kannte, warf eine Menge Fragen auf. Béo, die mit vollem Namen Ibéowe hieß, stammte wie Gironna, Syrian und Luitolf vom Kontinent und war, so hatte er erzählen hören, Syrian vor vielen Jahren nach Gantuigh gefolgt, um die Dämonen, wie man die T'han T'hau auf dem Kontinent nannte, zu bekämpfen.
Auf Gantuigh war sie dann unter Umständen, die Cridan nicht bekannt waren, die Frau des damaligen Herrschers Esracan geworden, obgleich sie zuvor wohl Syrians Gefährtin gewesen war. Durch Esracans Tod verwitwet, hatte sie vor kurzem Mar'Tian geheiratet.
Cridan hatte sie zunächst mit einigem Argwohn betrachtet. Ihre Position an der Seite von gleich drei Anführern hatte ihn skeptisch gemacht – doch auch hier hatte er seinen Standpunkt ändern müssen:
Ibéowe sah die Menschen, wie sie waren. Sie sah, wer jemand war und wer er sein konnte, und sie liebte denjenigen genau dafür.
Unter ihrem Blick hatte er sich durchschaut und entblößt gefühlt – ohne dass es in ihm Scham oder Beklemmung geweckt hatte. In diesem einen sonderbaren Moment hatte er begriffen, weshalb sie an der Seite von Syrian gestanden hatte und weshalb sie heute neben Mar'Tian stand: Sie hatte das Herz, einen wahren Krieger zu lieben.
Die unwillkürliche Frage, ob sie vielleicht auch einen ficha'thar lieben könnte, war so selbstverständlich in ihm aufgetaucht, als wäre sie schon immer da gewesen, und im selben Augenblick hatte er gespürt, dass diese Frau einen besonderen Platz in seinem Leben einnehmen konnte.
Er hatte beschlossen, ihr diesen Platz einzuräumen. Und so würde sein gewählter Weg ihn an die Seite des nächsten Königs und seiner Königin führen.
Niemand hatte ein Wort über Cridans nächtliches Verschwinden verloren.
Als Mar'Tian und Béo zum Lager von Cor'tarachs T'han T'hau gingen, folgte Cridan ihnen in zwei Schritten Abstand. Er hatte seine Entscheidung getroffen – auch wenn sein neuer König nicht die geringste Ahnung hatte, wer ihm von nun an zur Seite stand.
Auf ihrem Weg beobachtete er Mar'Tian und Béo. Er sah die raschen Blicke, die sie miteinander tauschten, das halb verborgene, liebevolle Lächeln des Soldaten, wenn er seine Frau ansah, und die Zuneigung in den flüchtigen Berührungen ihrer Finger.
Wie sie es sagte, dachte er. Ihr Herz und ihre Seele gehören ihm – und umgekehrt genauso.
Cor'tarach saß an einer der Feuerstellen. Er war ein imposanter T'han T'hau mit breiten Schultern und gewaltigen Pranken, doch heute sah er mitgenommen aus: Sein bronzefarbener Schuppenpanzer war an etlichen Stellen gebrochen, gesplittert oder gerissen, und in seinem Gesicht gab es kaum eine Stelle, die unversehrt geblieben war. Seine rechte Hand war verbunden, und als er sich erhob, um sie zu begrüßen, wirkten seine Bewegungen schwerfällig und mühsam.
»Mein König«, sagte er und neigte den Kopf. In den Worten lag Ehrerbietung, aber keine Furcht.
Mar'Tian nickte schweigend und bedeutete ihm, sich wieder zu setzen. Cor'tarach gehorchte. Auf einen Wink von ihm erschienen zwei T'han T'hau.
»Kann ich dir etwas anbieten?« fragte er.
Mar'Tian schüttelte stumm den Kopf und ließ sich im Schneidersitz am Feuer nieder. Béo setzte sich neben ihn.
Cor'tarach und der Soldat musterten sich eine lange Weile, dann lehnte der Anführer der fremden T'han T'hau sich nach vorne. »Was wird mit uns geschehen?«
Mar'Tian antwortete nicht sofort.
»Ihr werdet mir nach L'hunival folgen«, sagte er dann, »und euch meinem Befehl unterwerfen. Du…«
»Das haben wir schon«, unterbrach Cor'tarach ihn. »Du bist unser König, und bis jemand dir deinen Anspruch nehmen kann, werden wir dir folgen. Schon vergessen? Du bist unser König, und wir folgen dir, wohin auch immer du gehst«, wiederholte er die Worte des Schwurs.
Mar'Tian starrte auf seine Hände hinab.
»Du wirst in den Reihen deiner Leute den Rang eines Kommandanten behalten«, fuhr er dann fort. »Wie viel gilt dein Treueschwur?«
Cor'tarach hob den Blick und sah Cridan an.
»Kannst du es ihm erklären?« fragte er mit einem Seufzen. »Er versteht es nicht.«
Cridan wandte sich an Mar'Tian und sagte auf Alt-Gantuigh: »Wenn ein T'han T'hau Treue schwört, dann schwört er sie bis in den Tod. Er gehört dir, wie Skatarhak es ausgedrückt hätte. Er wird dir ebenso folgen wie die T'han T'hau, die damals Skatarhak gefolgt sind. Ohne Zögern.«
Der Soldat nickte.
»Dann sorge dafür, dass deine Leute in einer Stunde fertig und bereit zum Aufbruch sind«, sagte er, zu Cor'tarach gewandt. »Und sei dir gewiss, dass ich nicht zögern werde, jeden zu töten, der sich meinem Befehl widersetzt. Ich bin nicht nur euer König, sondern auch euer schlimmster Alptraum, solltet ihr auf den Gedanken kommen, meinen Worten nicht Folge zu leisten.«
Der T'han T'hau schüttelte langsam den Kopf.
»Du verstehst noch immer nicht«, murmelte er. »Dir gehört das Leben jedes einzelnen T'han T'hau, den ich mit mir führe, ebenso wie das eines jeden von Ratiko'khars Leuten.«
Mar'Tian reagierte nicht, sondern stand wortlos auf und drehte sich zu Cridan um. Dieser erwiderte seinen Blick.
»Er hat Recht, Mar'Tian. Du verstehst es wirklich nicht. Lass es mich anders sagen.«
Er streckte die Rechte aus und legte sie dem Soldaten auf die linke Schulter.
»Der deine bis in den Tod.«
Mar'Tian schaute ihn lange schweigend an, dann nickte er und murmelte: »Wir brechen in einer Stunde auf.«
Cridan sah ihm und Béo hinterher, als die beiden sich umdrehten und das Lager wieder verließen.
»Und was ist mit dir, ficha'thar?« fragte Cor'tarach halblaut.
Cridan blickte ihn an.
»Was soll mit mir sein?«
Cor'tarach musterte ihn unverhohlen von oben bis unten.
»Du bist sein ficha'thar, nicht wahr? Gestern warst du noch an Ratiko'khars Seite, und heute begleitest du ihn.«
Cridan neigte zustimmend den Kopf. »Ich bin der ficha'thar.«
Cor'tarach runzelte halb nachdenklich, halb misstrauisch die Stirn, doch dann nickte er und machte eine einladende Geste.
»Setz dich ruhig. Wir haben noch ein wenig Zeit, bis wir aufbrechen. Meine Leute werden sich um alles kümmern. Vielleicht kannst du mir in der Zeit ein paar Fragen beantworten.«
Cridan zögerte einen Moment, nickte jedoch schließlich und ließ sich gegenüber von Cor'tarach nieder. Er war wachsam. Er hatte nicht vergessen, dass es Cor'tarachs ficha'thar gewesen war, der Tiko beinahe umgebracht hätte – und Cor'tarach zeichnete in gewisser Weise für die Handlung seines Untergebenen verantwortlich. Cridan glaubte ihm zwar, dass er die Tat unter keinen Umständen billigte, dennoch blieb seine argwöhnische Vorsicht.
»Was willst du wissen?«
Der andere T'han T'hau rieb sich gedankenverloren über den Verband an seiner rechten Hand.
»Ich bin verwirrt«, gab er zu. »Mar'Tian und Tiko haben mir gestern eine Menge erzählt, aber ich bin mir nicht sicher, wie viel ich wirklich verstanden habe.«
Cridan konnte sich eines spöttischen Lächelns nicht erwehren.
»Das ging mir genauso, als ich die Geschichte zum ersten Mal gehört habe. Für mich war es schwer vorstellbar, dass Skatarhak und mit ihm alle T'han T'hau tot sein sollten. Von allem anderen ganz zu schweigen.«
Cor'tarach wiegte den Kopf.
»Dass Skatarhak nicht mehr lebt, war mir längst klar. Aber ich hatte auch einen anderen Ausgangspunkt als du oder Ratiko'khar.« Er seufzte.
»Weißt du«, fuhr er dann fort, »ich war in diesem Krieg dabei. Ich kämpfte für Skatarhak, gegen die Menschen, die uns als so leichte Beute und kaum ernstzunehmende Gegner erschienen… Doch das waren sie nicht. Je länger der Krieg andauerte, um so erbitterter wurde der Widerstand, dem wir begegneten. Es war rasch abzusehen, dass es kein leichter Sieg werden würde, wie wir anfangs gedacht hatten. Die Menschen hatten mit Mar'Tian und Syrian zwei große Anführer, jeder für sich ebenso mächtig wie Skatarhak. Wenn nicht sogar noch mächtiger.«
Er hob den Kopf und sah Cridan an.
Cridan hielt seinem Blick stand.
»Ich weiß, was du sagen willst. Weil ich heute weiß, welche Rolle ich für Skatarhak spielen sollte. Welche Rolle er mir zugedacht hatte. Es wäre meine Aufgabe gewesen, diese Anführer zu töten – und statt dessen verschwand ich mit Tiko. Es war Skatarhak, der uns verbannte, doch für euch alle muss es ausgesehen haben wie Verrat.«
Cor'tarach lächelte geistesabwesend.
»So einfach stellt es sich für manch andere wohl dar. Aber so einfach ist es nicht. Das ist es selten. Ich habe in meinem Leben viele Kämpfe gekämpft, und einige davon auch verloren. Die Kunst des Überlebens liegt darin, rechtzeitig zu erkennen, welchen Ausgang ein Kampf nehmen wird. Den Krieg auf Gantuigh hätten wir nicht gewinnen können. Selbst wenn du Syrian und Mar'Tian beide hättest töten können – was ich für nicht besonders wahrscheinlich halte, hätte es nichts mehr geändert. Die Menschen hatten erfahren, dass wir nicht unbesiegbar sind. Der Mythos des unschlagbaren Kriegers, des unüberwindbaren T'han T'hau… Er war dahin und wird es für alle Zeiten sein. Ob das gut oder schlecht ist, mag ich nicht beurteilen.«
Er machte eine kurze Pause, bevor er weitersprach:
»So sehr Skatarhak sich auch zuversichtlich zeigte, dass wir siegen würden, muss er doch in seinem Herzen die Zweifel gespürt haben. Denn er rief mich zu sich und schickte mich mit zweihundert von meinen Leuten fort. Wir sollten uns versteckt halten, bis er uns wieder nach Gantuigh rufen würde. Er wollte mich als seinen Sohn und Erben in Sicherheit wissen. Ich akzeptierte seinen Befehl, teils widerwillig, teils erleichtert. Wir fanden einen Platz auf dem Kontinent, auf dem wir bleiben konnten, und wir warteten. Jahr um Jahr warteten wir auf Nachricht, doch sie kam nicht. Von da an war mir klar, dass Skatarhak den Krieg verloren hatte.«
Cor'tarach griff nach seinem Becher und nahm einen langen Schluck.
»Ich hätte nicht gedacht, dass ich noch einmal an Gantuighs Küste landen würde«, schloss er dann.
Cridan nickte nachdenklich.
»So ähnlich ging es mir auch«, brummte er. »Nur dass in meinen Gedanken Platz war für einen anderen Weg als Skatarhaks Tod und den aller T'han T'hau.«
Cor'tarach lachte auf, kurz und hart.
»Ja. Die Vernichtung der T'han T'hau kam in meinen Gedankenspielen auch nicht vor.«
Cridan griff nach einem leeren Becher und schenkte sich ungefragt aus dem Krug ein, der zwischen ihnen stand.
Er trank einige Schlucke und dachte darüber nach, wie weit er seinem Gegenüber wohl trauen konnte. Cor'tarach schien etwas von Ehre zu halten. Er hatte an Skatarhaks Seite gekämpft, obwohl er geahnt hatte, dass sie nicht siegen konnten, und er hatte auch die Gelegenheit ergriffen, nach Gantuigh zurückzukehren – mit der Bereitschaft, sein Volk zu führen oder sich an die neuen Kräfteverhältnisse, die hier herrschen mochten, anzupassen. Wenn er alles zusammenfasste, was er bisher über Cor'tarach wusste, so war dieser ein Anführer, der sich von Vernunft leiten ließ und zu seinen Worten stand. Wie jedoch der Verrat von dessen ehemaligen ficha'thar ins Bild passte, konnte Cridan nicht recht zuordnen. Dennoch entschied er sich, Cor'tarach zumindest ein Stück weit in ihre Pläne miteinzubeziehen.
»Um so wichtiger ist es, dass wir nicht aufs Spiel setzen, was wir gewonnen haben«, sagte er schließlich.
»Und was haben wir gewonnen?« Cor'tarachs Blick war kühl und abwartend.
Cridan nahm noch einen Schluck.
»Nun, der Schlächter der Dämonen ist unser König und unser Verbündeter. Eine Wendung, die ich nicht erwartet hätte, nach allem, was in der Vergangenheit vorgefallen ist.«
Auf Cor'tarachs Gesicht breitete sich ein Grinsen aus.
»Wohl wahr! Und was machen wir daraus?«
»Zuerst einmal müssen wir mit Sureth fertig werden. Er ist die wahre Gefahr für uns, auch wenn er das Gegenteil behauptet. Dass er uns Gantuigh zurückgeben will, ist ein Vorwand, um uns auf seine Seite zu ziehen. Er will uns, weil wir ihm Macht geben. Was er mit dieser Macht anfangen will, ist mir noch nicht recht klar.«
»Vielleicht Gantuigh beherrschen?«
Im nächsten Moment furchte Cor'tarach die Stirn und schüttelte den Kopf:
»Nein, das macht keinen Sinn«, korrigierte er seinen eigenen Einwurf. »Wir konnten Gantuigh nicht einnehmen, als wir viele Tausend waren. Mit der lächerlichen Handvoll, die wir heute noch sind, kann man keine Insel beherrschen.«
Cridan machte eine zustimmende Geste.
»Vielleicht geht es ihm gar nicht um Gantuigh«, sinnierte er nachdenklich. »Vielleicht will er die Macht nicht, um sie hier auf Gantuigh einzusetzen. Tausend T'han T'hau sind zu wenig, um eine Insel einzunehmen, aber sie sind genug, um sich woanders einen Namen zu machen und sich vielleicht zu nehmen, was man will.«
Cor'tarach verzog anerkennend den Mund.
»Ein bemerkenswerter Gedanke. Aber wir sind keine Söldner!«
»Das nicht«, pflichtete Cridan ihm bei. »Aber wir sind Krieger, und er würde uns ein Dasein bieten, das diesen Namen verdient. Krieger und Dämonen«, er betonte das letzte Wort so ironisch, wie es ihm möglich war.
Cor'tarach lachte. Es klang ehrlich.
»Verrate mir eins: Wie habt ihr Mar'Tian umgestimmt?«
Cridan rieb sich den Nasenrücken.
Wie viel kann ich ihm sagen? Wie viel will ich ihm sagen?
»Wir haben ihn an seiner Ehre zu fassen gekriegt. Und er traut Tiko. Ich glaube, nur mit diesen beiden konnte es überhaupt gelingen.«
Cor'tarach schien eine Weile über Cridans Worte nachzudenken. Dann nickte er. »Sureth darf das nicht gefährden«, bestimmte er. »Wir alle, und darunter du und ich, wir müssen zusammenarbeiten.«
Cridan sah ihn an.
»Wie mir scheint, sind Skatarhaks Erben allesamt mit mehr Vernunft und Weitsicht ausgestattet als er es selbst jemals war.«
Cor'tarach grinste.
»Sag es ruhig, wie es ist«, forderte er ihn auf. »Skatarhak war verrückt. Vor eurer Verbannung, und danach noch mehr.«
Er goss einen kräftigen Schluck in Cridans Becher.
»Wir alle haben das gesehen. Die einzige, die unverrückbar zu ihm stand, war Inth Silia. Seine Lieblingstochter! Sie hatte deinen Platz eingenommen, und ich sage dir, sie war der schönste ficha'thar, den ich je gesehen habe.« Er nahm einen Zug aus seinem Becher, setzte ihn auf dem Knie ab und seufzte. »Wenn du sie einmal gesehen hast, wie sie neben ihm auf dem Schlachtfeld stand… Bei den Göttern, sie war so unfassbar schön! Wen nicht Skatarhaks eisenharter Wille vorangetrieben hat, der ist für ein Lächeln von ihr in die Bresche gesprungen.«
Er seufzte noch einmal.
»Sie war nicht wie du, aber das musste sie auch gar nicht sein. Die Götter allein mögen wissen, was aus ihr geworden ist.«
Cridan zuckte die Achseln. »Sie ist Sureths Ehefrau.«
Cor'tarach verschluckte sich an seinem Wein. Hustend starrte er Cridan an.
»Willst du mich verarschen?« würgte er hervor. »Sie war Guthrags Gefährtin! Die Frau deines Bruders! Sie würde niemals…«
»Und doch ist es so«, unterbrach Cridan ihn. »Sie ist Sureths Ehefrau – ihre Gegenleistung für eine Heimkehr ihrer Leute nach Gantuigh.«
Er zögerte, musterte Cor'tarach aufmerksam und fügte dann doch hinzu: »Und vielleicht nicht ganz so uneigennützig, wie sie mich glauben machen wollte.«
»Uneigennützig?« Cor'tarach runzelte die Stirn. »Wir reden von Inth Silia, richtig? Die Frau macht nichts, was ihr nicht nutzen würde. Nein«, er schüttelte überzeugt den Kopf, »wenn ausgerechnet Skatarhaks Furie sich auf so ein Bündnis einlässt, dann steckt etwas anderes dahinter. Vielleicht hat auch sie daran geglaubt, dass Sureth sich Macht aneignen könnte. Und dass sie gerne an der Seite von Machthabern steht, ist unbestritten. Aber was ist mit Guthrag? Er war ihr Gefährte! Wie sieht er das denn? Dein Bruder ist doch niemand, der sich von einem Mischling den Rang ablaufen lässt! Oder ist er tot?«
»Er lebt«, entgegnete Cridan. »Und er ist ebenfalls bei Sureth. Er hat Silias Entscheidung zähneknirschend akzeptiert, doch ihm geht es wie mir: Er traut Sureth nicht. Als wir Sureth verließen, blieb er dort, um Inth Silia zu beschützen.«
»Das ist, was er sagt«, brummte Cor'tarach mit nachdenklich zusammengezogenen Brauen.
Cridan lächelte und trank seinen Becher aus.
»Nein, das ist, was er meint«, widersprach er. »Guthrag ist einer der stärksten T'han T'hau, die ich kenne, aber mit besonders viel Scharfsinn ist er nicht ausgestattet. Er hält zu seiner Gefährtin.«
Cor'tarach knurrte etwas Unverständliches, dann sah er Cridan an.
»Was diese Gefährtin jedoch möglicherweise plant, wissen wir nicht«, bemerkte er, beugte sich vor und schenkte Cridan nach. »Seien wir also auf der Hut!«
Er hob seinen Becher. »Auf die T'han T'hau. Auf ihren neuen König und ihren alten ficha'thar – und darauf, dass unser Volk ein besseres Ende nehmen werde als Skatarhak uns bescherte!«
Ja, dachte Cridan und beobachtete Cor'tarach über den Rand seines Bechers.
Seien wir auf der Hut. Das bin ich. Das bin ich immer. Und zwar auch, was dich angeht.