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3. Kapitel – Bitte um Hilfe

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Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als Cridan über den Burghof schritt. Im grauen Dunst der Morgendämmerung, der um die Zinnen strich und die Spitzen der Türme einfach verschluckte, wirkten die weißen Mauern der Burg beinahe unwirklich.

Er überquerte den Hof und ging auf das große Tor zu, dessen einer Flügel trotz der frühen Stunde schon geöffnet war. Zwei müde aussehende Soldaten standen an der Seite, auf ihre Lanzen gestützt, und unterhielten sich leise. Sie unterbrachen ihr Gespräch jedoch, als Cridan auf sie zu kam.

Er nickte ihnen knapp zu und wollte durch das Tor treten, doch einer der beiden senkte seine Lanze mit der Spitze in seine Richtung und versperrte ihm den Weg.

»Moment mal«, brummte er unfreundlich. »Wohin willst du denn so früh?«

Cridan blieb stehen, machte einen halben Schritt zurück und sah den Soldaten an. Er war nicht mehr jung, hatte tief eingegrabene Falten um seinen Mund, und der stoppelige Bart ließ ihn noch älter wirken.

Cridan entschied sich, höflich zu bleiben.

»Guten Morgen«, sagte er ruhig. »Seid so freundlich und lasst mich durch. Ich bin kein Gefangener, sondern ein Gast Eures Herrschers, und als solcher steht es mir frei, diese Burg zu verlassen, wann immer ich es wünsche.«

»Gast, wie?« Der Soldat machte keine Anstalten, seine Waffe zu heben. »Ein verdammter Dämon bist du!«

»Verdammter Dämon hin oder her, es ändert nichts daran, dass ich als Gast hier weile. Im übrigen ziehe ich die Bezeichnung T'han T'hau vor.«

»Du kannst vorziehen, was immer du willst«, beschied ihm der Soldat barsch. »Ich nenne dich, wie ich es für richtig halte.«

Cridan seufzte innerlich.

»Dann tut das«, gab er nach. »Es macht keinen Unterschied, wenn Ihr mich nur vorbei treten lasst.«

Der Soldat verzog bloß mürrisch den Mund und hob die Lanze ein Stück an, so dass ihre gehärtete Spitze nun auf Cridans Kehle zeigte.

»Geh und hol den Kommandanten«, befahl er seinem Kameraden. »Sag ihm, einer der verdammten Dämonen will durch unser Tor!«

Der zweite Soldat, der deutlich jünger war, wie Cridan nach einem Blick feststellte, nickte hastig und wollte eben davon eilen, als ein halblauter Ruf über den Burghof schallte:

»Was ist bei euch los?«

Cridan drehte sich um und erkannte Sneyd, einen der Leibwächter von Gantuighs Herrscher, der auf sie zu kam. Er hatte die rechte Hand auf dem Schwertgriff liegen, und an der Art, wie er sich bewegte, war rasch zu erkennen, dass er darauf gefasst war, einem Angriff zu begegnen.

Cridan hob beide Hände offen auf Schulterhöhe.

»Es ist gut«, sagte er und ließ dann langsam die ausgebreiteten Arme sinken, wohlweislich weit entfernt vom Griffstück seiner eigenen Waffe. »Er möchte nur die Bestätigung, dass ich die Burg verlassen darf.«

»Warum solltest du das tun wollen?« fragte Sneyd, die Brauen misstrauisch zusammengezogen.

»Das bleibt meine Sache, nicht wahr?« gab Cridan freundlich zurück. »Vielleicht möchte ich mir nur ein wenig die Beine vertreten.«

Er hörte das leise Kratzen, als Sneyd seine Klinge aus der Scheide löste, und hob die Hände wieder ein Stück höher.

»Ich möchte nur hindurch«, wiederholte er, so ruhig er konnte. »Es gibt keinen Grund, mir das zu verwehren.«

»Ja, aber auch keinen, es dir zu erlauben«, entgegnete Sneyd mit einem grimmigen Lächeln. »Was hast du vor?«

Cridan zögerte einen Moment mit der Antwort, doch dann zuckte er die Achseln. Sneyd war nicht nur Leibwächter des Herrschers, sondern auch ein Freund von Mar'Tian. Er war vermutlich besser beraten, sich mit diesem Soldaten gut zu stellen.

»Ich habe versprochen, Béo abzuholen und zur Burg zu begleiten.«

»Du hast… Weiß Mar'Tian davon?«

»Ich denke nicht«, erwiderte Cridan ehrlich. »Ich habe noch keine Gelegenheit gehabt, mit ihm zu sprechen. Aber Béo weiß es.«

Sneyd starrte ihn eine Weile schweigend an.

»Ich komme mit dir«, entschied er dann, schob seine Waffe mit einem Ruck wieder in die Scheide zurück und bedeutete dem Soldaten, den Weg freizumachen.

Dieser gehorchte nur widerwillig.

»Mit Verlaub, Sneyd, aber willst du ihm nicht befehlen, wenigstens seine Waffe hierzulassen?«

Sneyd grinste humorlos. »Das würde nichts helfen, Manser. Ob du diesem T'han T'hau ein Schwert in die Hand drückst oder nicht, das macht kaum einen Unterschied. Lediglich seine Reichweite wird ein wenig größer.«

Er machte eine einladende Geste auf den nun offenen Durchgang. »Nach dir.«

Cridan gehorchte schweigend.

Eine Weile gingen sie stumm nebeneinander her, dann wandte Sneyd den Kopf und sah ihn von der Seite her an.

»Du willst wirklich Béo abholen?«

Cridan lächelte. »Ja, wirklich. Ist das so schwer zu glauben?«

Sneyd verzog den Mund. »Nein. Grundsätzlich nicht. Tarpin erzählte, du hast sie gestern Abend auch nach Hause begleitet. Mir stellt sich die Frage, warum du das tust.«

»Das ist meine Sache«, entgegnete Cridan knapp, aber nicht unfreundlich.

Der große Soldat lachte leise.

»Natürlich. Das ist deine Sache. Es mag nur sein, dass Mar'Tian das anders sieht.«

»Warum sollte er etwas dagegen haben, wenn jemand seine Frau vor Gefahren beschützt?«

Sneyds Lachen wurde lauter, und zu Cridans Überraschung war es echt.

»Weil Mar'Tian durchaus der Auffassung sein könnte, dass diese Gefahren von dir ausgehen!«

Cridan schwieg einen Moment.

»Du bist auch dieser Auffassung«, folgerte er dann.

»Ich?« Sneyd hob die Brauen. »Nein. Nicht unbedingt, jedenfalls.«

Cridan lächelte spöttisch. »Deine Haltung am Tor hat mir etwas anderes gesagt. Du hattest das Schwert schon in der Hand.«

Sneyd grinste. »Nun ja, als Leibwächter ist das mehr oder weniger eine Angewohnheit. Niemand ist jemals ganz ungefährlich. Und du… Ich bin lieber zu vorsichtig.«

Er machte eine Pause.

»Darf ich dir eine Frage stellen?« wollte er dann wissen.

Cridan machte eine zustimmende Handbewegung, und Sneyd fuhr fort: »Du warst an Skatarhaks Seite, aber du hast Gantuigh vor dem Krieg verlassen. Jetzt bist du Tikos Gefolgsmann, und seine Ziele sind gänzlich anders als die von Skatarhak.«

Cridan nickte. »Ja. Was ist deine Frage?«

Sneyd druckste ein wenig herum.

»Du folgst Tiko, und ich weiß, dass du seine Absichten unterstützt. In der Hinsicht glaube ich dir tatsächlich ganz einfach. Nur… Ich verstehe etwas nicht: Weshalb hast du damals Skatarhak nicht schon viel früher verlassen? Oder den Krieg verhindert? Ich meine… Du warst schließlich in einer Position, in der du großen Einfluss hattest!«

Cridan blieb eine Weile lang stumm, in der sie nebeneinander durch die noch menschenleeren Gassen der Stadt schritten.

»Das sind kluge Fragen«, meinte er dann. »Du hast Recht, ich hatte Einfluss – aber längst nicht so viel, wie du glaubst. Skatarhak war nicht wie Tiko. Er war viel härter, unabhängiger, starrsinniger, und er ließ sich nur sehr schwer beeinflussen. Natürlich habe ich gesehen, dass der Weg, den er beschritt, nicht gut war, aber ich habe damals nicht genug gewusst. Manche Dinge sind mir erst jetzt oder vor kurzer Zeit klar geworden. Und warum ich ihn nicht früher verlassen habe?«

Er lachte leise.

»Sag mir, Sneyd, wenn Mar'Tian von dir verlangen würde, zum Kontinent zu segeln und dort in ein Reich einzufallen, würdest du es tun?«

Sneyd hob eine Braue. »Natürlich! Er ist mein Kommandant.«

Cridan lächelte. »Und Skatarhak war mein König.«

Sneyd stutzte kurz, doch dann nickte er verstehend.

Den Rest des Weges legten sie schweigend zurück.

Hinter den Fenstern von Béos Haus brannte bereits Licht, also stieg Cridan die Stufen bis zur Eingangstür hinauf und klopfte an das Holz, während Sneyd nur wenige Schritte entfernt auf der Straße wartete.

Er hörte ihre Schritte im Flur und das Geräusch, mit dem der Riegel zurückgezogen wurde. Dann wurde die Tür geöffnet, und Béo trat heraus. Unwillkürlich prallte sie zurück – und fing an zu lachen.

»Götter«, sagte sie kopfschüttelnd, »wie albern von mir! Entschuldige bitte! Komm herein! Wir essen noch.«

»Nein, danke«, lehnte Cridan höflich ab. »Ich warte hier auf dich.«

Sie zögerte. »Willst du wirklich nicht hereinkommen? Es ist nicht besonders warm.«

Sie entdeckte Sneyd, der auf der Straße stand und sie beobachtete. Ihre Augen verdunkelten sich, und sie legte alarmiert die Stirn in Falten.

»Du hast Sneyd mitgebracht? Was ist los?«

»Gar nichts ist los«, lächelte Sneyd, kam die Stufen herauf und nahm Béo zur Begrüßung kurz in den Arm. »Ich wollte nur sehen, ob dieser T'han T'hau sich zu benehmen weiß.«

Béo schenkte Cridan einen kurzen Blick. »Ich denke schon. Willst du denn wenigstens hereinkommen?«

Sneyd winkte lachend ab. »Nein, nein, lass nur. Ich werde zurückgehen. Cridan wird ja auf dich aufpassen, nehme ich an.«

Béo verzog den Mund. »Ich werde wohl nicht darum herumkommen«, meinte sie.

Sneyd grinste bloß, dann sprang er die Stufen wieder hinunter und eilte in Richtung der Burg davon.

Béo sah Cridan an, dann zuckte sie die Achseln. »Gut. Dann bleib eben hier.«

Sie schloss die Tür vor seiner Nase.

Cridan unterdrückte ein Grinsen, lehnte sich rücklings an den Türpfosten, verschränkte die Arme vor der Brust und sah sich wachsam in der Straße um, während er wartete. Beinahe unbewusst zählte er die Häuserfronten, ihre Fenster und Türen, bemerkte, wo die Läden noch geschlossen und wo sie bereits geöffnet waren, in welchen Ecken sich Verstecke boten oder wo dunkle Winkel Schatten bargen.

Eine Katze, die um die Mauern strich, sprang auf das Fensterbrett gegenüber, ließ sich dort nieder und musterte ihn mit ihren bernsteinfarbenen Augen ebenso aufmerksam wie er es mit der Umgebung tat.

Béo musste sich beeilt haben, denn als sie mit Ajula wieder vor die Tür kam, waren nur wenige Minuten vergangen.

»Wir gehen erst zu Rim‘var«, erklärte Béo. »Ajula wird heute bei ihm bleiben. Kommst du mit?«

»Natürlich«, entgegnete Cridan. »Deshalb bin ich hier.«

Nachdem sie Béos Tochter bei Rim‘var verabschiedet hatten, machten sie sich auf den Weg zur Burg. Béo hatte einen zügigen Schritt, und so fiel es ihm nicht schwer, sich diesem anzupassen.

Nach einer Weile sah sie ihn von unten herauf an.

»Willst du das jetzt jeden Tag machen?« fragte sie.

»Was?« fragte er zurück. »Auf dich warten und dich begleiten?«

Er wartete gar nicht auf eine Antwort: »Ja, das werde ich jeden Tag machen. Du fängst also besser an, dich daran zu gewöhnen, dass morgens ein T'han T'hau vor deiner Tür steht. Und daran, dass wir jeden Tag einen anderen Weg nehmen werden. Manchmal länger, manchmal kürzer, wie es mir gefällt.«

Sie lachte.

»Du bist doch verrückt!«

Sie fing seinen Blick auf und hob entschuldigend die Hände. »Verzeih. Das war unhöflich von mir. Sowohl meine Worte als auch meine Reaktion von heute morgen. Ich weiß selbst nicht, was ich erwartet hatte – du hattest mir ja gesagt, dass du da sein würdest.«

Er nickte.

»Ich habe dir auch gesagt, ich werde auf dich achtgeben. Dazu gehört mehr als nur neben dir zu gehen. Du verstehst nicht, wie wichtig du bist, oder du möchtest es nicht wahrhaben.«

Sie mussten eine Kreuzung überqueren, und Cridan hielt sie für einen Augenblick lang zurück, um ihren Weg abzusichern, dann machte er eine auffordernde Geste.

Béo sah ihn stirnrunzelnd an. »Meinst du nicht, du übertreibst?«

Er lächelte bloß stumm.

Nachdem er Béo in die Thronhalle gebracht hatte, schlenderte er eine Weile durch die Burg, um sich die Zeit zu vertreiben, doch dann wurde es ihm zu langweilig und er lenkte seine Schritte in die Kellergewölbe.

Die Übungshalle der Soldaten war zu dieser frühen Stunde noch leer, aber Cridan war es ganz recht so. Er schritt die Wände entlang und musterte die Waffen, die in den Fächern aufgereiht lagen, bis seine Aufmerksamkeit von einem großen Morgenstern angezogen wurde.

Er streckte die Hand aus und nahm die Waffe auf. Sie war schwerer, als er auf den ersten Blick vermutet hatte, und lag mit dem dicken Holz, das ihren Stiel bildete, angenehm ruhig in der Hand.

Er ging ein paar Schritte in die Halle hinein, wog den Morgenstern in der Hand und fing dann an, die Kette, an der eine mit Dornen gespickte Stahlkugel hing, in sanfte Schwingungen zu versetzen.

Maret'kar hatte ihm beigebracht, wie man mit einem Morgenstern kämpfte – aber Cridan hatte die Waffe immer als zu schwer und ungelenk empfunden. Es war nahezu unmöglich, die Richtung zu ändern, wenn man sich einmal für einen Hieb entschieden hatte, sie brauchte Kraft, und der Umgang damit war nicht ungefährlich.

Dennoch: Heute reizte ihn die Herausforderung.

Er versuchte einige Schwinger und machte sich dann auf die Suche nach einem Ziel, das er benutzen konnte. Er fand es in Form dreier großer, senkrecht aufgestellter Holzklötze, deren ramponierte Oberfläche verriet, dass sie schon häufiger Bekanntschaft mit diversen Waffen gemacht hatte. Jemand hatte mit roter Kreide Zielmarkierungen auf dem Holz angebracht.

Cridan ging auf etwas mehr als Armlänge zurück, dann hob er den rechten Arm mit dem Morgenstern und holte aus.

Der erste Hieb traf die rote Markierung noch etwas zu weit links, doch schon der zweite riss ein faustgroßes Stück Holz genau in der Mitte des angezeichneten Kreises heraus.

Cridan grinste zufrieden, dann ging er in Angriffsposition und schätzte die Entfernung zwischen den Holzklötzen ab. Es musste möglich sein, mit einer kontrollierten Kombination aus Schritten und Schlägen alle drei Klötze in schneller Abfolge nacheinander zu treffen, wenn er es klug genug anfing.

Die ersten beiden Hiebe saßen fehlerfrei, doch beim letzten geriet ihm der Morgenstern durch den vorherigen Aufprall ein wenig aus der Richtung, und die Dornenkugel fetzte nur am Rand der Markierung entlang.

Cridan schnitt eine missbilligende Grimasse und kehrte in die Ausgangsposition zurück. Mit geschlossenen Augen konzentrierte er sich, nahm sich Zeit, die Bewegungsabfolge, die er vorhatte, Schritt für Schritt in Gedanken durchzugehen, bevor er die Augen wieder öffnete und die Faust mit dem Morgenstern in eine leicht nach hinten gerichtete Haltung brachte.

Er atmete tief ein, hielt kurz die Luft an – und mit dem Ausstoßen der Luft wirbelte er vorwärts.

Als sich der Morgenstern mit einem dumpfen Geräusch in die Mitte der dritten Zielscheibe bohrte, ließ Cridan den Holzgriff los und ballte mit einem selbstzufriedenen Grunzen die Faust.

»Nicht schlecht! Gar nicht schlecht!«

Die Stimme ließ Cridan herumfahren, eine Hand auf dem Schwertgriff.

Er erkannte Raggal, den T'han T'hau, den er am Strand gefangen genommen hatte.

Raggal war in Unkenntnis der Lage Sureth gefolgt, hatte sich aber, als er erfahren hatte, dass es einen rechtmäßigen König der T'han T'hau gab, ohne Zögern Tiko angeschlossen. Er war ein noch recht junger T'han T'hau, in der Mitte seiner Zwanziger vielleicht, und hatte sich jahrelang mit nur einer kleinen Gruppe T'han T'hau durchgeschlagen, bis er durch Sureth nach Gantuigh zurückgekehrt war.

Nun stand Raggal am Rand der Halle, die Arme vor der Brust verschränkt, und sah ihn mit einem anerkennenden Nicken an.

»Das war verdammt gut. Ich kenne wenige Männer, die diese Waffe derart beherrschen.«

»Ach ja?« Cridan verzog geringschätzig den Mund, packte die Kette des Morgensterns und löste die Stahlkugel mit einem kräftigen Ruck aus dem Holz. »Nenn mir einen davon!«

Raggal lachte, breitete die Arme aus und trat ein paar Schritte auf ihn zu.

»Gut, du hast Recht. Ich kenne niemandem, dem ich das zutrauen würde, was ich gerade bei dir gesehen habe.«

Er legte den Kopf schief, ohne ihn aus den Augen zu lassen.

»Kannst du mir das beibringen?«

Cridan warf ihm einen kurzen Blick zu.

»Wenn du keine zwei linken Hände hast, vermutlich schon. Es sei denn, du hast Schiss davor, dir blaue Flecken zu holen.«

»Blaue Flecken?« Raggal grinste. »Du glaubst gar nicht, wie viele davon ich schon gesammelt habe. Meine Lehrer waren nicht besonders nachsichtig. Deine vermutlich auch nicht.«

Cridan dachte an Maret'kar und musste lachen.

»Nein, sicher nicht. Ein ficha'thar des Königs ist selten für seine Nachsichtigkeit bekannt.«

Raggal lachte ebenfalls.

»Wie wahr! Also, was ist?« Er streckte die Hand aus. »Bringst du es mir bei?«

Cridan zögerte, doch dann drückte er Raggal das Griffstück in die Finger.

»Hast du schon mal einen Morgenstern in der Hand gehabt?«

»Ein paar Mal, ja«, nickte der andere T'han T'hau. »Aber ich habe mich nie wohl damit gefühlt. Mir liegen die Klingen mehr, genau wie Pfeil und Bogen.«

»Mir auch«, gab Cridan zu. »Was kein Grund dafür ist, den Umgang hiermit zu vernachlässigen. Komm ein Stück hier herüber, und dann zeig mir, dass du die Grundlagen beherrschst.«

Raggal stellte sich ausgesprochen geschickt an, bemerkte Cridan rasch, und es machte Spaß, mit ihm zu arbeiten.

Er war gerade dabei, ihm eine Schrittfolge zu erklären, als sich die Tür öffnete und eine Gruppe die Halle betrat, allen voran Sneyd.

Der Leibwächter nickte ihm kurz zu, dann teilte er die Männer, die er mitgebracht hatte, in Gruppen auf und begann mit ihnen zu üben. Sie waren durchweg sehr jung, manche fast noch Kinder, und die Art und Weise, wie sie sich bewegten und die Waffen führten, verriet Cridan, dass er es hier mit Rekruten zu tun hatte, die gerade erst anfingen, ernsthaft kämpfen zu lernen.

Raggal und er hielten ausreichend Abstand zu den anderen, so dass sie sich nicht in die Quere kamen.

Eine Weile übten sie so nebeneinander, doch dann kam Sneyd zu ihnen herüber. Er wartete, bis Cridan ihm seine Aufmerksamkeit schenkte, und fragte:

»Dürfte ich dich um einen Gefallen bitten?«

Cridan hob die Brauen.

»Die Jungs verstehen nicht, was ich meine. Ich glaube, es wäre einfacher, wenn ich es ihnen zeigen könnte. Wenn du mir kurz zur Verfügung stehen könntest?«

Cridan nickte bereitwillig. »Von mir aus.«

Es waren einfache Konter und Blockaden, die Sneyd den jungen Männern zeigte, und nachdem er sie mehrfach mit Cridan vorgeführt hatte, ließ er sie wieder in Gruppen miteinander üben.

Cridan blieb neben ihm stehen und beobachtete die Rekruten.

»Hör mal«, sagte er dann betont beiläufig, »ich würde gerne einem Freund von mir eine Nachricht schicken. Meinst du, das ist möglich?«

Sneyd sah ihn nicht an, sondern behielt die jungen Soldaten aufmerksam im Auge.

»Du brauchst einen Boten? Das sollte kein Problem sein. Geh einfach in die Schreibstuben und gib deine Nachricht ab.«

Cridan war überrascht. »Mehr nicht?«

Sneyd grinste breit.

»Mehr nicht. Deine Nachricht wird mit Sicherheit gelesen werden, und wenn irgend jemand auch nur den geringsten Zweifel dabei hegt, wird sie die Burg nicht verlassen und du dich in unserem Kerker wiederfinden – wenn du so viel Glück hast – aber ja, mehr nicht.«

Cridan nickte langsam.

»Gut zu wissen.«

Sneyd wandte nun doch den Kopf und sah ihn an.

»Mach keinen Blödsinn«, sagte er nach einer Weile. »Es täte mir Leid, mich in dir geirrt zu haben.«

Cridan lächelte ein wenig.

»Keine Sorge«, entgegnete er. »Hast du nicht.«

Es war früher Mittag, als Cridan die Übungshalle verließ und vor den Besprechungsräumen auf Ratiko'khar wartete. Der T'han T'hau sah müde und angestrengt aus, als er die Tür hinter sich schloss und für einen Moment stehenblieb, um durchzuatmen. Dann entdeckte er Cridan, und seine Miene hellte sich augenblicklich auf.

»Was machst du denn hier? Ich dachte, du passt auf Béo auf«, bemerkte er scherzhaft.

Cridan machte eine wegwerfende Geste.

»Die ist bei Mar'Tian gut aufgehoben«, entgegnete er. »Er würde sich höchstens beleidigt fühlen, wenn ich in seiner Gegenwart auf sie achtgeben wollte.«

Tiko brummte etwas Zustimmendes, dann sah er ihn an.

»Gehen wir ein Stück«, schlug er vor. »Enod hat eine Pause anberaumt, und die können wir alle dringend gebrauchen. Ich wäre für etwas frische Luft sehr dankbar.«

Sie schlenderten gemeinsam über den Burghof.

»Du erinnerst dich an Mert?« begann Cridan schließlich das Gespräch.

Tiko lachte.

»Natürlich erinnere ich mich an ihn! Wie sollte ich den Mann vergessen, der uns im Sumpf auf dem Kontinent aufstöberte und uns nach Hause holte?«

Cridan ging nicht auf seine Worte ein, sondern sprach weiter: »Du hast dich, als wir bei Sureth auf dem Hof waren, ziemlich lange mit ihm unterhalten. Und du hast damals nach ihm geschickt. Weißt du, wie ich ihn erreichen kann?«

Ratiko'khar blieb stehen, drehte sich zu ihm und sah ihn mit argwöhnisch gerunzelter Stirn an.

»Was hast du vor?«

Cridan wich seinem Blick nicht aus.

»Ich brauche ihn. Ihn und seine besonderen Fähigkeiten, wenn du so willst.«

»Das beantwortet meine Frage nicht«, beharrte Tiko. »Was hast du vor?«

»Ich würde es zu schätzen wissen, wenn ich die Antwort auf deine Frage aufschieben könnte, bis ich weiß, ob es überhaupt möglich ist«, erwiderte Cridan ruhig. »Bis dahin bitte ich dich, mir zu vertrauen.«

Tiko schenkte ihm einen langen Blick.

»Oh, ich weiß schon, dass ich das verdient habe«, brummte er dann. »Ich habe gehofft, du würdest es vergessen.«

Cridan wusste, dass Tiko auf seinen eigenen Vertrauensbruch anspielte, als er Cridan eine Nachricht von Inth Silia verschwiegen hatte, doch er reagierte nicht darauf.

Und schließlich gab Tiko nach.

»Wenn es denn sein muss! Ja, ich weiß, wie du an Mert herankommst! Es wird nicht ganz einfach sein, und du brauchst einen Boten.«

»Den habe ich«, nickte Cridan. »Wie also?«

Tiko seufzte.

»Wenn ich nur wenigstens wüsste, was du vorhast«, murrte er halblaut, schüttelte den Kopf und fuhr dann fort:

»Es gibt Empfänger, die Nachrichten an ihn entgegen nehmen und sie weitergeben, so dass man ihn erreichen kann. Wann das ist, entscheidet er. Wenn ich Sureth richtig verstanden habe, kann es manchmal ein paar Wochen dauern – abhängig von der jeweiligen Situation.«

»Und das hat Sureth dir einfach so gesagt?«

Tiko stieß ein ironisches Lachen aus.

»Wohl kaum! Nein, ich habe einfach nur sehr gut zugehört, als er mit Mert redete. Und die entscheidenden Kleinigkeiten weiß ich von Mert selbst.«

»Wohin muss ich die Nachricht schicken?«

Es war unübersehbar, dass Tiko ihm nicht gerne antwortete.

»Es gibt ein Gasthaus in Q‘ada. Unten am Hafen. Es ist eine üble Spelunke, soviel ich weiß, aber das trifft auf viele Wirtshäuser in Häfen zu. Zum betrunkenen Blauwal, so heißt die Schenke. Der Empfänger der Nachricht heißt Hilon und ist der Wirt.«

Cridan wiederholte in Gedanken, was Tiko gesagt hatte, dann machte er eine dankbare Geste mit der rechten Hand und wollte sich zum Gehen wenden.

Tiko hielt ihn am Unterarm fest.

»Glaube nicht, dass du mir so davon kommst! Ich weiß, dass dir Béos Schutz wichtig ist, aber du solltest die Aufgaben eines ficha'thar darüber nicht vernachlässigen.«

Cridan hob fragend die Brauen, und Tiko verzog den Mund.

»Du solltest bei diesen Besprechungen anwesend sein. Nicht, dass es irgendwie besonders kurzweilig oder atemberaubend spannend wäre, aber ich denke doch, dass es für dich wichtig ist zu wissen, was genau besprochen wird. Und wie es besprochen wird. Ich erwarte, dich ab sofort in diesen Gesprächen zu sehen.«

Cridan lachte trocken auf. »Und wie soll ich das anstellen? Ich bin weder einer unserer Anführer noch habe ich irgend eine offizielle Aufgabe! Mar'Tian weiß nicht einmal, welche Position ich einnehme!«

Tiko zuckte die Achseln.

»Es ist nicht mein Problem, das zu klären«, entgegnete er ruhig. »Du wirst einen Weg finden.«

Damit ließ er Cridan stehen.

Cridan sah ihm kopfschüttelnd hinterher, während er darüber nachdachte, ob er amüsiert oder verärgert sein sollte. Er entschied sich für keins von beidem – zumal er wusste, dass Tiko Recht hatte.

Statt dessen machte er sich auf die Suche nach der Schreibstube. Raggal, dem er auf dem Weg dorthin begegnete, begleitete ihn, und Cridan war selbst erstaunt darüber, dass es ihm nichts ausmachte.

Einer der Diener half ihnen schließlich weiter, und wenig später standen sie in dem langen Raum. Trotz der beinahe unangenehmen Wärme, die hier herrschte, brannte in dem großen Kamin ein Feuer. Die Luft war trocken und roch nach Staub, Pergament und Tinte, und an den aneinandergereihten Pulten hockten Männer unterschiedlichsten Alters und waren mit ihrer Arbeit beschäftigt. Manche zeichneten in großen Büchern, andere hatten lange Rollen Pergament vor sich, und wieder andere verzierten einzelne Seiten mit kunstvollen Bildern.

Einer der Männer hob den Blick, musterte Cridan und Raggal erschrocken und stand dann auf, um sich ihnen unsicher zu nähern.

»Meine Herren? Kann ich etwas für Euch tun?«

Cridan deutete eine Verneigung an.

»Das könnt Ihr, ja. Man sagte mir, es wäre möglich, hier eine Nachricht zu verfassen.«

Der Mann nickte hastig. Seine Blicke glitten nervös zwischen Cridan und Raggal hin und her. »Ja, ja, das ist es. Sofern Ihr Enods Erlaubnis habt, könnt Ihr sie auch von hier aus direkt entsenden. Braucht Ihr einen Schreiber?«

»Nein, danke, ich werde die Nachricht selbst verfassen. Wenn Ihr mir Feder und Pergament geben würdet?«

»Natürlich, ja«, der Mann eilte zu seinem Pult zurück und zog fahrig mehrere Bögen Pergament hervor, »Ihr sollt alles haben.«

Er machte eine flatterige Geste auf ein Pult, das etwas an der Seite stand und vor dem niemand saß.

»Bitte, setzt Euch doch.«

Während Raggal geduldig an der Tür stehenblieb, nahm Cridan Platz. Der Mann legte die Bögen Pergament vor ihn auf das Pult und strich sie mit hastigen Bewegungen glatt. Cridan nickte dankbar, dann nahm er die Feder aus dem Tintenfass und begann zu schreiben. Er benutzte Alt-Gantuigh und schrieb knappe, klare Sätze:

Mein lieber Hilon!

Erinnert Ihr Euch noch an das Buch, über das wir sprachen? Euch missfielen einige Kapitel so sehr, dass Ihr vorschlugt, es neu zu verfassen. Ich habe reiflich darüber nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass Ihr Recht habt: Es sollte neu geschrieben werden. Euer bemerkenswerter Einfallsreichtum und Erfahrungsschatz würde mir dabei sehr zunutze sein, zumal es mir gelungen ist, in den oberen Gesellschaftsschichten Aufmerksamkeit für mein Buch zu wecken. Mit Eurer Mithilfe werden die neuen Kapitel die Krönung des Werks darstellen. Und Eure Arbeit soll nicht umsonst sein. Ich bin willens, Euch als Mitverfasser der Kapitel zu benennen und auch den Erlös zu einem angemessen Teil mit Euch zu teilen.

Ich erwarte Eure Antwort!

Araora

Er musste sich ein Lächeln verkneifen, als er mit dem Namen des Segelschiffes unterschrieb, auf dem Mert und er den Ozean überquert hatten. Dann ließ er die Feder sinken und sah mit schräg gelegtem Kopf auf das Pergament hinab. Aus dem Augenwinkel erkannte er den Schreiber, der ihn nach wie vor aus einiger Entfernung beobachtete.

Er hob die Schreibfeder wieder, setzte sie aufs Papier und zögerte, als wäre er unschlüssig. Das machte er zweimal, bis die Tinte der Schrift getrocknet war, dann seufzte er tief, ließ die Schultern hängen und stand mit einem mutlosen Kopfschütteln auf, während er mit der Linken die beiden obersten Pergamentbögen scheinbar achtlos zusammenraffte und zerdrückte.

»Es tut mir Leid, Euch belästigt zu haben«, wandte er sich an den Schreiber. »Verzeiht mir.«

In einer Drehung wandte er sich zum Kamin um und nutzte die Deckung seines eigenen Rückens, um die beiden halb zerknüllten Papiere voneinander zu lösen. Während er die Botschaft rasch unter sein Hemd schob, warf er mit der anderen Hand das zu einem Ball zerdrückte leere Pergament ins Feuer, wo es rasch aufflammte.

»Verzeiht mir«, wiederholte er und machte sich daran, den Raum zu verlassen. Zu Raggal sagte er gedämpft, aber doch so laut, dass der Schreiber es hören musste:

»Es hat keinen Sinn, ihr zu schreiben. Sie wird ihre Meinung nicht ändern.«

Raggal begriff sofort. Er klopfte ihm kameradschaftlich und scheinbar mitleidig auf die Schulter und schob ihn aus dem Raum.

Sie gingen ein Stück weit den Gang entlang, dann räusperte Raggal sich.

»Ich will nicht neugierig sein«, bemerkte er, »aber was ist das für eine Nachricht? Sie muss sehr wichtig sein.«

»Das ist sie«, gab Cridan zu. »Es ist eine Bitte um Hilfe.«

»Eine Bitte um Hilfe«, murmelte Raggal nachdenklich. »Und wer ist diese Hilfe? Ein T'han T'hau wird es wohl kaum sein.«

»Richtig«, entgegnete Cridan. »Ein T'han T'hau ist es auch nicht. Es ist ein Mensch. Ein Mensch, der uns T'han T'hau wohlgesonnen ist – aus ganz eigenen Gründen, aber immerhin.«

»Und du hoffst, dass er uns helfen wird?« Raggals Stimme klang zweifelnd.

»Ja«, antwortete Cridan. »Das hoffe ich. Ich muss nur noch dafür sorgen, dass er meine Nachricht auch bekommt.«

»Und wie willst du das anstellen? Willst du Enod fragen, ob er dir die Erlaubnis gibt, die Nachricht zu verschicken?«

Cridan lachte. »Nein, durchaus nicht. Er würde sie mir nicht geben. Aber ich weiß, wen ich fragen werde.«

Raggal sah ihn von der Seite her an, hakte jedoch nicht weiter nach.

Cridan verbrachte die nächsten Stunden vor den Besprechungsräumen, auf eine Gelegenheit wartend, Béo abzupassen. Er hatte Glück: In einer der Pausen verließ sie, in ein Gespräch mit Luitolf vertieft, den Raum und schlenderte mit dem Krieger einige Schritte den Gang entlang. Als Cridan auf sie zu trat, begrüßte sie ihn mit einem Lächeln:

»Da ist ja mein Leibwächter. Ich hoffe, dein Tag ist spannender als der meine.«

Cridan erwiderte ihr Lächeln.

»Ich denke nicht, meine Königin. Aber vielleicht kann ich meinen Tag dem deinen anpassen, indem ich dich begleite.«

Luitolf lachte.

»Du willst dir das freiwillig antun? Es ist ja nicht so, als wäre der Inhalt der Gespräche uninteressant, aber die Art und Weise…« Er schnitt eine Grimasse. »Politik ist eine Krankheit! Eine sehr, sehr langweilige Krankheit, gegen die man nicht einmal etwas tun kann!«

Cridan grinste.

»Wir sind einer Meinung, wie ich sehe«, entgegnete er. »Aber darauf kommt es nicht an.«

Béo sah ihn mit gehobenen Brauen an. »Du möchtest mich begleiten? Ernsthaft? Weshalb?«

»Weil es mich mehr als nur ein bisschen angeht, was ihr da drinnen besprecht«, gab Cridan ehrliche Antwort. »Selbst wenn ich nicht an den Gesprächen teilnehmen kann und mich nicht dazu äußern werde, wird es mir besser gehen, wenn ich doch zumindest zuhöre. Und außerdem kann ich ein Auge auf dich haben.«

Luitolf feixte.

»Du bist die mit Abstand am besten bewachte Frau dieser Welt«, grinste er mit gutmütigem Spott. »Mar'Tian, Syrian, ich – und nun noch dieser Bulle!«

Béo gab ihm einen Stoß in die Seite.

»Mach dich nicht darüber lustig«, tadelte sie ihn. »Cridan ist ein guter Mann, und du sollst ihn nicht verspotten.«

»Oh, das läge mir fern«, widersprach Luitolf lachend und mit einem Seitenblick auf Cridan. »Das wäre vermutlich auch nicht besonders gesund!«

Cridan bleckte die Zähne in einem breiten Lächeln: »Was für eine treffende Einschätzung.«

Bevor Luitolf etwas entgegnen konnte, trat einer der Diener zu ihnen und teilte ihnen mit, dass Enod die Besprechung fortsetzen wollte.

»Na, dann komm«, meinte Béo und fasste nach Cridans Arm. »Du wirst schon sehen, was du davon hast!«

Cridan folgte Béo und Luitolf in den Raum, in dessen Mitte ein großer Tisch stand, darum herum unzählige Stühle, auf denen die Männer Platz nahmen – unter ihnen nicht nur der Herrscher Enod sowie Mar'Tian und Ratiko'khar, sondern auch Syrian, Marud'shat, Drav‘n, Cor'tarach und viele, viele mehr, die er nicht kannte.

Béo zog sich an die Seite zurück und ließ sich auf einer Bank an der Wand nieder. Cridan lehnte sich leicht breitbeinig neben ihr an die weißgetünchte Mauer, die Arme vor der Brust verschränkt und das Kinn angehoben. In dieser Haltung, das wusste er, konnte er Stunden verharren.

Und das musste er auch.

Als Cridan und Béo sich endlich auf den Weg zu Béos Haus machten, war es bereits dunkel, und ein unangenehm kalter, heftiger Wind wehte über den Burghügel. Béo zog ihren Umhang fester um die Schultern und hielt sich dicht neben Cridan.

Im Windschutz der Häuser war es deutlich wärmer. Béo seufzte erleichtert auf und schüttelte sich.

»Der Sommer ist vorbei«, meinte sie. »Ich versuche immer, das so lange wie möglich zu verdrängen, aber heute gelingt es mir nicht mehr!« Sie lachte.

Cridan lächelte auf sie hinunter.

Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her.

Cridan sah sich wachsam um. Als er sicher war, dass ihnen niemand folgte, und dass sie mutterseelenallein auf der Straße waren, wandte er sich an Béo:

»Ich würde dich gerne um etwas bitten.«

»Du? Mich?« Sie sah ihn überrascht an. »Was sollte ich für dich tun können?«

»Ich muss jemandem eine Nachricht zukommen lassen. Eine wichtige Nachricht. Sie darf nicht abgefangen werden oder in den falschen Händen landen.«

Béo schwieg einen Moment.

»Warum ist sie so wichtig?« fragte sie dann.

Cridan hatte überlegt, ihr eine kleine Geschichte aufzutischen von einer finanziellen Schuld, in der er stand und die er begleichen wollte, doch als er jetzt ihrem offenen Blick begegnete, widerstrebte es ihm, sie anzulügen.

Er blieb stehen, drehte sich zu ihr um und blickte sie an.

»Es ist nicht ganz einfach, dir das zu erklären. Du bist Mar'Tians Frau, und ich will dich nicht in Bedrängnis bringen. Ich will dich nicht belügen, und ich will nicht, dass du Mar'Tian meinetwegen belügst. Dennoch bist du die einzige, an die ich mich wenden kann. Ich kann ihn nicht selbst fragen – noch nicht. Weil er mir noch nicht vertraut. Aber es ist wichtig. Wir brauchen Hilfe, um gegen Sureth vorzugehen. Der Mann, an den ich die Botschaft schicken möchte, kann uns diese Hilfe geben. Ich muss diese Nachricht aufgeben, ohne dass sie gelesen und vielleicht aufgehalten wird. Oder dass dem Mann, der sie bekommt, etwas geschieht. Es ist wichtig.«

Béo erwiderte seinen Blick. In ihren Augen las er Sorge und etwas, das wie Verstehen aussah. Er entschied sich dafür, es zu wagen.

»Vertraust du mir?«

Sie hob die Brauen, offensichtlich überrumpelt von seiner Frage.

»Ob ich…«

Sie lächelte. »Ja, ich vertraue dir. Sogar sehr.«

Er sah sich noch einmal sichernd um, dann griff er unter sein Hemd, zog das zusammengefaltete Pergament hervor und streckte es ihr hin.

»Ich überlasse es dir, darüber zu urteilen, was damit geschieht. Du kannst die Nachricht lesen, du kannst Mar'Tian davon erzählen, du kannst sie ihm zeigen… Dir wird er glauben. Was immer du entscheidest, wird richtig sein. Ich bitte dich nur darum, mir zu vertrauen und diese Nachricht zu verschicken. Sie ist an einen Wirt gerichtet, der seine Schänke im Hafen von Q‘ada hat. Er heißt Hilon. Es ist sicher nicht verkehrt, dem Boten ein paar Silbertaler mehr für diesen Wirt in die Hand zu drücken. Sei dir gewiss, dass ich diese Schuld bezahlen werde.«

Sie griff zögernd nach dem Papier und drehte es ein paar Mal in den Fingern.

»Darauf kommt es doch gar nicht an«, murmelte sie. »Ein paar Silbertaler werden mich nicht umbringen, wenn ich sie dir auslege. Es ist vielmehr…«

Sie hob den Kopf und sah ihn an.

»Du hättest mich einfach anlügen können«, sagte sie, beinahe verwundert. »Du hättest einfach sagen können, du musst jemandem etwas zurückzahlen, der euch geholfen hat. Aber du hast mir die Wahrheit gesagt.«

»Um ehrlich zu sein, hatte ich darüber nachgedacht, dir eine solche Geschichte zu erzählen«, gestand er.

Sie nickte langsam. »Und doch hast du es nicht getan. Du hast mir vertraut. Und ich vertraue dir. Hilon wird diese Nachricht bekommen.«

Sie steckte das gefaltete Pergament ein.

»Mach dir keine Sorgen wegen Mar'Tian«, fügte sie leiser hinzu. »Du hast Recht, wenn du sagst, dass er dir nicht vertraut, aber das liegt nicht an dir, sondern daran, dass er keinem Dämon vertraut. Gib ihm ein wenig Zeit, und er wird sehen, dass du sein Vertrauen wert bist. Ich werde ihm sagen, dass ich für dich eine Nachricht verschickt habe. Was darin steht, geht ihn nichts an. Ebenso wenig, wie es mich etwas angeht. Wenn du mir sagst, dass es eine Bitte um Hilfe ist und dass es in unser aller Interesse ist, dann glaube ich dir.«

»Ich danke dir«, sagte Cridan ernsthaft. »Und nun lass uns gehen. Es wird Zeit, dass du nach Hause kommst.«

Dämonentreue

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