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4. Kapitel – Ein Wiedersehen mit Mert

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Die nächsten Tage vergingen, und sie waren wie auch die Tage zuvor angefüllt mit endlosen Gesprächen, Diskussionen und Streitereien zwischen Enod, seinen Beratern und Heerführern, allen voran Mar'Tian, und den Anführern der T'han T'hau.

Mar'Tian, der von den T'han T'hau uneingeschränkt als ihr König anerkannt worden war, hatte Tiko, dessen Anspruch als der zweite nach seinem akzeptiert wurde, den Oberbefehl über alle T'han T'hau zugesprochen, während Cor'tarach, Marud'shat und auch Dra'vn weiterhin ihre Gruppen führen sollten. Als Oberhäupter ihres Volkes waren diese vier T'han T'hau regelmäßig bei den oft hitzig geführten Gesprächen anwesend.

Mar'Tian selbst war nicht nur bei jeder einzelnen Diskussion dabei, sondern auch darüber hinaus von morgens bis abends beschäftigt. Er hatte weder Zeit für seine Frau noch für Cridan, und wenn sie sich sahen, war es stets nur kurz – zu kurz für Cridan, um Mar'Tian in seine Pläne einzuweihen oder ihm zu erklären, welchen Platz er sich ausgesucht und eingenommen hatte.

Die Gespräche wurden selten unter Ausschluss anderer Teilnehmer geführt, und so saß Béo meist als schweigende Zuhörerin dabei. Cridan, der kaum noch von ihrer Seite wich, begleitete sie auch zu diesen Anlässen, abgesehen davon, dass er sie abends nach Hause brachte und morgens, wenn sie aus der Tür trat, schon da war und wartete, um mit ihr zurück auf die Burg zu gehen.

Er liebte diese Spaziergänge, waren sie doch die einzige Gelegenheit, den Mauern der Burg zu entkommen. Wenn er durch die Straßen ging, nur die Dunkelheit als sein Begleiter, dann fühlte er sich endlich frei. Außerdem nutzte er die Zeit, um sich mit jedem Winkel der Stadt vertraut zu machen – man konnte nie wissen, wann einem die Kenntnisse zunutze sein oder möglicherweise sogar das Leben retten würden.

An diesem Morgen war er früher unterwegs als sonst, und in den Straßen war es noch beinahe finster. Nur schemenhaft konnte er seine Umgebung erkennen, und den Brunnen sah er erst, als er kaum fünf Schritte davon entfernt war.

Es war ein alter Brunnen, der mitten auf einer Straßenkreuzung stand. Das Pflaster um ihn herum wies tiefe Rinnen von den Rädern der Fuhrwerke auf, und die gemauerte Kante glänzte feucht im schwachen Licht der Sterne.

Cridan fuhr mit der Hand über die raue Oberfläche der Steine, strich über das Holz der Winde und versuchte, einen Blick auf das schwarze Wasser in der Tiefe zu erhaschen.

Für einen Moment blieb er so über den Rand des Brunnens gebückt stehen, dann richtete er sich auf und musterte die ihn umgebenden Straßen und Häuser.

Über den Dächern wurde die erste Ahnung der Morgendämmerung sichtbar, doch die Gassen lagen noch immer in der finsteren Stille der langsam weichenden Nacht.

Er stieß sich sachte von der Brunnenmauer ab und tauchte wieder in den Schatten der Häuser ein, um seinen Weg zu Béo fortzusetzen. Wie sonst auch nutzte er die Dunkelheit, um sich in ihr fortzubewegen und lautlos wie eine Raubkatze durch die Straßen zu wandern.

Als er die nächste Straße überqueren wollte, hörte er das Geräusch: ein rasches, gedämpftes Tappen in der Gasse hinter ihm.

Cridan reagierte sofort. Anstatt auf die Straße hinaus zu treten, wie er es vorgehabt hatte, behielt er seine Richtung bei und zog sich mit den nächsten Schritten noch näher an die Wand der Häuser zurück, um soweit wie möglich in der Finsternis ihrer Schatten zu verschwinden.

Mit gelassenen, aber raschen Schritten ging er die Straße hinunter, bog um die Ecke und presste sich dicht dahinter an die Wand. Mit der Rechten fasste er sein Schwert und zog es ein Stück weit aus der Scheide, während die Finger seiner Linken die Klinge umfassten und das leise Scharren verschluckten.

Ein Schatten bog um die Ecke, kaum mehr als ein Schemen nur, eine kurze flüchtige Änderung der Dunkelheit. Cridan wartete, bis er nahe genug herangekommen war, dann sprang er vor, das Schwert gezogen und in einem waagerechten Bogen vor sich führend:

»Stehenbleiben!«

»Himmel, Cridan! Lasst den Scheiß!«

Mert stand vor ihm, blass vor Schreck. Cridans Klinge hatte ihn, wie geplant, nur um Haaresbreite verfehlt.

Cridan schob die Waffe in die Scheide zurück.

»Ich soll den Scheiß lassen?« gab er kopfschüttelnd zurück. »Wer schleicht denn hier durch die Finsternis wie ein Dieb? Wenn Ihr mich erkannt habt, kommt doch einfach zu mir!«

»Na ja«, Mert lächelte schief und klopfte sich mit der Hand etwas Schmutz vom Ärmel seines langen Reisemantels, »ich wollte sehen, ob Ihr mich bemerkt.«

»Nun, das habt Ihr gesehen«, schnappte Cridan. »Und dabei riskiert, dass ich Euch einen Kopf kürzer mache! Bei allen Göttern, Mert, Ihr solltet es wirklich besser wissen!«

Mert lachte leise. »Ja, sollte ich, da habt Ihr unzweifelhaft Recht. Vielleicht warte ich aber einfach auf den Augenblick, an dem Ihr einen Fehler macht. Es wäre ausgesprochen befriedigend, Euch nachzuweisen, dass auch Ihr nicht unfehlbar seid.«

Cridan schnitt eine Grimasse. »Euer Leben ist ein reichlich hoher Preis für diese Befriedigung, wenn Ihr mir die Bemerkung erlaubt.«

Mert grinste, wurde jedoch sofort wieder ernst.

»Genug des freundlichen Geplänkels. Ihr seid in L‘hunival, insofern nehme ich an, dass Euer Plan aufgegangen ist.«

Cridan musterte ihn mit einem langen Blick.

»Verstellt Euch nicht, Mert. Ich sagte Euch schon einmal, dass Ihr mich nicht anlügen könnt. Ihr wisst ganz genau, wie es um die T'han T'hau bestellt ist und dass Enod sich entschieden hat, uns auf Gantuigh zu dulden. Ihr wärt verdammt schlecht in Eurer Arbeit, wenn Ihr das nicht wüsstet.«

Mert verzog den Mund.

»Ah, Ihr seid ungerecht, Cridan. Es ist kein gleichwertiger Ausgangspunkt, den wir haben, wenn Ihr mich so leicht überführen könnt. Also gut. Weshalb habt Ihr mich gerufen? Nebenbei – ein ausgesprochen kluger Schachzug, Eure Botschaft. Die Sache mit dem Buch…« Er lächelte.

»Das Gleichnis der Kapitel in Eurer Geschichte so zu nutzen, war ein guter Einfall. Und dass Ihr Euch am Hof des Herrschers in L‘hunival befindet, war ebenfalls aus der Nachricht zu lesen, wenn man die richtigen Schlüsse zieht. Sehr klug. Ihr braucht Hilfe?«

Cridan nickte. »In der Tat, brauche ich. Die Dinge haben sich ein wenig geändert. Ich glaube, Sureth arbeitet gegen uns. Zumindest befürchte ich das. Außerdem glaube ich, dass er noch mehr T'han T'hau auf seiner Seite hat, die vermutlich nicht einmal wissen, dass es Ratiko'khar überhaupt gibt.«

Mert rieb sich nachdenklich das Kinn.

»Ich nehme an, Ihr habt gute Gründe für diese Vermutungen?«

»Ja, habe ich. Ich habe T'han T'hau getötet, die auf seiner Seite standen und die ich nicht kannte. T'han T'hau, die auch nicht zu Inth Silias Gruppe gehören. Und ich glaube, dass er versucht hat, uns eine Falle zu stellen.«

»Eine Falle?« Mert hob die Brauen. »Lasst mich raten – es hat nicht geklappt. Aber was ist mit Eurem Bruder Guthrag? Ist er nicht Euer Garant gewesen, um zu erfahren, was bei Sureth vor sich geht?«

Cridan senkte den Blick.

»Ich bin mir nicht mehr sicher, auf welcher Seite Guthrag steht«, bekannte er. »Es mag sein, dass er weiterhin zu uns hält, aber ich ziehe die Möglichkeit in Betracht, dass dem nicht mehr so ist. Ebenso wie ich die Möglichkeit in Betracht ziehe, dass er gar nicht mehr lebt. Es gibt zu viele offene und lose Enden in dieser Geschichte. Was ist – helft Ihr mir? Es ist eine weitere Gelegenheit für Euch, die Geschichte der T'han T'hau mitzuschreiben und sogar mitzubestimmen. Davon abgesehen wäre ich Euch etwas schuldig.«

Mert blieb eine lange Weile stumm.

Dann hob er den Kopf, sah Cridan an und lächelte verschmitzt.

»Ihr seid ein gerissener Bastard«, sagte er. »Erst meint Ihr, mich im Sumpf halb ertränken zu können und mir mit dem Verschonen meines Lebens nicht nur Eure Freundschaft beweisen zu können, sondern mich damit in Eure Schuld zu stellen, indem Ihr mir vertraut auch ohne mein Vertrauen – und jetzt kommt Ihr mir so!«

Er schüttelte mit einem leisen Lachen den Kopf.

»Ich kann kaum ablehnen, und das wisst Ihr ganz genau. Zu groß ist die Verlockung, Euch Eure Grenzen aufzuzeigen und Euch ein wenig mit der Nase darauf zu stoßen, dass es Dinge gibt, die ich besser kann als Ihr.«

Cridan lachte ebenfalls. Er fühlte sich nicht im geringsten beleidigt oder angegriffen.

»Macht das, Mert, macht das. Genau deswegen habe ich Euch ja gebeten, mir zu helfen. Tut die Dinge, die Ihr besser könnt als ich!«

Mert lächelte.

»Gibt es eine Aussicht auf mehr als nur Eure Dankbarkeit?«

»Nur meine Dankbarkeit?« Cridan bleckte die Zähne in einem wölfischen Grinsen. »Gibt es etwas, das mehr wert wäre als meine Dankbarkeit?«

»Oh, durchaus«, entgegnete Mert, erstaunlich wenig beeindruckt. »Von Eurer Dankbarkeit kann ich mir nichts kaufen. Aber von zweihundert Dukaten, beispielsweise.«

»Zweihundert Dukaten?« Cridan blieb die Spucke weg. »Verdammt, Mert, Ihr seid teuer!«

»Das kommt auf den Standpunkt an«, erwiderte der Mann ungerührt.

Cridan seufzte. »Von mir aus. Ich werde sehen, was ich tun kann. Aber zweihundert Dukaten… Und dann lasst Ihr Euch von mir fast den Kopf abschlagen! Für nichts! Ihr seid doch verrückt!«

»Verrückt bin ich, weil ich Euch helfe«, entgegnete Mert knapp. »Ich nehme an, ich werde Euch hier in L‘hunival erreichen?«

Cridan neigte zustimmend den Kopf.

»Mein Platz ist an Mar'Tians Seite«, sagte er statt einer direkten Antwort.

»An Mar'Tians Seite?« wiederholte Mert beinahe überrascht, doch dann lachte er: »Ich hätte es mir denken sollen! Ein Mann wie Ihr braucht die Nähe zur Macht, ist es nicht so? Versucht in dieser Hinsicht nicht, mir etwas vorzumachen! Ihr seid der Möglichkeit des Einflussnehmens ganz genauso verfallen wie jeder andere, der einmal in Eurer Position gestanden hat.«

»Euch eingeschlossen, nicht wahr?« gab Cridan mit einem dünnen Lächeln zurück.

Mert nickte anerkennend.

»Ihr seid klug, Cridan. Aber das wisst Ihr ja schon. Nun gut. Ihr werdet von mir hören. Es wird ein paar Tage dauern, bis ich Sureths Spur gefunden haben werde. Ich habe eine Ahnung, wo er sich aufhalten könnte, aber das muss nicht stimmen.«

Cridan sah den Mann eine Weile schweigend an.

»Passt auf Euch auf, Mert. Es täte mir Leid, wenn Euch etwas zustößt.«

Mert erwiderte seinen Blick ebenso lange stumm.

»Ich weiß«, sagte er dann leise. »Das weiß ich, seit Ihr mich damals aus dem Schlammloch gezogen habt, anstatt mich darin zu ertränken. Ihr habt eine seltsame Art, Eure Freundschaft zu zeigen, ficha'thar, aber ich habe sie verstanden. Und ich möchte, dass Ihr Eure Freundschaft erwidert wisst.«

Mit diesen Worten nickte er ihm noch einmal zu, dann drehte er sich um und verschwand in den Schatten zwischen den Häuserwänden.

Cridan sah ihm einen Augenblick lang nach, bevor er sich abwandte und seinen Weg zu Béo fortsetzte.

Das Gespräch mit Mert hatte ihn aufgehalten: Béo wartete bereits auf ihn.

»Du bist spät«, bemerkte sie. »Ist etwas geschehen?«

»Nichts, worum du dich sorgen müsstest«, erwiderte er. »Ich habe einen Freund getroffen und mir ein wenig Zeit genommen, mich mit ihm zu unterhalten.«

Béo sah ihn mit zweifelnd gehobenen Augenbrauen an.

»Wer bist du, und was hast du mit Cridan gemacht? Mein Leibwächter bezeichnet niemanden als seinen Freund – von Tiko einmal abgesehen, und er würde sich niemals Zeit nehmen für eine harmlose Plauderei, wenn er eine Aufgabe zu erfüllen hat!«

Cridan versteckte seine Überraschung hinter einem kleinen Lachen.

Verdammt, sie kennt dich besser als du geahnt hättest! Wann hat sie das gesehen?

»Nun, sagen wir, es war mehr als eine harmlose Plauderei.«

»Hat es etwas mit der Nachricht zu tun, die ich für dich verschickt habe?«

Cridan machte eine zustimmende Geste. »Ja, das hat es.«

Sie nickte verstehend, schien aber zu spüren, dass er Nachfragen nicht beantworten würde.

»Enod hat wieder zu einem Gespräch geladen«, berichtete sie statt dessen. »Kommst du mit?«

Er neigte bejahend den Kopf.

»Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, begleite ich dich zu jedem Gespräch.«

Sie lachte und legte ihm eine Hand auf den Arm.

»Doch«, sagte sie fröhlich, »natürlich ist mir das aufgefallen. Zu Anfang fand ich es fürchterlich, aber nach einer Weile habe ich mich daran gewöhnt, einen zweiten Schatten zu haben. Und manchmal…«

Sie zögerte.

»Und manchmal?« fragte er vorsichtig nach.

Sie sah zu ihm auf, und das Lächeln, das ihre Lippen umspielte, schien sich in ihren Augen, die heute grau waren wie der Morgenhimmel, widerzuspiegeln.

»Manchmal finde ich es sehr beruhigend«, beendete sie ihren Satz. »Es… ist ein gutes Gefühl, dich in meiner Nähe zu wissen. Ich habe mich nicht unsicher ohne dich gefühlt, aber du…« Sie suchte nach den richtigen Worten. »Du gibst diesem abstrakten Gefühl der Sicherheit ein Gesicht. Verstehst du, was ich meine?«

Er erwiderte ihr Lächeln.

»Ja«, sagte er und legte seine Hand über ihre Finger. »Ja, ich verstehe, was du meinst. Auch wenn es das erste Mal ist, dass jemand so etwas zu mir sagt.«

»Dann ist es höchste Zeit, dass das passiert«, bemerkte sie, drückte seine Finger und hängte sich dann ganz bei ihm ein.

Cridan sah auf ihren blonden Scheitel hinab, und ein ungewohnt warmes Gefühl stieg in ihm auf. Für einen Moment war er versucht, einen…

Pass auf!

Er schüttelte den Gedanken ab, schob sie rasch auf seine andere Seite und sicherte mit schnellen Blicken die Umgebung, bevor sie weitergingen.

Mar'Tian und Enod saßen über eine Karte gebeugt am Tisch, und als Cridan mit Béo die Gemächer des Herrschers betrat, standen sie nahezu gleichzeitig auf.

Während der Soldat seine Frau in den Arm nahm und sie küsste, wechselte der Herrscher ein paar halblaute Worte mit den Dienern, die neben ihm standen. Dann wandte er sich an Béo:

»Mar‘Tian hat mit dem Frühstück auf Euch gewartet. Kommt, setzt Euch. Ihr seid gewiss hungrig und könnt ein paar gute Bissen gebrauchen.«

Béo warf Cridan einen Blick zu.

»Hast du schon gegessen?«

Cridan lächelte. Er wollte Béos unausgesprochene Einladung gerade höflich ablehnen, als Mar'Tian ihm zuvorkam:

»Ich will dich nicht enttäuschen, meine Liebe, aber ich möchte die wenige Zeit, die ich mit dir habe, auch mit dir verbringen. Cridan kann gerne später wieder zu uns stoßen, doch jetzt würde ich dich gern für mich haben.«

Cridan senkte gehorsam den Kopf und verließ den Raum.

Tatsächlich hatte auch er noch nichts gegessen, und so machte er sich auf den Weg in die große Halle, wo zu dieser Zeit ein reges Treiben herrschen würde.

Er ließ seine Blicke über die voll besetzten Tische schweifen, um einen freien Platz zu entdecken, da winkte Raggal ihm zu:

»Komm, setz dich hierher!«

Cridan ging zu ihm hinüber, und der jüngere T'han T'hau rutschte zur Seite, um ihm Platz zu machen.

Während Cridan sich aus den herumgereichten Körben bediente, beobachtete Raggal ihn. Dann sagte er unvermittelt:

»Ich habe mich noch gar nicht bedankt.«

»Bedankt?« Cridan sah von dem Brot auf, das er gerade dick mit Käse belegt hatte. »Wofür?«

»Na ja«, Raggal hob die Schultern, »zum einen dafür, dass du mich nicht umgebracht hast. Und zum anderen für die Lehrstunde neulich, mit dem Morgenstern. Ich…« Er stockte kurz, griff nach seinem Becher und trank einen Schluck, bevor er weitersprach.

»Ich hatte gehofft, wir könnten das wiederholen.«

Rasch fügte er hinzu: »Natürlich nur, wenn du nichts dagegen hast. Und Zeit dafür.«

Cridan biss in sein Brot, kaute und sah Raggal dabei nachdenklich an.

»Zeit ist, wenn ich nicht gerade in den Besprechungen bin, mein geringstes Problem«, antwortete er schließlich ehrlich. »Über das andere muss ich mir noch klar werden.«

Raggal sah auf seine Finger hinab. Man sah ihm an, wie schwer ihm die Worte fielen – vermutlich gar nicht die Worte an sich, sondern vielmehr, sie an Cridan zu richten. Doch nach einem kurzen Moment, in dem er sich gesammelt hatte, straffte er die Schultern, blickte Cridan an und sagte:

»Ich bitte dich darum. Meine Frage beinhaltet nämlich mehr als nur eine zweite Unterrichtsstunde mit dem Morgenstern.«

Cridan nahm einen weiteren Bissen und nickte auffordernd.

»Wie also lautet deine Frage?«

»Wirst du mich als deinen Schüler annehmen?«

Cridan hätte sich beinahe an seinem Brot verschluckt.

»Was ist das für eine Frage?« brachte er hervor, griff nach seinem Becher und spülte die Brotkrumen, die ihm im Hals steckten, mit einem großen Schluck hinunter.

Raggal schnitt eine Grimasse.

»Du bist der beste Kämpfer, den ich kenne – und noch viel mehr: Du bist der ficha'thar. Von wem könnte man besser lernen als von dir?«

Cridans erste Absicht war, Raggals Bitte grob abzulehnen, doch dann zwang er sich zum Nachdenken.

»Wie stellst du dir das vor?« fragte er.

Raggal hob die Schultern.

»Ich habe keine feste Vorstellung davon«, gestand er. »Was immer du zu geben bereit bist, ist mir genug. Ich dachte, wir könnten uns vielleicht regelmäßig treffen. Ich meine, ich habe gelernt, mit Waffen umzugehen und zu kämpfen, aber was du tust, ist… etwas ganz anderes. Und ich würde das gerne lernen. Alles andere wird sich von selbst ergeben, nehme ich an.«

Cridan musterte ihn.

»Meinst du nicht, du bist ein wenig alt für einen Schüler?«

Raggal lachte. »Wie? Nur weil ich keine fünfzehn mehr bin?«

Er schüttelte den Kopf.

»Nein, das meine ich nicht. Ganz im Gegenteil! Was willst du mit einem kleinen Jungen? Er wäre mit dir völlig überfordert, und du mit ihm. Davon abgesehen, halte ich es nicht für richtig, einen Jungen mit einer solchen Bürde zu belasten, wie du sie weitergeben wirst, wenn du erst damit anfängst.«

Cridan antwortete eine lange Zeit nicht, in der er über Raggals Worte nachdachte.

Er hat Recht. Du weißt, was Maret'kar und Skatarhak mit dir gemacht haben. Was sie aus dir gemacht haben. Das ist der Grund, aus dem du dich all die Jahre geweigert hast, einen Schüler anzunehmen. Raggal wird sich nicht so einfach formen lassen, aber was er zulässt, wird er aus freiem Willen tun.

Schweigend wandte er sich wieder seinem Essen zu.

Raggal saß neben ihm und wartete ohne ein Anzeichen von Ungeduld. Er saß einfach da und wartete, und schließlich gab Cridan sich einen Ruck.

»Von mir aus. Fünf Tage in der Woche, jeweils eine Stunde. Ich erwarte, dass du dir Zeit nimmst, wenn ich Zeit habe. Und ich erwarte, dass du auch außerhalb der Unterrichtsstunden übst. Ebenso wie ich erwarte, dass diese Übereinkunft unter uns bleibt.«

Raggal nickte langsam.

»Das sind Erwartungen, die ich erfüllen kann und die ich erfüllen werde«, antwortete er.

Cridan nickte, trank den letzten Schluck aus seinem Becher und stand auf.

»Dann komm. Wir haben zu tun.«

Sie gingen gemeinsam in die Übungshalle der Soldaten hinunter und suchten sich einen freien Platz, um den Unterricht fortzusetzen – und Cridan stellte wie auch schon beim letzten Mal fest, dass es ihm Spaß machte, Raggal etwas beizubringen: Der junge Mann war geschickt und mit Leidenschaft bei der Sache, und dass er bereits gut mit Waffen umgehen konnte, war für Cridan kein Hindernis, sondern vielmehr eine willkommene Grundlage, auf der er in Zukunft seinen Unterricht aufbauen konnte.

Sie arbeiteten fast zwei Stunden konzentriert, doch dann ließ Raggal plötzlich den Morgenstern sinken und deutete quer durch die Halle auf die Eingangstür, die in Cridans Rücken lag:

»Du kriegst Besuch!«

Cridan drehte sich um und entdeckte zu seiner Überraschung Béo, die mit großen Schritten die Halle durchquerte und ganz eindeutig auf ihn zu hielt.

Beinahe wie von selbst gingen seine Sinne in Alarmbereitschaft, erwachte das allgegenwärtige Misstrauen in ihm und ließ ihn den Raum plötzlich ganz anders wahrnehmen.

Béo schritt völlig unbeeindruckt durch die Soldaten.

»Hier steckst du«, sagte sie lachend. »Ich hätte es mir denken sollen! Wo Waffenlärm und Kampfschreie ertönen, kann mein T'han T'hau nicht weit sein. Komm – Enod wartet auf uns! Die Sitzung wird gleich beginnen.«

Er nickte langsam und wandte sich zu Raggal um. Der andere T'han T'hau machte eine zustimmende Geste und lächelte.

»Schon verstanden. Wer würde sich dem Ruf einer Königin widersetzen? Ich übe allein weiter.«

Cridan folgte Béo aus der Halle heraus und die Treppen hinauf. Dabei musterte er ihren schlanken Rücken, auf dem über dem zart gelben Stoff des Kleides der geflochtene Zopf hing.

»Du hast mich tatsächlich deswegen geholt?« wollte er wissen.

Sie lachte, ohne sich zu ihm umzudrehen.

»Weswegen denn sonst? Cridan, du bist wirklich seltsam heute! Ich weiß doch, wie gerne du dabei bist! Und woher solltest du wissen, wann wir mit dem Frühstück fertig sind? Mar'Tian hat dich ja nicht gerade freundlich vor die Tür gebeten!«

Jetzt war es an Cridan, zu lachen.

»Er war auch nicht unfreundlich«, entgegnete er. »Und ich kann ihn durchaus verstehen. Ihr verbringt nur sehr wenig Zeit miteinander, da ist jede Stunde wertvoll.«

Jetzt blieb sie doch stehen und wandte sich zu ihm um.

»Ja«, sagte sie ernst, »das ist sie. Und es ist berührend, dass ausgerechnet ein T'han T'hau wie du das anerkennt.«

»Ausgerechnet ein T'han T'hau wie ich?« Er runzelte die Stirn. Sein Blick ging an ihr vorbei, die Treppenstufen empor, bis die Windung des Ganges ihm weitere Voraussicht verwehrte. »An mir ist mehr dran als ein Schuppenpanzer.«

Sie lächelte. »Oh ja, Cridan, das weiß ich. Es ist mehr an dir, und es ist vor allem sehr viel mehr in dir.«

Der Blick, den sie ihm schenkte, ließ ihn schlucken, doch da hatte sie sich schon wieder umgedreht und lief die Treppe hinauf:

»Nun komm endlich! Herrscher warten nicht gerne!«

Allerdings, dachte er, während er hinter ihr her eilte. Noch so eine Eigenschaft, die wohl alle Herrscher dieser Welt miteinander teilen!

Die Sitzung verlief wie so zäh wie viele andere zuvor, und als Enod sie am späten Nachmittag endlich aufhob, waren sie nicht ein Stück weiter als vorher.

Da Mar'Tian noch zu tun hatte, bat Béo Cridan darum, sie bereits jetzt nach Hause zu begleiten. Er willigte gerne ein, doch zu seiner Überraschung bog sie direkt, nachdem sie aus der Burg getreten waren, nach rechts ab und ging quer über die Burgwiese den Hang hinunter.

»Wohin gehen wir?« fragte er.

»Ich möchte ein wenig zum Fluss hinunter«, antwortete sie. »Diese Gespräche ermüden mich und machen meine Gedanken träge und schwerfällig. Das Wasser hilft mir, wieder klar zu denken.«

Sie machte eine kleine Pause und fügte dann hinzu: »Ich bin an der Küste aufgewachsen. Ich bin gerne hier in den Bergen, und ich fühle mich in L‘hunival zu Hause, aber das Meer fehlt mir doch hin und wieder.«

»Ich kann dich gut verstehen«, murmelte Cridan. »Das Meer fehlt mir auch. Und das, obwohl ich in den Bergen groß geworden bin.«

Sie sah ihn von der Seite her an. »Woher dann die Verbindung zum Meer?«

Er lachte leise und beinahe ein wenig traurig.

»Das Meer bedeutet für mich Freiheit.«

Mehr sagte er nicht, doch sie schien es zu verstehen, denn sie nickte nur schweigend und setzte ihren Weg fort, bis sie an den Fluss kamen. Dort ließ sie sich am Ufer nieder, zog ihre Stiefel aus, raffte den Rock nach oben und ließ die Füße ins kalte Wasser baumeln.

Cridan blieb schräg hinter ihr stehen, wachsam nicht nur den Strom und seine Ufer, sondern auch die ihn umgebenden Wiesen musternd. In einiger Entfernung sah er den kleinen Wald, in dem er und Tiko sich damals versteckt hatten, und unwillkürlich warf er einen zweiten, noch genaueren Blick auf die Schatten zwischen den Bäumen.

Béos Seufzen ließ ihn aufmerken. Sie riss einen Grashalm aus und warf ihn ins Wasser, wo er rasch davon trieb. Sie sah ihm hinterher.

»Alle Flüsse führen zum Meer, nicht wahr? Dieser kleine Grashalm wird dorthin gehen. Ich wünschte manchmal, ich könnte es auch so machen. Zum Meer treiben und noch weiter, bis an sein anderes Ufer. Ich habe meine Familie so lange nicht mehr gesehen.«

»Du hast deine Familie hier«, sagte er leise. »Ajula, Mar'Tian und Rim‘var, Syrian…«

Sie lächelte. »Ja, das habe ich. Aber es gibt Tage, an denen vermisse ich meinen Vater und meinen Bruder. Und sogar unseren Hof mit all seiner Eintönigkeit, die ich einst gehasst habe.«

Sie blickte ihn an.

»Vermisst du deine Eltern? Deine Geschwister?«

Cridan verschränkte die Arme vor der Brust und sah sie mit gesenktem Kopf an.

»Wir T'han T'hau sind anders in dieser Hinsicht«, erwiderte er nach einer Weile. »Bei uns zählen Familienbande anders. Unsere Blutlinien sind verworrener und verstrickter als Eure, und wir sind meist mit so vielen T'han T'hau verwandt, dass es schwierig ist, den Überblick zu behalten. Wir haben eine Familie, aber sie bedeutet uns nicht das gleiche wie euch. Für uns zählen Treue und Freundschaft mehr als Blut.«

»Die Königslinie ausgenommen«, warf Béo ein.

Cridan lachte.

»Ja«, bestätigte er. »Die Königslinie ausgenommen. Aber die ist auch etwas Besonderes. Um auf deine Frage zurückzukommen: Ja. Manchmal vermisse ich meine Familie.«

»Wen am meisten?«

Cridan dachte eine Weile über ihre Worte nach.

»Großmutter Khal‘atra«, sagte er dann gedankenverloren. »Und den Mann, der einst ein Vater für mich war. Aber diesen Mann gibt es schon sehr lange nicht mehr.«

Sie sah ihn an.

»Es tut mir Leid«, flüsterte sie. »Es tut mir so schrecklich Leid, was hier auf Gantuigh geschehen ist.«

Er erwiderte ihren Blick und sah die Tränen in ihren Augen. Doch nur eine einzige rollte über ihre Wange.

Nach einem raschen, sichernden Blick ging er auf ein Knie nieder, streckte vorsichtig die Hand aus und wischte die Träne weg.

»Du trägst keine Schuld daran«, sagte er viel ruhiger, als er sich fühlte. »Nichts daran braucht dir Leid zu tun.«

Er hatte sie trösten wollen, doch statt dessen fing sie an zu weinen.

»Natürlich habe ich Schuld«, schluchzte sie. »Ich hätte ihn davon abhalten sollen! Ich hätte es wenigstens versuchen müssen! Als sie damals den Entschluss fassten, alle Dämonen zu töten… Ich hätte sie umstimmen müssen! Es kann nicht richtig sein zu töten! Es darf nicht richtig sein!«

Cridan legte einen Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. Sie lehnte den Kopf an seine Brust, und ihre Tränen durchnässten sein Hemd.

»Nein, Béo, Töten ist niemals richtig«, stimmte er ihr leise zu. »Und doch bleibt uns manchmal keine andere Möglichkeit, wenn wir selbst leben wollen. Mar'Tian und seine Ratgeber haben damals keine andere Möglichkeit gesehen. Aber sie tun es heute, und das ist zu einem großen Teil dir zu verdanken. Wenn du also Schuld trägst, hast du sie längst zurückgezahlt. Denn wir sind hier, wir sind am Leben, und auch wenn es momentan in den Gesprächen noch nicht danach aussieht, werden wir hier bleiben.«

Er legte das Kinn auf ihren Scheitel und hielt sie einfach fest, bis ihre Tränen versiegten und sie sich beinahe verlegen aufrichtete.

»Danke«, murmelte sie. »Ich… Ich lasse mich sonst nicht so gehen.«

Er machte eine wegwerfende Geste, stand auf und reichte ihr eine Hand.

»Komm, meine Königin. Ich bringe dich nach Hause. Ajula wartet bestimmt schon auf dich.«

Sie nahm ihre Stiefel, dann griff sie nach seinen Fingern und ließ sich von ihm auf die Füße helfen. Dabei hielt sie seine Hand einen Herzschlag länger fest, als nötig gewesen wäre.

Dämonentreue

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