Читать книгу Mit schwarzen Flügeln - Daimon Legion - Страница 9
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ОглавлениеIn der Frühe war der Horizont so klar, dass Nadja die Sonne aufgehen sehen konnte. Ein seltenes Schauspiel, welches man wegen der oft starken Luftverschmutzung eigentlich nicht wahrnahm. Aber in den vergessenen Außenbezirken gab es keine Autos, Klimaanlagen oder sonstige Maschinen, weshalb dieses Phänomen allein hier auftrat.
Und selbst im Laufe des Vormittags versperrten keine grauen Wolken die Sicht auf das blassgelbe Firmament, welches an manchen Stellen schon wieder Blau schimmerte.
Heute ist ein richtig guter Tag, dachte die junge Frau und lachte kindlich in den Himmel hinauf. Bei so einem schönen Omen würde sie sicher Glück haben.
Fröhlich gestimmt lief sie die in den Sand getrampelten Straßen ab und suchte, wie jeden neuen Morgen, nach allen möglichen Dingen, die sich noch verwerten ließen. Glas- oder Plastikflaschen waren es zumeist, vereinzelt fand sie im Müll sogar abgetragene Hemden, alte Hosen, Schuhe und auch Bücher, die niemand mehr haben wollte.
Letztens erst hatte sie einen ganzen Karton voller Kleidungsstücke gefunden, die sie mit ein paar Nadelstichen flickte und fast wie neu fertigte. Ihr Bruder war sehr stolz auf sie gewesen für diesen Fang.
Natürlich kam es wiederum vor, dass man weniger gute Entdeckungen machte. Tiere oder sogar Menschen, die an diesem verlassenen Ort gestorben waren. Gestern Abend hatte ein Bekannter von ihr die Leiche Leas gefunden.
Die arme Seele, trauerte sie um die verlorene Freundin, die sie seit ihrer Kindheit kannte und nun dem Hunger erlegen war. Vielleicht war es auch gut so. Seit der Totgeburt war sie bloß noch ein Schatten ihrer selbst gewesen.
Das stärkte aber in Nadja nur den Drang zu leben. Sie hatte nicht vor, sich aufzugeben und allein auf der Müllhalde zu sterben. Einige nannten sie naiv und eine Träumerin, doch sie glaubte daran, ihr Schicksal, was sie an dieses Elend band, ändern zu können.
Gerade an Tagen wie diesem, wenn der sonst so faulig riechende Wind nicht aus der Stadt, sondern nach dem Regen klar und sauber von der kargen Wüste weit draußen herwehte. Da war sie sicher, dass jeder den eigenen Weg selber bestimmen konnte.
Es war ihre Lebensfreude, die sie auch vom Erscheinungsbild her von anderen Bettlern unterschied.
Während die Alten ihre Leiber in farblose Lumpen kleideten und verdrießlich schauten, besorgte sie für ihren Bruder Ted, sich und alle, die es wollten, bunte Stoffe, womit die Geschwister und Freunde wenigstens etwas zivilisierter – lebendiger – wirkten und so schon mal die Geschäftsviertel betreten konnten, ohne gleich davongejagt zu werden.
Ebenso hielt sie es, allmorgendlich ihre milchkaffeebraune Haut zu waschen. Stets flocht sie ihr dunkles Haar ordentlich und hatte so bereits den Ruf einer hübschen Dame wett – wenngleich dieser Spruch mehr Spott war. Hinter ihrem Rücken nannten einige Frauen sie zu eitel und arrogant für ihren niederen Stand. Doch üblen Nachreden schenkte sie wenig Beachtung. Das Dasein war zu kurz und schwer genug, um sich noch mit der Meinung anderer zu belasten.
Ihre heutige Ausbeute beschränkte sich für das Erste auf ein paar abgeplatzte Teller und verbogenes Aluminiumbesteck. Nicht unbedingt schlecht, wenn man kaum etwas besaß, wovon man essen konnte.
Dennoch wollte sie nicht glauben, dass dies alles war, was der Müll hergab.
Nadja sah sich um. Verfallene Ruinen und Dreck beherrschten das Bild. Das einzige Gebäude, das noch gerade stand, war ein ausgebrannter Hochbau aus Zeiten, in denen sie noch nicht mal geboren war.
Ted hatte sie ständig darauf hingewiesen, unter keinen Umständen dieses Haus zu betreten. Es war brüchig und würde bald zusammenfallen. Wenn sie nicht vorhatte, von Trümmern begraben zu werden, hielt sie sich besser davon fern. Dort sei eh nichts mehr zu holen.
Dabei sollte ihr Bruder sie besser kennen. Neugierig war sie immer gewesen und als Kind konnten solche Geschichten sie noch abhalten, etwas Dummes zu tun. Doch jetzt war sie so gut wie erwachsen und brauchte keinen Beschützer mehr. Ob das Gebäude wirklich nichts mehr preisgab und tatsächlich so morsch war, wie man sagte, wollte sie allein herausfinden.
Außerdem kribbelte ihr Bauchgefühl und trieb sie in diese Richtung. Darauf hörte sie meistens und es hatte ihr bisher nie Kummer bereitet. Wahrscheinlich würde Ted sauer werden, bloß war ein Risiko oft mit von der Partie, wenn man Neues erkundete.
Nadja atmete tief ein, um sich zu wappnen, dann lief sie schnellen Schrittes zu dem alten Kasten hin.
Ihre wachen Augen nahmen zuerst den ganzen Schutt unter die Lupe, der rund um das Fundament des Hauses angesammelt war. Steine, Bretter, Reste verrosteter Stahlträger und Eisenrohre, Gipskarton und kaputte Fensterglasscheiben lagen mit Dämmungswolle und anderen Fasern vermischt wüst durcheinander. Sie sah alte Möbel, zerbrochen und kaputt. Vielleicht konnte man sie reparieren?
Vorsichtig kletterte sie auf dem Berg herum und versuchte, sich nicht an den Scherben und den spitzen Nägeln zu verletzen. Wundbrand konnte sie nicht gebrauchen.
Eine zersplitterte Kaminuhr wurde gefunden. Zerbrochene Blumentöpfe. Verbranntes Spielzeug und geschmolzenes Plastik, bei dem man nicht mehr erkennen konnte, wozu es mal gut war. Eine Lampe, deren Schirm noch brauchbar -
Stiefel.
Verdutzt betrachtete sie die Schuhe genauer. Die waren nicht alt oder angeschmort. Und ein Bein klebte dran.
„Großer Gott!“, hauchte Nadja leise und erkannte, bedeckt von Trümmern, die reglose Gestalt eines Mannes. Staub und Asche hatten sich auf seine blasse Haut niedergelegt und zu ihrem Entsetzen waren seine Sachen, sein schneeweißer Mantel, rot gefärbt von frischem Blut.
Hatte sie etwa das Pech, auch auf einen Toten zu stoßen?
Zögerlich tippte sie den Fuß an. Rüttelte ihn dann kräftiger.
„Hey ... Lebst du noch?“
Mit spitzen Fingern tastete sie nach dem feuchten Stoff seines schwarzen Shirts und hob ihn umsichtig an. So eine schreckliche Wunde hatte sie schon lange nicht mehr gesehen. Wenn der hier atmete, konnte man von einem Wunder sprechen.
Und tatsächlich glaubte sie, ein leises Röcheln zu hören. Rasch suchte sie seinen Puls und fand ihn nur schwach. Mit diesem Mann war es noch nicht aus.
„Ich hole Hilfe!“, versprach sie gefasst. „Bitte bleib am Leben!“
Sie berührte seine Hand und drückte die Finger. Eiskalt.
Sofort stand Nadja auf, glitt von dem Schutthaufen herunter und rannte so schnell es ging nach Hause. Nicht mal ihre Ausbeute nahm sie mit.
Die junge Frau eilte über einen ebenen, großen Platz, der umrandet war von fragilen Holzhütten und zerrissenen Tuchbauten. Der frische Wind pfiff durch Löcher in den Planen und Pappen, die vielen der Notunterkünfte als Dach oder nur Fenstervorhang dienten. Wohnbar gemachte Ruinen, mehr auch nicht.
Zumindest kosteten sie kein Geld, denn die Leute, die diese Baracken bewohnten, hatten zu tun, allein einige Kupfermünzen für Essen aufzutreiben.
Mit diesen Menschen hatte Nadja den Großteil ihres Lebens verbracht. Gute Menschen zumeist, doch von der Gesellschaft ausgestoßen, vertrieben und ignoriert. Vom Glück nicht begünstigt, lebten hier diejenigen, die nicht wussten, wohin sie gehörten. Einfache Bettler, abgebrannte Trinker auf dem Trockenen, arme Bauern im versandeten Land und sogar Taschendiebe ohne Talent.
Alle Heimatlosen fanden sich in Siedlungen wie dieser ein, für einen sicheren Schlafplatz, einen Teller warme Suppe oder einfach nur, um nicht mehr verloren zu sein und mit jemandem reden zu können. Wie in einer richtigen Familie. Sie lebten zusammen, arbeiteten zusammen. Halfen sich gegenseitig wieder auf die Beine und teilten das Wenige, was ihnen gegeben war.
Manchmal dachte Nadja, dies sei der letzte Ort auf Erden, wo die Menschen noch menschlich geblieben waren.
Kinder spielten mit einem abgewetzten Ball und tollten ihr so lachend entgegen. Begrüßten sie und forderten zum Mitspielen auf, aber sie lehnte freundlich ab und lief weiter.
Endlich erreichte sie keuchend eine Hütte, vor der gut zehn Leute standen. Nadja kannte sie alle beim Namen, doch nur die runzlige, alte Frau in braunen Lumpen, die ihren gedrungenen Leib schwerfällig auf eine Krücke stützte, sprach sie an: „Tante Tess, ich -“
Prompt wurde sie unterbrochen.
Die Stimme der Alten war ein Krächzen und, als wenn sie unter Atemnot litt, so japste sie: „Wenn du jemanden begrüßt, sagst du ‘Guten Tag’, Mädchen. Habe ich dir keine Manieren beigebracht?“
„Doch, schon, aber -“, nur als Nadja sah, dass ihre Tante erneut zum Wort ansetzte, beugte sie sich ihrer Ordnung und sagte: „Guten Tag, Tante Tesla.“
Eigentlich war sie gar nicht ihre Tante. Diese Großmutter hat sich um die verwaisten Geschwister gekümmert, seit ihre Eltern an der Grippe gestorben waren, die vor fast zwei Jahrzehnten in dieser Gegend viele Opfer forderte. Oder war es die Pest? Typhus? Nadja war zu klein gewesen und heute hatte sie keine Erinnerungen mehr an ihre wahre Familie. Tesla hätte sie auch dem Tod überlassen können, tat es aber nicht. Die Zeit mit ihr war teilweise nicht ganz einfach gewesen, dennoch waren Ted und sie unter ihrer Obhut herangewachsen. Dafür schuldeten beide ihr große Dankbarkeit.
Die bejahrte Frau nickte anerkennend und erwiderte: „Guten Tag, mein Kind. Nun, was möchtest du von mir?“
Nadja wollte schon losreden, da brach ein Hustenanfall schwer über Tesla herein, und bevor sie nicht fertig war, den Schleim aus ihrem Rachen zu lösen, konnte man es vergessen, von ihr erhört zu werden.
Trotz unruhig scharrender Füße, wartete das Mädchen geduldig ab und wurde mit offenen Ohren belohnt.
„Tante, ich habe einen Verwundeten bei dem alten Hochhaus gefunden!“ Zur Untermalung wies sie ihre blutverschmierten Finger vor. „Ich brauche dringend Leute, die mithelfen, ihn zu retten! Bitte, alle hören auf dich, hilf mir!“
„Wenn er so schwer verwundet ist, wie du meinst, wird er es eh nicht überstehen. Selbst wenn wir ihm helfen, wird er sterben. Warum also sollte ich Zeit damit verschwenden, einem Toten zu helfen? Lassen wir ihn gehen.“
Das Lob für die Menschlichkeit nahm Nadja zurück, als sie fassungslos die Worte ihrer Tante hörte.
Tesla schien sich daran nicht zu stören und wollte schon in ihre Hütte gehen, da hielt das Mädchen sie auf.
„Er ist aber noch nicht tot, und solange er atmet, werde ich hoffen, dass er gesund wird! Tante, ich gebe ihn nicht so einfach -“
Sie zuckte zurück, als die Alte einen harten Befehlston anschlug: „Du vergeudest also freiwillig unsere schwachen Ressourcen an einen Fremden, von dem du nicht einmal weißt, ob er es überstehen wird?! Wenn er geht, war alles umsonst. Es krepieren jeden Tag Menschen, Kind, weshalb du deine Kraft dafür einsetzen musst, den Lebenden so gut es geht zu helfen. Den Toten kann man nur ein Grab und etwas Trauer bieten. Denen geht es aber am besten, denn sie haben den Kampf des Lebens hinter sich. Lass diesen Mann also sterben.“
„Und sein Grab?“, fragte Nadja in letzter Hoffnung auf Unterstützung. Um ihn zu begraben und die Trauer zu spenden, musste er hergebracht werden.
Tesla schlug ihr die Tür, die aus groben genagelten Brettern bestand, vor der Nase zu. „Später“, krähte die Alte aus dem Inneren. Damit war Funkstille.
So was Verbohrtes ...
Zwischen Wut und aufsteigender Verzweiflung hörte Nadja sich bei den restlichen Anwesenden Hilfe suchend um. Doch all die Bekannten und Freunde konnten ihr Bitten nicht erfüllen. Sie sollte die Sache mit Teslas Urteil abhaken. Dank ihrer Weisheit lebten sie schließlich noch alle und waren gesund. Manche Entscheidungen fallen nun mal schwer.
„Ich habe es ihm doch versprochen“, flehte sie. „Ich habe versprochen, Hilfe zu holen!“
Wie geprügelte Hunde sahen sie von ihr weg.
Letztlich schnaufte sie enttäuscht und machte kehrt.
„Gut, dann rette ich ihn halt eben allein!“
Zornig stapfte sie davon. Wenn sie gewusst hätte, dass ihr Anliegen abgelehnt werden würde, wäre sie gleich bei ihm geblieben, statt die Strecke hin und her zu rennen. So eine Enttäuschung, nur weil die Chance gering stand, dass ...
„Hey, Trotzkopf, lass die Nase nicht hängen!“, rief jemand hinter ihr und die Stimme kannte sie zu gut. War er bereits von seiner Runde zurück?
„Teddy!“ Sofort schloss sie ihn in die Arme und drückte ihr Gesicht an seine Brust, wie sie es schon als Kind immer getan hatte, wenn sie Trost suchte.
Ihr Bruder legte seine Arme schützend über sie. „Ist ja gut. Hast du dich wieder mit der alten Hexe gestritten?“
Sie überschüttete ihn mit einem Redeschwall von bösen Worten über ihre Tante und die Jasagenden, und Ted klingelten gleich die Ohren.
„Okay, okay“, wehrte er ab. „Ma’ ganz langsam. Wo brennt’s denn, Schwesterherz?“