Читать книгу Wintercount - Dämmerung über dem Land der Sioux - Dallas Chief Eagle - Страница 10

Оглавление

DAS GELÜBDE

In Keyaschantes Ohren hallten die Stimmen hunderter Vögel wider, als er nach einer Ewigkeit sein Bewusstsein wiedererlangte. Wie lange hatte er hier wohl gelegen?

Ein kalter Wind jagte ihm einen Schauer über den Rücken, und dieses Zittern sandte Wellen des Schmerzes über das rohe und blutige Fleisch. Ein Sonnenstrahl, von den Bäumen etwas gefiltert, stach in sein Auge. Die Sonne stand im Osten. Er hatte also die ganze Nacht hier gelegen – oder waren es zwei? Sein Körper fühlte sich an als wäre eine Horde wilder Pferde darüber getrampelt und Keyaschante benötigte all seine Kraft und seinen Mut, um auch nur einen Finger zu heben.

Er schaute benommen auf seine ausgestreckten Arme und konnte sehen, dass er immer noch festgebunden war. Der feuchte Morgentau hatte die Stricke aus Rohleder durchnässt, und sie hingen ausgesprochen locker. Dies hatte er sicherlich dem Heiligen Mysterium zu verdanken, und seine spirituelle Kraft musste sehr stark sein, dass er überlebt hatte.

Mit seiner rechten Hand scharrte er die Erde um den Pflock weg. Trotz der Kühle des frühen Morgens, perlte ihm bei dieser Anstrengung der Schweiß in Bächen über den Körper. Mit dem Mut der Verzweiflung grub er beständig weiter, bis der Pflock sich endlich bewegte.

Mit letzter Kraft zog er ihn aus der Erde, und der graue Schleier der Bewusstlosigkeit legte sich wieder über ihn. Keyaschante kämpfte mit aller Macht gegen das Schwinden seiner Sinne an, denn er wusste, dass ihm nicht viel Zeit blieb. Wenn die Sonne erst hoch genug stand, dann würden sich die Stricke wieder zusammenziehen und die Blutversorgung zu seinen Händen und Füßen unterbrechen.

Er arbeitete fieberhaft daran, seine andere Hand zu befreien, und als das gelang, versuchte er, sich mit seinen Armen aufzustützen. Die Anstrengung schickte wahre Wellen brennenden Schmerzes über seinen Rücken.

Es war unerträglich, und er fiel, am ganzen Körper zitternd, zurück auf seine Brust. Er schloss seine Augen, und mit äußerster Anstrengung brachte er seinen Körper in eine Position, in der es ihm möglich war, seine Füße zu befreien.

Inbrünstig dankte er dem Allerheiligsten Wesen für seine Hilfe, und gelobte, für seine Befreiung den Sonnentanz auf sich zu nehmen, wenn er es zurück in sein Dorf schaffte. Genauso dankbar war Keyaschante, dass er dem weisen Ratschlag seines Großvaters gefolgt war und seinen Körper bis zur höchsten Leistungsfähigkeit gestählt hatte.

Jedes Gelenk und jeder Muskel schmerzte von der langen Zeit der Bewegungslosigkeit, trotzdem kämpfte er sich schließlich mühsam auf die Füße. Keyaschante stolperte mit weichen Knien einige Schritte rückwärts und fiel dabei über die Leiche von Dürrer-Vogel. Er landete auf dem geschundenen Rücken und schnellte wie von der Tarantel gestochen auf den Bauch, um schwer schnaufend darauf zu warten, dass die stechenden Schmerzen aufhören würden.

Er schaute wie gebannt in Dürrer-Vogels tote Augen und konnte doch nichts anderes tun, als immer wieder auf diesen leblosen Körper zu starren. Als sich seine wirbelnden Gedanken beruhigten, konnte sich der junge Krieger in etwa die Geschehnisse zusammenreimen, die sich ereignet haben mussten.

„Tscheyesa-win!“ Der Gedanke an seine Braut veranlasste ihn aufzustehen. Sie war nirgendwo zu sehen. Aus den Spuren am Boden konnte er relativ einfach lesen, wie Dürrer-Vogel ermordet worden war. Schließlich entdeckte er auch die Stelle, an der zwei Männer ihre Pferde bestiegen hatten und fortgeritten waren, mit kleineren Fußspuren, die hinter ihnen hergestolpert waren.

Tscheyesa-win war also immer noch eine Gefangene!

Keyaschante taumelte zum Fluss und tauchte seinen schmerzenden Körper in die kühlen Fluten. Das Wasser reinigte die Wunden auf seinem Rücken und linderte die Schmerzen auf seinem geschundenen Körper.

Als er dazu fähig war, schmierte er sich feuchte Erde auf die Peitschenstriemen und zog sich Dürrer-Vogels Kleidung an. Die Kleidung würde seinen Rücken vor der Sonne schützen, und mit dieser Art von Bekleidung sah er wenigstens wie ein Indianer aus, nur für den Fall, dass seine Leute ihn finden sollten.

Keyaschante erkannte schweren Herzens, dass er Tscheyesa-win nicht folgen konnte, denn er musste sich erst von seinen Wunden erholen. Es wäre töricht, wenn er dies nicht täte, denn dann würde er sicherlich sterben, eine Tatsache, die er so nicht akzeptieren wollte. Als Nächstes sollte er unbedingt einen Yuwipi-Mann, einen Medizinmann, aufsuchen; am besten seinen eigenen Großvater. Er brauchte dringend dessen Rat!

Er machte sich auf den Weg, um Hilfe zu suchen, und taumelte dabei schwankend, mit verschleiertem Blick umher. Beharrlich hielt er sich in der ungefähren Richtung, in der sein Großvater auf ihn warten würde. Während er lief, dachte er an nichts anderes, als an die Vernichtung der verhassten weißen Verbrecher.

Er würde nicht eher ruhen, bis er Tscheyesa-win gerächt hätte.

Manchmal blieb Keyaschante stehen und sah sich suchend um, doch die Umgebung erschien ihm nun leblos und leer. Zum ersten Mal in seinem jungen Leben hatte die Natur ihre Schönheit verloren. Sein Verstand weigerte sich, die wundervolle Pracht der Natur wahrzunehmen; längst hatte er jedes Interesse an den Dingen verloren, die ihn umgaben. Sein Herz und seine Gedanken beschäftigten sich nur noch mit Tscheyesa-win, dachten unentwegt darüber nach, wie er sie finden und retten konnte.

Mit einer Ehe ging man eine tiefe Verpflichtung ein, und ihre Beziehung war so innig und vertrauensvoll gewesen, dass die Qualen, die sie seit ihrer Begegnung mit Dürrer-Vogel ausgehalten hatten, geradezu nach Rache schrieen.

Ob es nun richtig oder falsch war, spielte keine Rolle. Er musste seiner Bestimmung folgen, ungeachtet der Folgen oder der Mittel, die er dazu in Kauf nehmen musste!

Falls ihm dies gelänge, würde er in der Achtung seiner Leute steigen und das wurde von dem Enkel Chiefeagles auch erwartet. Nicht nur seine Familienmitglieder, sondern all diejenigen, aus denen sich die Versammlung der Sieben Ratsfeuer zusammensetzte, würden verlangen, dass er seine Rache in die Tat umsetzte.

Keyaschantes stolpernde Schritte wurden noch langsamer, als er versuchte, sich an die Worte seines Großvaters zu erinnern. Er bemerkte nicht einmal, dass er stehen blieb und die Worte sich in seinem Kopf formten. Nun konnte er Chiefeagles Worte der Weisheit hören, so, als ob sie gerade erst gesprochen wurden.

„Mein Sohn, jeder hat die Pflicht, das zu tun, wozu er bestimmt ist; sowohl die Schwachen als auch die Starken und jeder muss dies mit all seinen Fähigkeiten und all seiner Stärke versuchen. Aufzugeben, wenn alles gegen dich zu sein scheint, ist ein Zeichen der Schwäche und Feigheit. Wenn du durcheinander bist und nicht mehr klar denken kannst, dann lege das Gelübde ab, den Sonnentanz zu tanzen. Das Heilige Mysterium, das uns alle beschützt, wird dir die Kraft geben, zu einer Antwort zu gelangen…!“

Als die Worte in Keyaschantes Gedächtnis verklangen, konnte er die Gestalt seines Großvaters wie durch einen Nebelschleier sehen. Er hob seine Arme und stimmte von Gefühlen überwältigt ein Gebet an, das aus tiefstem Herzen kam. Man konnte kein Wort vernehmen, sondern nur die Bewegungen seiner Lippen sehen, als sie die Worte formten.

„Oh, Heiliges Mysterium, Du bist die Kraft, die mich lenkt, und mein Meister! Schaue auf mich und nimm mich bei der Hand. Ich bin ein armer und verlorener Junge, der in der weiten Fremde umherirrt. Ich brauche Kraft, eine Kraft, die nur Du mir geben kannst, um dem neuen Tag ins Angesicht zu schauen. Heute scheint die Sonne nicht für mich, denn sie hat sich hinter den dunklen Wolken der Verzweiflung versteckt. Mein Herz ist voller Sorgen, ich weiß wohl, dass man die kostbarsten Dinge im Leben mit Leid bezahlen muss, aber mein Geist muss mehr ertragen, als ich alleine zu ertragen vermag. Ich bitte dich, spende mir Trost, damit ich diese große Qual erdulden kann. Oh, Großer Geist, stärke meinen Willen, so dass ich meine geliebte Tscheyesa-win wiederfinde.

Du hast es mir erlaubt zu leben und meine geistigen und körperlichen Kräfte wiederzuerlangen, um das tun zu können, was ich tun muss. Nun lege ich das Gelübde ab, zu Ehren deines mächtigsten Symbols zu tanzen – der Sonne.“

Keyaschante beendete sein stilles Gebet, doch seine Arme blieben ausgestreckt, bis bunte Lichtreflexe um ihn herumwirbelten und ihn zu verschlingen drohten. In seinen Ohren erschallte das Grollen des Donners; und er hatte seine Antwort von dem Allmächtigen selbst erhalten. Langsam gaben seine Beine nach und er sank auf die Knie. Nur einen Moment gelang es ihm, das Gleichgewicht zu halten, dann fiel er vornüber – mit dem Gesicht auf den Boden.

Er rollte sich zur Seite, und seine Hände umfingen seine angewinkelten Knie, und er wurde sich plötzlich bewusst, dass er noch nie in seinem Leben derart müde gewesen war. Seine schmerzenden Beine zeugten von der Anstrengung, die er durchgemacht hatte. Seine Hände waren noch immer taub, weil sie zu lange an die Pflöcke gefesselt waren.

Sein Rücken fühlte sich an, als hätte jemand tausend Feuer in seinem Fleisch entfacht. Der Hunger zehrte an seinen Kräften. Er hasste die Tränen, die in ihm aufstiegen und die er nicht mehr kontrollieren konnte. Sie hinterließen verschmierte Spuren auf seinem schmutzigen Gesicht, aber auch der stärkste Mann musste manchmal aus Selbstmitleid weinen.

Einige Augenblicke später hatte er sich wieder im Griff, denn er wusste, dass er weitergehen musste. Er würde nicht eher ruhen, noch würde er Frieden oder Trost finden, ehe er Tscheyesa-wins Stimme oder ihr entzückendes Lachen hörte; oder er sie wieder berühren und in seinen Armen halten konnte.

Keyaschante schämte sich nun seiner Tränen nicht mehr. Sie zeigten, dass die Gefühle eines Mannes lebendig waren, obwohl sie niemals in Anwesenheit anderer vergossen werden durften. Ein solches Verhalten wurde von seinen Leuten missbilligt; die Stolzen würden mit Verachtung auf ihn herabschauen, die Unbarmherzigen würden ihm Vorwürfe machen, denn Tränen wurden als Zeichen dafür angesehen, dass der Mut eines Mannes verschwunden war.

Aber Keyaschante befand sich alleine inmitten des Herzens von Mutter Natur, und sein Leid wurde ein wenig durch das stetige Fließen der Tränen gelindert; es waren stolze Tränen, die das Heilige Mysterium verstehen und gutheißen würde.

Der einsame Krieger weinte sich in den Schlaf, und die Sonne versank still hinter dem Horizont.

Als Keyaschante Stunden später die wärmenden Strahlen der aufgehenden Sonne spürte, wurde ihm bewusst, dass ein neuer Tag angebrochen war. Die Wärme der Sonne brachte seinem Körper Linderung, und ihre Strahlen schienen das Gefühl von Erschöpfung, das ihn wie ein Nebel umgeben hatte, zu durchbrechen. Mit dem Instinkt eines wilden Tieres spürte der Sioux-Junge, dass die Morgensonne neue Kräfte in ihm weckte.

Keyaschante lag da, rieb sich den Schlaf aus den Augen und dachte über den vergangenen Abend nach. Er konnte den nagenden Hunger in seinen Eingeweiden kaum noch ertragen. Er sehnte sich nach Fleisch – frischem Fleisch, von dem das Blut noch tropfte. Wenn jemand an diese Art von Ernährung gewöhnt ist, dann kann einen der Hunger nach Fleisch in den Wahnsinn treiben. Er musste Fleisch essen!

Er erhob sich behutsam, um zu verhindern, dass sein Rücken wieder anfangen würde zu bluten. Keyaschante ging zum Ufer eines schmalen Flusses hinunter, der nur wenige Meter entfernt lag. Er entledigte sich seiner Kleidung und ließ die kühlen Fluten seinen Körper liebkosen. Er konnte förmlich fühlen, wie die Erschöpfung aus seinen schmerzenden Muskeln wich.

Er stieg aus dem kalten Wasser und ließ seine Haut in der warmen Sonne trocknen, ehe er sich wieder anzog. Er hätte gerne Öl oder Fett gehabt, um es auf seine Wunden zu streichen, und die Augen des Jünglings suchten die Umgebung nach Spuren von Wild ab. Mit etwas Glück würde er bald Fleisch haben, um seinen Hunger zu stillen und Fett, um die Haut seines geschundenen Rückens zu glätten.

Da der Krieger ein geschickter Jäger war, wusste er, dass er sich einen Platz suchen musste, an dem er darauf warten konnte, dass das Wild zu ihm kam. Er entschied sich, dort zu bleiben, wo er sich gerade befand, da es ihm sein angeschlagener Zustand nicht gestattete, eine längere Strecke zu laufen.

Es brauchte mehrere Stunden der Geduld – die Sonne hatte bereits ihren höchsten Punkt überschritten -, ehe er eine schwache Bewegung im Unterholz vernahm. Das Auge des Jägers ist darauf geschult, auch die kleinste Veränderung der Umgebung zu sehen. Sein Überleben hängt davon ab und so wird es zu seiner zweiten Natur, bei jeder fremden Bewegung aufzuhorchen.

Dem Heiligen Mysterium dankend, hob Keyaschante den Bogen und den Köcher auf, die irgendwann einmal Dürrer-Vogel gehört hatten, und wartete hinter einem Salbeigestrüpp, das ihm als Deckung diente.

Der Hirsch bemerkte die Gefahr nicht und trottete über das offene Gelände auf den Fluss zu. Seine Nüstern zitterten bei dem Versuch, die Witterung eines Feindes aufzunehmen, doch schon traf ihn der tödliche Pfeil.

Der Sioux vergaß augenblicklich seine wunden Glieder und seinen schmerzenden Rücken, und gekonnt schoss er in schneller Folge zwei weitere Pfeile ab.

Der junge Hirschbock bäumte sich auf und fiel zur Seite, kämpfte sich wieder hoch, rannte ein paar Schritte, fiel wieder hin und blieb dann am Ufer des Flusses reglos liegen.

Keyaschante benutzte das Stück eines zerbrochenen Feuersteins als Messer, um das Tier auszuweiden und dessen Leber herauszuschneiden. Das noch warme Blut lief dem Sioux über Kinn und Oberkörper, als er einen Teil der Leber aß, erst dann wandte er seine Aufmerksamkeit dem Errichten einer Feuerstelle zu.

Mit getrocknetem Moos und dem Feuerstein, den er mehrmals gegen einen Stein schlug, war das Entfachen eines Feuers einfach, und so brannte das Feuer aus Salbeiholz bald lichterloh.

Während Keyaschante darauf wartete, dass das Feuer zu einer glühenden Schicht aus Kohlen herunterbrannte, trennte er ein dickes Stück Fleisch vom Rumpf des Tieres ab, um es darauf zu braten. Als endlich die niedrigen Flammen das Wildbret garten, waren die daraus aufsteigenden Wohlgerüche mehr, als er ertragen konnte.

Gierig verschlang er ein großes Stück Fleisch und spülte es nur mit Wasser herunter, dass wohl jeder zivilisierte weiße Mann tödlich erkrankt wäre. Nicht so aber Keyaschante. Nur zu oft hatte der Indianer hungern müssen, bis endlich eine Jagd erfolgreich gewesen war – dann aber hatte man sich voll stopfen können, so, als würde es nie wieder etwas zu essen geben. Dies war die normale Lebensweise eines echten Nomaden.

Das reichhaltige Essen und eine weitere Nacht der Ruhe belebten Keyaschantes Körper und Geist und gaben ihm die Kraft, die nächsten Tage seiner Wanderung in Richtung Heimat durchzuhalten.

Während er lief, bemerkte er plötzlich in der Ferne die Gestalt eines Indianers auf einem Pferd, dessen Umrisse sich deutlich vom Horizont abhoben. Dies war ein wundervoller Anblick für jemanden, der seit Tagen durch die Einsamkeit irrte, und so gab Keyaschante dem Impuls nach und ließ das Heulen eines Wolfes ertönen. Es tat gut, die Erwiderung dieses Freundschaftsrufes zu hören. Seit Tagen hatte er nicht mehr den Klang einer menschlichen Stimme gehört, geschweige denn seine eigene!

Der einsame Späher, der Keyaschante beobachtet hatte, kämpfte sich, zur Begrüßung winkend, durch das Unterholz und ritt langsam den Hügel hinunter, um den einsamen Wanderer zu treffen. „Hunka! Hunka! Mein Sohn, mein Sohn!“, war der ungläubige Ausruf des Reiters. Er sprang von seinem Pferd und rannte zu Keyaschante, um ihn zu umarmen. „Was ist dir widerfahren? Wo ist Tscheyesa-win?“

„Hunka Ate, Hunka Vater, ich habe schlechte Neuigkeiten. Einige abtrünnige weiße Männer, Deserteure der Blauröcke, haben uns ohne Vorwarnung überfallen. Sie haben mich ausgepeitscht, bis ich die Peitsche nicht mehr spürte. Sie haben mir Tscheyesawin gestohlen. Sie haben sie mir weggenommen und ich konnte nichts dagegen machen!“ Trauer und Wut schwangen in seiner Stimme mit, Zeichen seines ungeheuren Verlustes.

Zwischen einem Hunka und seinem Hunka Vater besteht in der Regel eine sehr enge Bindung, und Keyaschante war dankbar, dass dies die erste Person war, der er begegnete. Die Beziehung zu einem Hunka ist schwer zu definieren, denn sie ist weder eine Bruderschaft noch eine Blutsverwandtschaft. Zwei Männer sind durch einen Pakt gebunden, der viel stärker ist als Freundschaft, manchmal ist die Bindung sogar stärker als unter Geschwistern. Der Hunka Ate ist der Ältere von beiden, ähnlich wie bei einer Vater-Sohn Beziehung. Dieses Konzept der Wahlverwandtschaft wird bei den Sioux schon seit Urzeiten so durchgeführt.

„Komm mit! Auf der anderen Seite des Hügels habe ich gerade ein Jagdlager aufgeschlagen. Dort werden wir hingehen und ich werde dir Medizin für deine Wunden geben. Du schläfst, und dann werden wir reden.“

Gall, ein Kriegshäuptling der Hunkpapa Sioux, bat seinen Hunka, sich auf sein Lager aus Häuten zu legen. Als er vorsichtig die Kleidung von den Wunden des Jungen entfernte, zitterten seine Hände vor Entsetzen. Sanft rieb Gall warmes Bärenöl auf dessen geschundenen Rücken.

Auf Galls Gewissen lastete das Gefühl der Schuld, denn er fühlte sich für das Auspeitschen und für Tscheyesa-wins Entführung verantwortlich. Als Hunka Ate hätte er seinen Hunka nicht aus den Augen lassen dürfen, um ihn und Tscheyesa-win vor möglichen Gefahren zu schützen. Er, Gall, hätte niemals die Zustimmung geben dürfen, Hunka Ate zu werden, wenn er seinen Schützling nicht beschützen konnte. Es war ganz natürlich, dass Keyaschante so von der Liebe eingelullt gewesen war, dass er nicht auf mögliche Gefahren achtete.

„Mein Herz liegt im Staub, mein Sohn. Meine Trauer ist eine Last, die ich in deinem Namen ertragen muss. Ich werde die Lanze der Rache für dich führen. Nun schlaf, mein Junge, und du wirst dich besser fühlen.“

In dem Bewusstsein, dass er seinem Freund vertrauen konnte, befand sich Keyaschante bald im Reich der Träume. In seinen Träumen beschäftigte er sich mit seiner ersten Begegnung mit Gall und erinnerte sich voller Dankbarkeit an die Zeremonie, die ihn vor vielen Wintern zu Galls Hunka gemacht hatte:

Es war der Tag, als eine Gruppe Hunkpapa Sioux in sein Dorf gekommen war, um Hilfe im Kampf gegen die Weißen zu suchen. Der Anführer dieser Gruppe wurde von seinen Anhängern Yellow Forehead genannt, doch Chiefeagle und seine Anhänger nannten ihn Gall. Es entwickelte sich eine starke Freundschaft zwischen dem berühmten Gall und Keyaschante, der damals noch ein Kind gewesen war, und Gall wurde dessen Vorbild. Das tiefe Verständnis zwischen dem Mann und dem Jungen beeindruckte Chiefeagle derart, dass sein Großvater das Abhalten einer Hunkazeremonie ermöglichte, so dass Gall den Jungen adoptieren konnte.

Keyaschante konnte sich lebhaft an die Zeremonie erinnern; er sah die heiligen Gegenstände der Hunkazeremonie deutlich vor sich: den Schädel eines Büffels, an dem noch die Hörner befestigt waren; die beiden Klappern, das Süßgras und den Salbei; die Maisähren; den Behälter für das Feuer; die spezielle Trommel und das Gerüst. Besonders deutlich sah er die zwei langen Stäbe, die beide in etwa die gleiche Größe hatten und die beiden Hunkas symbolisieren sollten.

Sie waren vier Ellen lang und ihre schmalen Enden hatten den gleichen Durchmesser wie der kleine Finger eines Mannes. Auf einem Drittel des Weges vom breiten Ende entfernt, waren sechs Federn des Goldenen Adlers befestigt. Wenn der Stab parallel zum Boden gehalten wurde, dann fielen diese Federn in einen prächtigen strahlenförmigen Kreis auseinander. Ein Drittel vom schmalen Ende entfernt, wurde ein Büschel Haare vom Schwanz eines Pferdes in Form einer Quaste angebracht. Eine ähnliche Quaste aus Büffelhaar war am schmalen Ende befestigt. Die Stäbe und das Gerüst waren beide rot bemalt.

An einige der Einzelheiten konnte er sich nur schwer erinnern, da er zu dieser Zeit noch nicht sehr alt gewesen war. Aber sein Großvater hatte sie seitdem oft erwähnt, auch den bedächtigen und respektvollem Umgang mit den Stäben und Klappern. An das Rauchen der Pfeife dagegen konnte er sich sehr genau erinnern. Dies war der wichtigste Teil des Tages gewesen, denn die Pfeife war die höchste Form des Gebetes zu Wakan-Tanka, dem Heiligen Mysterium.

Er erinnerte sich daran, welchen Stolz er empfunden hatte, als er und Gall mit Lederriemen zusammengebunden wurden; Arm an Arm, Seite an Seite, Bein an Bein. Ein roter Streifen wurde auf ihr Gesicht gemalt – von Wange zu Wange; und ein weiterer verlief von der Stirn über die Nase bis zum Kinn.

Der Mann, der die Zeremonie durchführte, schwang den Pferdeschweif über ihnen und stimmte einen Singsang an: „Du bist an deinen Hunka gebunden und er ist ein Teil von dir. Wenn du den Streifen auf dein Gesicht malst, musst Du daran denken, dass du all das, was du hast, mit ihm teilst. Und was er hat, wird er dir geben, wenn du es dir wünschst. Wenn es ihm schlecht geht, wirst du ihm helfen. Falls ihm jemand Leid zufügt, wirst du für ihn die Lanze tragen, um ihn zu rächen, denn es wird so sein, als wäre dir Leid zugefügt worden. Deine Pferde, deine Kleidung gehören ihm und die seinen gehören dir. Seine Kinder sind wie deine eigenen. Falls er im Kampf getötet wird, sollst du nicht eher ruhen, bis du ihn mit einem Gefährten für seinen Geist versorgt hast. Falls er krank ist, sollst du Geschenke zu dem Mann mit der Medizin tragen, bis er wieder gesund ist. Das ist alles. Du bist nun Hunka.“

Nie würde er das Festessen und den Tanz in dieser Nacht vergessen, welche dem neuen Hunka Ate und Hunka zu Ehren veranstaltet wurden. Die Tänze, an denen Geschenke verteilt wurden; die Rund- und Ehrentänze! Das Hochgefühl hielt bis zum Morgengrauen an, während er von diesem großartigen Erlebnis träumte.

Wintercount - Dämmerung über dem Land der Sioux

Подняться наверх