Читать книгу Wintercount - Dämmerung über dem Land der Sioux - Dallas Chief Eagle - Страница 8
ОглавлениеKEIN ENTKOMMEN
Mit dem Instinkt eines Tieres fühlte Keyaschante, dass etwas nicht in Ordnung war. Die inneren Augen des Kämpfers waren darauf ausgerichtet, drohende Gefahren zu erkennen, und die leichteste Bewegung in Tscheyesa-wins Nähe reichte aus, um ihn erstarren zu lassen. Jemand hatte vor, seine Braut zu belästigen, und das musste verhindert werden. Mit einem plötzlichen und kraftvollen Satz warf er sich auf den Schatten des Eindringlings. Mit seinen Beinen umklammerte er dessen Taille und seine kraftvollen Finger umfassten dessen Nacken. Ein schneller Ruck und sein Gegner lag leblos in seinen Armen. Das Genick war gebrochen, so schnell, dass er nicht einmal die Gelegenheit hatte, zu schreien.
Keyaschante hob Tscheyesa-win hoch und überlegte sich fieberhaft einen Plan zur Flucht. Jetzt hatte er keine Wahl mehr und ihm blieb nichts anderes übrig, als blitzschnell zu handeln.
Zwei der weißen Männer lagen noch immer schlafend am Boden, aber von Dürrer-Vogel fehlte jede Spur, demnach musste der Mann, den er gerade getötet hatte, einer der Weißen gewesen sein.
„Leise!“, flüsterte Keyaschante.
Er ließ Tscheyesa-win sanft herunter, so dass sie laufen konnte. „Wegen Dürrer-Vogel können wir es nicht riskieren, unsere Pferde zu holen. Also folge mir!“
Er nahm Tscheyesa-wins Hand und führte sie lautlos im Schutz des Waldes nach Norden. Im Osten erwachte bereits die Morgendämmerung, aber es war noch nicht hell genug, um die vielen Zweige und Dornen des Unterholzes zu erkennen. Tscheyesawin bemühte sich, den großen Schritten ihres Mannes folgen zu können. Sie rannten fast durch das Gewirr des Unterholzes und Tscheyesa-win biss die Zähne zusammen, um nicht vor Schmerzen aufzustöhnen. Als sie an einem besonders dichten Gestrüpp ankamen, bedeutete Keyaschante ihr, sich an der dichtesten Stelle zu verstecken und sich ruhig zu verhalten.
„Ich werde bald zurück sein!“, flüsterte er. „Ich muss die Pferde holen oder sie zumindest losbinden. Wir haben keine Chance zu entkommen, wenn sie die Pferde haben.“
Der Knall eines Schusses in der Ferne veranlasste Keyaschante, wieder in das Gestrüpp neben Tscheyesa-win zu klettern. Die dichten und verkrümmten Zweige der Pflaumenbäume boten ihnen dabei ein ideales Versteck.
Es wäre wahrscheinlich nicht sonderlich schwierig gewesen, die Begegnung mit den weißen Männern in diesem Dickicht zu vermeiden, aber Dürrer-Vogel war eine andere Sorte von Gegner und durfte nicht unterschätzt werden.
Würde er sich an der Suche beteiligen? Und wie gut war er im Spuren lesen? Das Paar entschied sich, seine Flucht fortzusetzen und den Abstand zwischen ihren Verfolgern zu vergrößern.
Sie rannten in Höchstgeschwindigkeit durch das Unterholz, gehetzt wie wilde Tiere, bis Tscheyesa-win plötzlich unter den hängenden Zweigen einer großen Kiefer zusammenbrach und sich hundeelend fühlte. Sie rollte sich zur Seite und übergab sich so heftig, dass nichts mehr in ihrem Magen blieb. Doch das Würgen hörte nicht auf und der unkontrollierbare Brechreiz saugte ihr noch das letzte bisschen Kraft aus dem Körper.
Keyaschante hockte sich besorgt neben sie und brachte ihr in einem Fetzen seines Lendenschurzes etwas Wasser. Durch die reine, süße Flüssigkeit fühlte sich Tscheyesa-win etwas besser, doch ihre Beine waren wie taub und sie konnte sich nicht bewegen.
„Wir sollten uns hier bis zum Sonnenuntergang ausruhen, dann müssen wir zu einer geschützten Stelle gehen; und zwar dahin, wo ich das Wasser geholt habe“, versuchte Keyaschante seine Frau zu ermutigen.
Im Moment sah es jedoch so aus, als ob Tscheyesa-win alles egal wäre, noch nicht einmal der Gedanke an ihre mögliche Gefangennahme konnte sie beunruhigen. Das Einzige was sie interessierte, war, ihrem geschundenen Körper etwas Ruhe zu gönnen, selbst wenn dies ihren Tod bedeuten würde.
„Ruhe dich aus, ich werde vorsichtig die Gegend erkunden und nach einen Unterschlupf suchen!“, flüsterte Keyaschante beruhigend.
Stunden später kehrte er zurück und hob das völlig erschöpfte Mädchen vom Boden auf.
Tscheyesa-win schlang instinktiv ihre Arme um seinen Nacken und schmiegte ihr Gesicht an seine Brust. Ein heftiger Schmerz durchzuckte ihre Beine und sie stöhnte darüber, dass man sie aufgeweckt hatte. Ihre sichtliche Pein schockierte Keyaschante und wie um sich zu verteidigen, rief er: „Es tut mir leid, aber wir müssen gehen. Wir müssen zu einem sicheren Ort gehen, wo es auch Wasser gibt. Es wird alles noch viel schlimmer, wenn wir uns nicht in Sicherheit bringen.“
Tscheyesa-win fühlte jede seiner Bewegungen in ihrem ausge laugten Körper, und es schien ihr wie eine Ewigkeit, ehe sie das beruhigende Geräusch des Wassers hörte, das sich murmelnd in ein kleines Tal ergoss.
Keyaschante legte sie sanft auf das grasbewachsene Ufer des Flusses und vergewisserte sich, dass ihre schmerzenden Beine in das kühlende Wasser des Flusses eingetaucht waren. Tscheyesa-win konnte fühlen, wie sich ihre übermüdeten Muskeln entspannten und wie der Wille zum Überleben wieder in ihren Körper zurückkehrte.
„Beweg dich nicht!“, warnte Keyaschante. Ich werde etwas zum Essen finden und bald zurückkehren!“ Flink lief er den kleinen Hügel hinauf und verschwand aus ihren Augen.
Sie lag da und starrte auf den Hang, ihre Hände umklammerten das lange Gras, das über ihre Beine strich. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis, aber immer wenn sie an ihre Flucht aus der Gewalt der weißen Männer dachte, rann ihr ein Schauer über den Rücken. Das überwältigende Gefühl von Stolz und Trotz stieg in ihr auf, und sie wusste, dass sie ein Recht auf diese Gefühle hatte. Hatte sie ihrem Ehemann und den anderen nicht bewiesen, dass sie stark war und eine derartige Mühsal auf sich nehmen konnte? Sie fühlte sich wesentlich besser und fiel in einem tiefen Schlaf der völligen Erschöpfung.
Über das Land brach längst die Dämmerung herein, als Keyaschante ein erlegtes Kaninchen säuberte. Das plötzliche Geräusch eines brechenden Zweiges ließ ihn aufschrecken. Er wirbelte herum und sah einen Schatten, der sich viel zu schnell auf ihn fallen ließ. Er hörte ein lautes Krachen und warf sich mit dem Gesicht auf den Boden. Er presste seine Nase so fest auf die Erde, dass er kaum noch atmen konnte. Seine schnelle Reaktion bewahrte ihn vor der ganzen Wucht des Schlages, sodass er nur halb betäubt am Boden lag.
Durch den Nebel seiner drohenden Bewusstlosigkeit drang die flehende Stimme Tscheyesa-wins, und er konnte die bekannten Stimmen der beiden weißen Männer hören, als sie wütend vor sich hin fluchten. So sehr er sich auch anstrengte, er konnte sich nicht bewegen, und langsam senkte sich der Schleier des Vergessens über ihn, bis er schließlich nichts mehr hörte und sah.
Als Keyaschante sein Bewusstsein wiedererlangte, fühlte er schmerzerfüllt, dass er auf einem halbvergrabenen Baumstamm lag und all seiner Kleidung beraubt worden war. Als er seine Arme und Beine bewegen wollte, bemerkte er, dass man sie mit Rohleder an einige Pfähle gefesselt hatte, die fest im Boden verankert waren.
„Er versucht, sich zu bewegen“, rief eine kehlige Stimme.
Es war Keyaschante unmöglich, den Mann zusehen, aber als er die Peitsche auf seinem nackten Rücken und seinen Hüften spürte, wusste er, wer sein Peiniger war. Das knallende Geräusch der Peitsche ließ Keyaschante ebenso zusammenfahren wie der darauf folgende brennende Schmerz.
Er gab keinen Ton von sich, nur sein gepresster Atem zeigte die Qualen, die er erdulden musste. Immer wieder sauste die Peitsche auf ihn nieder, erbarmungslos und mit quälender Gleichmäßigkeit. Bei jedem Hieb biss er die Zähne so fest zusammen, dass seine Kiefer- und Nackenmuskulatur in Strängen hervortrat. Sein Rücken bog sich bei jedem Hieb und sackte dann hilflos vor Schmerzen in sich zusammen.
Die Stimme Tscheyesa-wins drang an Keyaschantes Ohr, ihr Wehklagen schien weit entfernt, und ihr Schluchzen klang wie das Klagen eines Rehs. Der Gedanke an sie verlieh ihm schier übernatürliche Kräfte – eine grimmige Entschlossenheit, die Qualen des Auspeitschens zu erdulden und irgendwann die verantwortlichen Männer umzubringen. Als er spürte, wie das Blut aus den diagonal verlaufenden Peitschenstriemen über seinen Rücken floss, schwor er insgeheim, sich dafür zu rächen. Irgendwann wurde sein Peiniger müde und übergab die Peitsche dem anderen Mann, der nun dem Beispiel seines Kameraden folgte und von der anderen Seite ein blutiges Muster auf Keyaschantes Rücken schlug.
Der geschundene Körper hatte mittlerweile aufgehört, sich unter den gnadenlosen Hieben aufzubäumen. Bewusstlosigkeit linderte die Schmerzen, trotzdem fuhr der Mann fort, bis das Muster aus blutigen Quadraten fertig war, und auf den enthäuteten Kanälen das rohe Fleisch hervorstand.
Von dem Tod des Indianers überzeugt, legte sein Peiniger endlich die Peitsche nieder, und sein Gesicht drückte deutlich seine Zufriedenheit mit dieser scheußlichen Tat aus.
Während der gesamten Zurschaustellung dieser exzessiven Gewalt, war Tscheyesa-win im festen Griff eines weißen Mannes festgehalten worden und hatte, zur Hilflosigkeit verdammt, alles mit ansehen müssen. Jeder Hieb schnitt tiefer in ihr Herz und gab ihr die Kraft, sich gegen die Weißen aufzulehnen. Ihr Körper bäumte sich gegen die Umklammerung auf, ihr entsetztes Schreien hallte über die Lichtung, von den Männern nur mit höhnischem Gelächter begleitet. Als die Weißen ohne Gnade mit dem Auspeitschen fort fuhren, forderten die Seelenqualen, die Tscheyesa-win erleiden musste, ihren Tribut, und sie brach in das mitleiderregende Wehklagen aus, das indianische Frauen zum Zeitpunkt ihres Todes anstimmen. Ein hoher, schriller Ton unendlichen Leids.
Als die Weißen endlich aufhörten ihn auszupeitschen, waren das Wehklagen Tscheyesa-wins und das heftige Atmen der beiden Männer die einzigen Geräusche, die man hören konnte.
Tscheyesa-win wusste, dass kein Mensch diese qualvollen Schmerzen, die Keyaschante erlitten hatte, überleben würde. Allein die Hoffnung, wie sie nur Frauen zu Eigen ist, veranlasste sie, immer wieder „Bitte … Bitte … lasst ihn leben … lasst ihn doch leben … bitte …“, zu flüstern.
Von dem Flehen in ihrer Stimme erweicht, lockerte der Mann, der sie festhielt, seinen Griff, und sie rannte zu der entblößten Gestalt. Sie warf sich auf ihre Knie und liebkoste Keyaschantes Kopf.
Die weißen Männer standen wie versteinert, und mit Unbehagen beobachteten sie Tscheyesa-win, die mit ihren Lippen zärtlich das bleiche Gesicht, die Schultern und den blutigen Rücken ihres Mannes liebkoste. Das Blut in ihrem Gesicht verstärkte den Ausdruck blanken Entsetzens in ihren Augen. Die Männer waren unfähig, dieses Bild noch länger zu ertragen und wandten sich wortlos ab.
Tscheyesa-win aber warf sich weinend neben die niedergestreckte Gestalt und fuhr ihr mit ihren Fingerspitzen durch das schwarze Haar. Sie sagte sich, dass nun ohnehin alles vorbei wäre und dass sie ebenfalls sterben würde, wenn Keyaschante starb.
Mit einem Satz sprang sie auf ihre Füße, rannte zu der Stelle, wo die weißen Männer knieten und griff nach dem Messer, das einer von ihnen trug. Instinktiv schlug er gegen ihren Arm, um das Messer abzuwehren und es fiel zu Boden. Dabei bemerkte er nicht ihren Fuß, der ihn wohlgezielt zwischen die Beine traf. Er krümmte sich vor Schmerzen, während sich Tscheyesa-win bereits dem anderen Mann zudrehte.
Sie war jetzt kein kleines, hysterisches Mädchen mehr, sondern eine bis zum Äußersten gereizte Frau, die wie ein Puma töten würde. Sie stürzte sich auf den völlig verdutzten Weißen, grub ihre Zähne tief in das Fleisch seines Gesichtes und biss ein Stück seiner Wange heraus. Einer der Männer wand sich vor Schmerzen auf dem Boden, der andere hielt sich die Hände vor sein verletztes Gesicht, während sie endlich das Messer entdeckte und entschlossen danach griff.
Hasserfüllt hob sie das Messer auf und wollte es dem Rotbärtigen in seine Eingeweide rammen, doch ein fester Griff schloss sich um ihre Handgelenke und entwand ihr das Messer. Es war Dürrer-Vogel, der das Messer quer über die Lichtung warf. „Nein! Nein, Tscheyesa-win, das Messer ist zu schnell und viel zu gnädig! Wir müssen sie durch die Peitsche sterben lassen - so wie es deinem Mann ergangen ist!“
Dürrer-Vogel drehte sich auf dem Absatz herum und schlug den Weißen mit der zerfleischten Wange mit der ganzen Kraft seiner Faust zu Boden. Dann ertönte plötzlich ein Schuss, Dürrer-Vogel fasste sich an die Brust und mit dem Ausdruck des Todes auf seinem Gesicht fiel er nach hinten.