Читать книгу Eine wie wir - Dana Mele - Страница 3
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ОглавлениеIm silbrigen Mondlicht schimmert unsere Haut wie Knochen. Nach dem Halloweenball nackt im eisigen Wasser des North Lake zu baden, ist eine Tradition an der Bates Academy, obwohl nicht viele Schülerinnen den Mut dazu haben. Vor drei Jahren war ich die erste Neuntklässlerin, die nicht nur hineingesprungen ist, sondern auch so lange unter Wasser blieb, bis die anderen dachten, ich sei ertrunken. Was nicht meine Absicht gewesen war.
Ich bin gesprungen, weil ich es konnte, weil ich gelangweilt war, weil eine aus der Zwölften sich über mein armseliges Ramschladenkostüm lustig gemacht hatte und ich beweisen wollte, dass ich besser war als sie. Ich bin bis zum Grund getaucht, vorbei an Moosbüscheln und seidigen Laichkrautstängeln. Und dort verharrte ich, vergrub meine Finger im weichen, bröckligen Schlamm, bis meine Lunge sich verkrampfte, denn obwohl das eiskalte Wasser wie Messerklingen in die Haut stach, war es völlig still. Es war friedlich. Es war, wie in einem dicken Eisblock eingeschlossen zu sein, sicher und beschützt vor der Welt. Wenn ich gekonnt hätte, wäre ich dort geblieben. Aber mein Körper ließ das nicht zu. Ich brach durch die Wasseroberfläche, die Mädchen aus der Oberstufe schrien meinen Namen und reichten mir eine Flasche schalen Champagner. Als die Campuspolizei auftauchte, zerstreuten wir uns. Das war meine offizielle »Ankunft« an der Bates. Ich war zum ersten Mal von zu Hause weg und ich war ein Niemand. Ich war fest entschlossen, zu einem Bates-Girl zu werden, und gleich nach diesem Tauchgang wusste ich genau, was für ein Mädchen ich sein wollte – das zuerst springt und zehn Sekunden zu lange unter Wasser bleibt.
Jetzt sind wir in der Zwölften und keine aus der Neunten hatte sich getraut mitzukommen.
Meine beste Freundin, Brie Matthews, läuft voraus, ihr geschmeidiger Star-Läuferinnen-Körper schneidet durch die Nachtluft. Normalerweise ziehen wir uns unter den dornigen Büschen am Seeufer neben dem Henderson-Wohnheim aus. Das ist unser traditioneller Treffpunkt, nachdem wir sonst immer in einem unserer Zimmer vorgeglüht haben und dann, immer noch verkleidet, gemeinsam über den Rasen zum See gestolpert sind. Aber Brie hat heute Abend ein vorzeitiges Aufnahmeangebot von Stanford erhalten und ist deshalb völlig aus dem Häuschen. Sie bestand darauf, dass wir uns zehn Minuten vor Mitternacht mit ihr treffen, was uns gerade genug Zeit zwischen Ball und Baden ließ, um unsere Wertsachen und unseren Anhang loszuwerden und uns mit Erfrischungen zu beladen. Sie wartete am Rand des Rasens auf uns, nur mit einem Bademantel bekleidet und einem freudestrahlenden Grinsen im Gesicht. Ihre Wangen waren gerötet und ihr Atem heiß und süß vom Apfelwein. Sie ließ den Bademantel fallen und sagte: »Traut euch doch!«
Tai Carter rennt direkt vor mir und hält sich die Hände vor den Mund, um sich das Lachen zu verkneifen. Sie trägt immer noch ein Paar Engelsflügel, die zusammen mit ihren langen, silbrig schimmernden Haaren im Wind flattern. Der Rest unserer Gruppe folgt uns. Als Tricia Parck über eine Wurzel stolpert, laufen alle fast ineinander. Cori Gates bleibt stehen, lässt sich auf den Boden fallen und lacht sich halb tot. Ich werde langsamer und grinse, aber die Luft ist bitterkalt und ich habe überall Gänsehaut. Es verpasst mir noch immer einen Kick, wenn ich mich ins eisige Wasser stürze, aber viel lieber ist mir inzwischen, mich danach kichernd mit Brie unter einen Berg aus Decken zu kuscheln.
Ich will gerade zum Endspurt über das tote Moos ansetzen, das sich vom Notausgang des Henderson-Wohnheims bis zum Ufer des Sees erstreckt, als ich Brie schreien höre. Tai stoppt abrupt, aber ich dränge mich an ihr vorbei auf das Geräusch von spritzendem Wasser zu. Bries verzweifelt ansteigende Stimme überschlägt sich fast, während sie immer wieder und immer schneller meinen Namen ruft. Ich presche durch das Gebüsch, Dornen reißen weiße und rote Streifen in meine Haut. Dann greife ich nach ihren Händen, zerre sie hoch und aus dem See.
»Kay …«, haucht sie an meinem Hals, ihr tropfnasser Körper zittert heftig, ihre Zähne klappern. Mein Herz klopft wild gegen meinen Brustkorb, während ich sie nach Blut oder Schnitten absuche. Ihr volles schwarzes Haar klebt feucht an ihrem Schädel, ihre glatte braune Haut ist – anders als meine – unversehrt.
Plötzlich nimmt Tai meine Hand und drückt sie so fest, dass meine Fingerspitzen taub werden. Ihr Gesicht, normalerweise zwischen einem echten und einem spöttischen Grinsen gefangen, ist seltsam leer und starr. Ich drehe mich um und ein merkwürdiges Gefühl überkommt mich, als würde sich meine Haut Zelle für Zelle in Stein verwandeln.
Da ist eine Leiche im See.
»Geht und holt unsere Sachen«, flüstere ich.
Jemand hinter uns huscht davon, trockenes Laub wirbelt auf.
Bruchstücke des Mondlichts liegen wie zersplittertes Glas auf der Wasseroberfläche. Am Ufer reicht ein Gewirr aus Wurzeln bis ins seichte Wasser. Die Leiche treibt nicht weit von uns entfernt nur wenige Zentimeter unter Wasser, ein Mädchen mit blassem, nach oben gerichtetem Gesicht. Ihre Augen sind geöffnet, ihre Lippen weiß und offen, ihr Gesichtsausdruck wirkt wie benommen, aber das ist nicht alles. Ein elegantes weißes Ballkleid ist wie eine Blüte um sie ausgebreitet. An ihren nackten Armen reichen lange Schnitte bis zu den Handgelenken. Mit halbem Bewusstsein zucke ich zusammen, als ich eine Hand auf meiner Schulter spüre.
Maddy Farrell, die Jüngste von uns, hält mir mein Kleid hin. Ich nicke steif und ziehe mir das lockere schwarze Hängerkleid über den Kopf. Ich bin Daisy Buchanan aus Der große Gatsby, aber mein Kleid gehört eigentlich zu dem Kostüm, das Brie letztes Jahr getragen hat, und ist eine Nummer zu groß für mich. Jetzt wünschte ich, ich hätte mich als Astronaut verkleidet. Ich bin nicht nur halb erfroren, sondern fühle mich auch nackt und schutzlos in dem hauchdünnen Teil.
»Was sollen wir jetzt machen?« Maddy schaut mich fragend an. Doch ich kann meinen Blick nicht vom See abwenden und ihr antworten.
»Ruf Dr. Klein an«, sagt Brie. »Sie wird die Eltern informieren.«
Ich zwinge mich, Maddy anzusehen. Ihre weit auseinanderstehenden Augen glänzen vor Tränen, dunkle Streifen laufen über ihre Wangen. Ich streiche beruhigend über ihr weiches goldenes Haar, ohne eine Miene zu verziehen. Dabei hämmert mein Herz zum Zerspringen und irgendwo in meinem Kopf schrillt eine Sirene, aber ich bringe sie mit der Kraft meiner Vorstellung zum Schweigen. Ein Raum aus Eis, still, sicher. Nicht weinen. Eine einzige Träne kann zu der Schneeflocke werden, die eine Lawine auslöst.
»Die Schule kommt zuerst. Dann die Cops«, sage ich. Es ist schlimm, wenn Eltern aus den Nachrichten erfahren, dass das eigene Kind tot ist, bevor sie angerufen werden. Auf diese Weise hat mein Vater von meinem Bruder erfahren. Das war bezeichnend.
Maddy holt ihr Handy heraus und wählt die Nummer der Schulleiterin, während der Rest von uns auf den toten Mädchenkörper starrt. Mit den offenen Augen und den geöffneten Lippen, als wollte sie etwas sagen, sieht sie beinahe lebendig aus. Aber nur beinahe. Es ist nicht die erste Leiche, die ich je gesehen habe, aber die erste, die scheinbar meinen Blick erwidert.
»Kennt sie jemand von euch?«, frage ich schließlich.
Niemand antwortet. Unglaublich. Wir sechs, jeder für sich, besitzt wahrscheinlich mehr soziales Kapital als der Rest der Schülerschaft zusammen. Gemeinsam müssten wir eigentlich jede einzelne Schülerin kennen.
Und auf dem Halloweenball sind nur Schülerinnen erlaubt. Zu anderen Veranstaltungen dürfen wir Jungs und andere Verabredungen von außerhalb des Campus mitbringen. Das Mädchen im See ist in unserem Alter, stilvoll gekleidet und geschminkt. Ihr Gesicht kommt mir bekannt vor, aber ich kann es nicht einordnen. Besonders nicht so. Ich beuge mich vor, verschränke die Arme, damit ich nicht so heftig zittere, und werfe einen genaueren Blick auf ihre Handgelenke. Ein grausiger Anblick, aber ich finde, wonach ich suche: ein dünnes, neonfarbenes Plastikbändchen.
»Sie trägt das Armband. Sie war auf dem Ball. Sie ist eine von uns.« Ich schaudere bei diesen Worten.
Tricia starrt auf das leicht gekräuselte Wasser des Sees, ohne den Kopf weit genug zu heben, um den Anblick der Leiche noch einmal ertragen zu müssen. »Ich hab sie schon mal gesehen. Sie geht hier zur Schule.« Gedankenverloren dreht sie ihre seidigen schwarzen Haare zusammen und lässt sie dann über die perfekte Kopie des Ballkleides von Emma Watson in Die Schöne und das Biest fallen.
»Jetzt nicht mehr«, sagt Tai.
»Nicht witzig.« Brie funkelt sie böse an, aber früher oder später musste jemand etwas gegen die angespannte Stimmung tun. Es bringt mich wieder ein bisschen zu mir. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, wie sich die Dicke der Eiswände verdoppelt und verdreifacht, bis kein Platz mehr ist für die Sirenen in meinem Kopf, kein Platz mehr für mein Herz, um in einem völlig chaotischen Rhythmus zu klopfen.
Ich stehe jetzt aufrechter da und mustere Maddys Kostüm – Rotkäppchen mit einem skandalös kurzen Kleid und einem warmen Umhang.
»Kann ich mir deinen Umhang borgen?« Ich strecke einen Finger aus, sie schiebt den Umhang von ihren blassen, knochigen Schultern und reicht ihn mir. Ich fühle mich nur ein bisschen schlecht dabei. Es ist kalt und ich bin ein Jahr älter. Irgendwann ist sie an der Reihe.
Eine heulende Sirene erfüllt die Luft und rot-blau blinkende Lichter rasen über den Campus auf uns zu.
»Das ging schnell«, murmele ich.
»Klein hat wahrscheinlich beschlossen, auch die Cops zu informieren«, sagt Brie.
Cori taucht aus der Dunkelheit auf. Sie umklammert eine Flasche Champagner, ihre katzenartigen grünen Augen leuchten förmlich im dämmrigen Licht. »Ich hätte Klein anrufen können. Aber niemand hat gefragt.« Cori lässt nie eine Gelegenheit aus, die Verbindung ihrer Familie zur Schulleiterin zu erwähnen.
Maddy wärmt sich mit ihren Armen. »Tut mir leid. Ich habe nicht nachgedacht.«
»Typisch Notorious«, sagt Tai und schüttelt den Kopf.
Maddy starrt sie wütend an.
»Ist doch egal. Sie wird auch bald hier sein.« Brie legt einen Arm um Maddy. Ihr Bademantel sieht dick und weich aus und Maddy schmiegt ihre Wange dagegen. Ich verenge die Augen zu Schlitzen und will ihr den Umhang zurückwerfen, schieße jedoch weit übers Ziel hinaus, sodass er im See landet.
Tai stochert mit einem Ast nach dem durchnässten Haufen, fischt ihn schließlich heraus und klatscht ihn mir vor die Füße. »Ich erinnere mich an sie. Julia … Jennifer … Gina?«
»Jemima? Jupiter?«, blaffe ich sie an und wringe den Umhang so gut es geht aus.
»Wir wissen ihren Namen nicht und zuerst hat sie nicht mal jemand erkannt«, sagt Brie. »Es wäre irreführend, wenn wir der Polizei erzählen, dass wir wüssten, wer sie ist.«
»Ich kann ihr nicht ins Gesicht sehen. Sorry. Ich kann einfach nicht. Also …« Maddy steckt die Arme in ihr Kleid und sieht mit ihrer kreidebleichen Haut und der verschmierten Wimperntusche wie eine gruselige, armlose Puppe aus. »… sollen wir lügen?«
Brie schaut mich Hilfe suchend an.
»Ich glaube, das hat Brie nicht gemeint. Wir sollten einfach sagen, dass wir sie nicht identifizieren können, und es dabei belassen.«
Brie drückt meine Hand.
Die Campuspolizisten sind zuerst da, der Wagen bremst vor dem Henderson-Wohnheim ab, sie springen raus und preschen auf uns zu. So habe ich sie noch nie gesehen und es kommt mir auf eine erbärmliche Art beängstigend vor. Natürlich sind die beiden keine echten Cops. Ihr einziger Job ist es, uns umherzufahren und Partys aufzulösen.
»Beiseite, Ladys.« Jenny Biggs, eine junge Beamtin, die uns nach Dienstschluss oft über den Campus begleitet und gern ein Auge zudrückt, was unsere privaten Abendgesellschaften betrifft, scheucht uns aus dem Weg. Ihr Partner, ein echter Hüne von einem Officer, walzt an uns vorbei und watet ins Wasser. Ein bitterer Geschmack bildet sich auf meiner Zunge und ich grabe die Fingernägel in meine Handflächen. Es gibt keinen wirklichen Grund dafür, aber ich verspüre der Leiche gegenüber eine Art Beschützerinstinkt. Ich will nicht, dass er sie mit seinen behaarten Händen anfasst.
»Dürft ihr überhaupt einen Tatort betreten?«, raune ich Jenny in der Hoffnung zu, dass sie eingreift. Sie war in all den Jahren immer nett zu uns, hat Witze gemacht und es mit den Regeln nicht so genau genommen, fast wie eine große Schwester.
Sie sieht mich scharf an, aber bevor sie etwas erwidern kann, tauchen die echten Cops und ein Krankenwagen auf. Die Rettungssanitäter sind vor den Cops am See und einer von ihnen watet hinter Jennys Kollegen ins Wasser.
»Bleiben Sie weg vom Opfer!«, schnauzt eine Polizistin, eine groß gewachsene Frau mit einem starken Bostoner Akzent, die gerade zum Seeufer rennt.
Der Campusofficer, inzwischen hüfttief im Wasser, dreht sich um und stößt mit dem Rettungssanitäter zusammen.
»Die reinste Olympiade der Inkompetenz«, murmelt Tai.
Ein anderer Officer, ein abgebrochener Tony-Soprano-Verschnitt, nickt Jenny geringschätzig zu, als wäre sie irgendeine Dienerin. »Holen Sie den Kerl da raus«, sagt er.
Jenny wirkt leicht angefressen, winkt ihrem Kollegen aber zu, der den Rettungssanitäter widerstrebend am Arm packt. Sie begleiten ihn zum Ufer hinauf und werfen den echten Cops vernichtende Blicke zu. Die Polizistin, die die Rettungsaktion zurückgepfiffen hat, schaut uns plötzlich an. Sie hat ein spitzes Kinn, glänzende Knopfaugen und übertrieben gezupfte Augenbrauen, was sie wie eine Art halb fertige Übung aus einem Kunstkurs für Anfänger wirken lässt.
»Ihr seid also die Mädchen, die die Leiche gefunden haben.« Ohne auf eine Antwort zu warten, führt sie uns zum Wasser, während weitere Polizisten eintreffen und das Gebiet weiträumig absperren.
Brie und ich sehen uns fragend an und ich versuche, Jennys Blick aufzufangen, aber sie ist zu sehr damit beschäftigt, den Schauplatz des Geschehens abzusichern. Nach und nach kommen Schülerinnen aus den Wohnheimen. Sogar die Hausmütter – für jedes Wohnheim ist eine Erwachsene verantwortlich – treibt es nach draußen an den Rand der neu errichteten Sicherheitsgrenze aus Absperrband.
Die groß gewachsene Polizistin lächelt steif. »Ich bin Detective Bernadette Morgan. Wer von euch hat angerufen?«
Maddy hebt die Hand.
Detective Morgan zieht ein Smartphone aus ihrer Hosentasche und richtet es auf uns. »Ich habe ein schreckliches Gedächtnis, Mädchen. Was dagegen, wenn ich das aufzeichne?«
»Natürlich nicht«, sagt Maddy. Dann huscht ihr Blick mit einem entschuldigenden Ausdruck zu mir.
Detective Morgan verfolgt die Szene interessiert. Sie wirft mir ein schiefes Lächeln zu, bevor sie sich wieder an Maddy wendet. »Du brauchst keine Erlaubnis von deiner Freundin.«
Tai starrt auf das Smartphone. »O mein Gott, ist das ein iPhone 4? Ich wusste gar nicht, dass die noch hergestellt werden. Oder dass es legal ist, Aussagen von Minderjährigen damit aufzunehmen.«
Das Lächeln der Polizistin hellt sich auf. »Zeugenaussagen. Habe ich eure Zustimmung oder sollen wir aufs Revier fahren und eure Eltern dazuholen?«
»Na, machen Sie schon«, sagt Tai und legt zitternd die Arme um sich.
Die anderen nicken, nur ich zögere eine Millisekunde. Jenny ist eine Sache, aber ansonsten vertraue ich Cops nicht besonders. Ich musste die halbe achte Klasse lang mit verschiedenen Polizisten reden und das war eine höllische Erfahrung. Andererseits würde ich eine Menge tun, um meine Eltern da rauszuhalten.
»Na schön«, sage ich.
Detective Morgan lacht. Es klingt nasal und bissig. »Bist du dir sicher?«
Die Kälte beginnt an mir zu nagen und ich kann nichts dagegen tun, dass meine Stimme vor Ungeduld und Ärger förmlich trieft. »Ja, sprich weiter, Maddy.«
Aber Bernadette ist noch nicht fertig mit mir. Sie zeigt auf Maddys nassen, zusammengeknüllten Umhang in meinen Händen. »Hast du den aus dem Wasser geholt?«
»Ja, aber er war noch nicht im See, als wir hier ankamen.«
»Wie ist er dorthin gekommen?«
Ich spüre, wie mein Gesicht trotz der nächtlichen Kälte ganz warm wird. »Ich habe ihn reingeworfen.«
Die Polizistin saugt ihre Wange ein und nickt. »Wie man das halt so macht. Den werde ich mitnehmen müssen.«
Shit. So fängt es an. Mit Kleinigkeiten wie dieser. Ich halte ihr den Umhang hin, aber sie ruft über ihre Schulter nach einem Kollegen. Ein kleiner Mann mit blauen Nitrilhandschuhen kreuzt auf und steckt den Umhang in eine Plastiktüte.
Sie dreht sich wieder zu Maddy um. »Und jetzt von Anfang an.«
»Wir sind zum Schwimmen hier rausgekommen. Brie ist vorneweggerannt. Ich habe sie schreien gehört und –«
»Wer ist Brie?« Detective Morgan richtet die Handykamera nacheinander auf uns. Brie hebt die Hand.
»Und dann haben wir die Leiche neben ihr im Wasser entdeckt. Kay hat gesagt, dass ich zuerst Dr. Klein und dann die Polizei anrufen soll«, erklärt Maddy.
»Nein, das habe ich nicht.« Meine Stimme klingt angespannt und fröstelnd. »Das war Brie.«
Detective Morgan wendet sich zu mir und lässt die Kamera langsam von Kopf bis Fuß an mir entlangwandern, wobei sie an den aufgekratzten Hautstellen besonders sorgfältig ist. »Du bist Kay«, sagt sie mit einem merkwürdigen Lächeln.
»Ja, aber eigentlich hat Brie gesagt, dass Maddy zuerst Dr. Klein anrufen soll.«
»Was spielt das für eine Rolle?«
Diese Frage überrascht mich. »Tut es das nicht?«
»Sag du es mir.«
Ich presse die Lippen fest aufeinander. Ich weiß aus Erfahrung, wie Polizisten Aussagen aufnehmen und die Worte dann verdrehen, sodass am Ende etwas herauskommt, was man gar nicht gemeint hat. »Entschuldigung, aber stecken wir in Schwierigkeiten?«
»Kennt jemand von euch das tote Mädchen?«
Ich sehe die anderen an, aber niemand springt für mich ein. Maddy hat die Arme immer noch unter ihrem Kleid verschränkt und schaukelt steif hin und her. Cori beobachtet die Polizisten am See mit einem seltsam faszinierten Gesichtsausdruck. Tricia schaut bedrückt zu Boden, ihre nackten Schultern zittern. Tai sieht mich nur ausdruckslos an und Brie nickt mir zu, damit ich fortfahre.
»Nein. Stecken wir nun in Schwierigkeiten?«
»Ich hoffe nicht.« Detective Morgan gibt einem Officer über unsere Köpfe hinweg ein Zeichen und ich werfe Brie einen kurzen Blick zu. Sie sieht besorgt aus und ich frage mich, ob ich das auch sein sollte. Sie hält sich einen Finger an die Lippen und ich nicke kaum merklich, während ich gegenüber den anderen die Augenbrauen hochziehe. Tai nickt monoton, Tricia und Cori verschränken ihre kleinen Finger, nur Maddy wirkt ernsthaft verängstigt.
In diesem Moment sehe ich, wie Dr. Klein sich einen Weg durch die Menge bahnt, eine kleine, aber Respekt einflößende Frau, tadellos gekleidet und beherrscht, selbst zu dieser Uhrzeit und unter diesen Umständen. Mit einer winzigen Handbewegung winkt sie einen Officer aus dem Weg und marschiert direkt auf uns zu.
»Kein weiteres Wort«, sagt sie und legt eine Hand auf meine Schulter und eine auf Coris. »Diese Mädchen stehen unter meiner Obhut. In Abwesenheit ihrer Eltern bin ich ihr Vormund. Ohne meine Anwesenheit dürfen sie nicht befragt werden. Haben Sie das verstanden?«
Detective Morgan will protestieren, aber das hat keinen Zweck, wenn Dr. Klein ganz in ihrer Rolle als Schulleiterin aufgeht.
»Diese Schülerinnen haben gerade eine entsetzliche Entdeckung gemacht. Ms Matthews ist völlig durchnässt und riskiert eine Unterkühlung. Sollten Sie nicht gewillt sein, sie drinnen weiterzubefragen, müssen Sie ganz einfach noch einmal wiederkommen. Ich richte mich auch während der Unterrichtsstunden gern nach Ihrem Zeitplan.«
Detective Morgan lächelt wieder, ohne die Zähne zu zeigen. »Na schön. Die Mädchen haben eine Menge durchgemacht. Geht ruhig und schlaft gut. Lasst bloß nicht zu, dass so eine winzig kleine Tragödie eure tolle Party ruiniert.« Sie ist im Begriff zu gehen, dreht sich dann aber noch einmal zu uns um. »Ich melde mich.«
Dr. Klein bringt uns zurück zu den Wohnheimen und wirft noch einen kurzen Blick auf das Seeufer.
Ich wende mich an Brie. »War echt fies, was sie da gesagt hat.«
»Stimmt«, erwidert Brie aufgewühlt. »Es klang fast wie eine Drohung.«