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Am nächsten Morgen hat die Neuigkeit die gesamte Schule infiziert. Mein Wohnheim befindet sich auf der anderen Seite des Campus und ich wache auf von den Sirenen draußen und einem gedämpften Schluchzen über mir. Ich öffne die Augen und sehe Brie am Rand meines Bettes hocken, das Gesicht an das Fenster gepresst. Sie ist schon geduscht und angezogen und schlürft Kaffee aus meiner »I ♥ Bates Soccer Girls«-Tasse.

Der Anblick der Tasse jagt mir einen Stromstoß über den Rücken. Am Montag ist ein entscheidendes Spiel und als Vorbereitung habe ich heute Vormittag ein langes Training angesetzt. Ich springe aus dem Bett, binde mein dickes, welliges rotes Haar zu einem straffen Pferdeschwanz zusammen und ziehe mir Leggings über.

»Jessica Lane«, sagt Brie.

Eisiger Frost überzieht meine Haut und meine Schultern verkrampfen sich. »Was?«

»Das Mädchen im See.«

»Nie von ihr gehört.« Ich wünschte, Brie hätte mir ihren Namen nicht genannt. Es war schon fast unmöglich, ihr unbewegtes, friedliches Gesicht aus dem Kopf zu bekommen, als ich letzte Nacht wach neben Brie in meinem schmalen Wohnheimbett lag, und jetzt muss ich mich konzentrieren. Ich will jedes noch so kleine Detail der letzten Nacht aus meinem Gedächtnis streichen. Drei Jahre lang war ich stabil und jetzt möchte ich nicht wegen dieser Sache zusammenbrechen. Eine einzige Schneeflocke.

»Aber ich. Sie war in meinem Mathekurs.«

Ich spüre ein flaues, nagendes Gefühl im Magen. »Vielleicht war es doch keine so gute Idee, vor der Polizei zu behaupten, dass wir sie nicht kannten.«

»Zerbrich dir nicht den Kopf darüber.« Sie setzt sich zu mir und dreht eine meiner Locken um ihren Finger. »Ich meine, ich kannte sie nur ganz, ganz flüchtig. Wir konnten den Cops nicht alles erzählen. Sie hätten sich nur darauf eingeschossen und unser Leben komplett ruiniert.«

Brie hatte ihren eigenen, ganz anderen Grund, den Gesetzeshütern gegenüber skeptisch zu sein. Zum einen sind ihre Eltern Top-Strafverteidiger und sie will beruflich auch in diese Richtung. Wahrscheinlich weiß sie mehr über Strafrecht als die meisten Jurastudenten im ersten Studienjahr. Alles, was du sagst, kann und wird gegen dich verwendet werden. Seit sie im letzten Jahr die Debattierclub-Regionalmeisterschaften gewonnen hat, wurde dieses Zitat zu einem Mantra für sie: »Tanze, als würde dich niemand sehen; schreibe E-Mails, als könnten sie laut bei einer Vernehmung vorgelesen werden.« Zum anderen hat Brie eine rassistische Ungleichbehandlung durch Polizisten schon selbst erlebt. Natürlich nicht an der Bates, wie sie immer betont. Aber sogar ich habe mitbekommen, wie anders die Dinge außerhalb der Schule laufen. Als einmal eine Party außerhalb des Campus aufgelöst wurde, ist ein Cop direkt an mir vorbeigegangen – an einer Minderjährigen mit einer offenen Bierflasche – und hat Brie zu einem Alkoholtest aufgefordert. Sie hatte eine Dose Limo in der Hand. Trotzdem musste sie in das Testgerät pusten.

Ich seufze. »Und man kann Maddy nichts erzählen, wenn man nicht will, dass die ganze Schule davon erfährt.«

»Das ist nicht fair.«

Es geht hier gar nicht um fair. Letztes Jahr hat Maddy versehentlich die Namen der Neuzugänge unserer Fußballmannschaft online veröffentlicht, bevor wir sie aus ihren Zimmern »entführen« konnten, was zu unserem traditionellen Aufnahmeritual gehört. Diese Tradition schweißt uns als Team zusammen und abgesehen davon macht es höllisch Spaß. Nimmt man der Initiationsnacht den Schrecken, geht auch der Glücksrausch verloren, wenn man erfährt, dass man aufgenommen wurde. Dass man gut genug ist. Aber nein. Maddy sind die Namen durchgesickert, die ich ihr für die Website per E-Mail geschickt hatte, und ich musste Bries Mantra auf die harte Tour lernen. Schreibe E-Mails, als könnten sie laut bei einer Vernehmung vorgelesen werden – oder in einem für alle Schüler zugänglichen Community-Forum.

Vielleicht waren wir doch nicht ganz fair zu Maddy. Vor ein paar Wochen hat Tai mit diesem »Notorious«-Spitznamen angefangen, den ich ehrlich gesagt nicht ganz verstehe. Aber das werde ich auf keinen Fall als Einzige zugeben. Selbst Brie verhält sich Maddy gegenüber neuerdings ziemlich distanziert, ich bin nur noch nicht dahintergekommen, woran das liegt. Maddy ist nicht so originell wie Tai oder so lernbegierig wie Brie und sie besitzt innerhalb unserer Clique den Ruf als Dummchen, obwohl sie eigentlich sehr intelligent ist. Sie hat den zweitbesten Notendurchschnitt der elften Jahrgangsstufe, ist Kapitänin der Feldhockeymannschaft und gestaltet die Websites aller Sportteams. Sie hat nichts von der Zeit, die sie dafür investiert, aber wir können uns dadurch besser präsentieren. Ich glaube, ihr fehlt einfach der gewisse Zynismus, den der Rest von uns verbindet, und die Leute neigen dazu, das als Schwäche auszulegen. Sie erinnert mich an meine beste Freundin zu Hause, Megan Galloway. Sie hat immer nur das Gute in allem gesehen. So eine Weltanschauung ist gefährlich, aber ich beneide das.

Manchmal habe ich das Gefühl, ich sehe nur die schlechten Seiten.

»Wie auch immer, sie ist identifiziert. Ihre Eltern wurden informiert. Es ist überall in den Nachrichten.« Brie deutet zur Zimmerdecke und ich blicke leicht durcheinander auf. Das Weinen scheint stärker zu werden.

Ich lege die Hand vor den Mund und zeige nach oben. »War das ihr Zimmer?«

Brie nickt. »Ich denke, ja. Vor dem Zimmer hängt Absperrband und das Geheule geht schon zwei Stunden so. Ich kann gar nicht glauben, dass du davon nicht wach geworden bist.«

»So bin ich eben.« Ich bin ein berüchtigter Tiefschläfer – falls und wenn ich es schaffe, schaltet sich mein Hirn aus – und das weiß niemand besser als Brie. Sie war zwei Jahre lang meine Mitbewohnerin, bevor wir das Einzelzimmerprivileg der Zwölften bekommen haben, und wir übernachten noch immer oft zusammen.

Sie grinst für einen Moment, dann verschwindet ihr Lächeln. »An der Bates gab es seit über zehn Jahren keinen Selbstmord mehr.«

»Ich weiß.« Sie ist taktvoll genug, nicht zu erwähnen, dass es in der Vergangenheit, als ihre Mom hier noch zur Schule ging, eine regelrechte Epidemie gab. Ein ganzer Flügel des Henderson-Wohnheims war fast dreißig Jahre lang geschlossen.

»Wie kann es sein, dass du sie nicht kanntest?«, fragt Brie.

»Vielleicht hat sie viel Zeit außerhalb des Campus verbracht.«

Ich ziehe mir ein Sweatshirt über, schnappe mir meinen Schülerausweis und Schlüssel, zögere dann aber, als meine Hand schon auf dem Türknauf liegt. Ich werfe einen Blick auf den Kalender, der über meinem Bett hängt. Meine Eltern haben ihn mir im September mitgegeben und alle Spieltage mit einem roten Marker dick eingekreist. Beim Spiel am Montag werden mich drei Scouts unter die Lupe nehmen und anders als meine Freundinnen kann ich nicht auf einen Haufen Geld zurückgreifen, wenn mir kein Collegestipendium angeboten wird. Ich bin nicht das typische Bates-Girl aus einer der wohlhabenden Familien Neuenglands. Ich bin nur wegen eines »vollen Schülerstipendiums« hier, das Codewort für Sport, weil meine Noten nicht ausreichen, um mich über Wasser zu halten, und meine Eltern sich das Schulgeld nicht leisten können. Aber heute gelten mildernde Umstände und es könnte einen schlechten Eindruck machen, das Training trotzdem durchzuziehen. Das müssten sogar meine Eltern verstehen.

Ich drehe mich zu Brie um. »Sollte ich das Training besser absagen?«

Sie wirft mir einen ihrer »Ich will dir ehrlich keine Vorwürfe machen«-Blicke zu. »Kay, das Training ist bereits abgesagt.«

»Das können die nicht machen!«

»Natürlich können sie das. Wir leiten doch nicht die Schule. Sport, Musik, Theater, alle außerschulischen Aktivitäten sind auf Eis gelegt, solange die Ermittlungen laufen.«

Ich lasse mich wieder aufs Bett fallen, mir schwirrt der Kopf. »Du machst Witze. Montag ist der wichtigste Tag meines Lebens.«

Sie legt einen Arm um meine Schulter und zieht mich an ihren warmen Körper. »Ich weiß, Süße. Es ist ja auch nicht endgültig vorbei, sondern nur aufgeschoben.«

Ich werfe meinen Schlüssel auf den Boden und drücke meine Stirn gegen Bries Schulter, meine Augen brennen. »Ich dürfte gar nicht so aus der Fassung sein, oder?«

»Doch, solltest du. Dir ist nur nicht ganz klar, warum du so aus der Fassung bist. Die letzte Nacht war traumatisch.«

»Du verstehst das nicht.« Ich löse mich von ihr und drücke die Fingerknöchel in meine Augenhöhlen. »Ich kann nicht nach Hause gehen. Selbst wenn du nicht schon deinen Collegeplatz hättest, stünde für dich absolut nichts auf dem Spiel.«

»Das ist weder fair noch wahr.«

Ich mustere ihre ernsten, mahagonifarbenen Augen und die gerunzelte Stirn. Ihr weiches, wolkenartiges Haar umrahmt ihr Gesicht fast wie ein Heiligenschein. Sie ist immer so akkurat und gefasst. Sie passt gar nicht in mein Zimmer oder mein Leben, wo das nukleare Chaos herrscht. Sie hat Köpfchen, Ausstrahlung, Geld und eine perfekte Familie.

»Du verstehst das nicht«, wiederhole ich leise.

»Es wird sich zeigen, dass es sich um einen klaren Fall handelt«, sagt Brie entschieden. Sie steht auf und schaut wieder aus dem Fenster. »Eindeutig Selbstmord.«

»Was genau wird dann untersucht?«

»Ob es eine Fremdeinwirkung gab, vermute ich.«

»Mord?«

»Das wird immer geprüft, wenn jemand gewaltsam ums Leben gekommen ist.«

Die Worte hallen in meinem Kopf wider. Ein gewaltsamer Tod. Sie sah so ruhig, so friedlich aus, aber der Tod ist hart und unerbittlich. Er ist schon per Definition ein gewaltsamer Akt.

»Hier?«

»Mörder gibt es überall, Kay. In Pflegeheimen und Notaufnahmen. Auf Polizeirevieren. Überall, wo man eigentlich sicher sein sollte. Warum nicht in einem Internat?«

»Weil wir schon seit vier Jahren hier sind und jeden kennen.«

Brie schüttelt den Kopf. »Mörder sind auch nur Menschen. Sie essen dasselbe und atmen dieselbe Luft. Sie machen nicht gerade auf sich aufmerksam.«

»Vielleicht doch, wenn man richtig zuhört.«

Brie schiebt ihre Finger zwischen meine. Meine Hände sind immer kalt, ihre sind immer warm. »Es war Selbstmord. In ein paar Tagen geht es mit Sport weiter. Du wirst angeworben. Ganz sicher.«

Dass ihr das Wort Selbstmord so leicht über die Lippen kommt, irritiert mich. Es liegt etwas Giftiges darin, wie die zerrissenen Teile von mir, die kaum zusammengeflickt sind und die Brie nicht sehen soll. »Jetzt werden sie uns mit Schülerversammlungen zum Thema Warnzeichen bombardieren und warum man sich nicht umbringt und so ’n Scheiß. Denn das ist nachträglich ja so hilfreich.« Was in einem Punkt sogar stimmt, wenn man an die Vergangenheit der Bates denkt. Zumindest ist es besser als nichts. Aber für die Person, die gegangen ist, und für alle, denen sie etwas bedeutet hat, ist es ein Scheißdreck.

Brie zögert. »Na ja, auf jeden Fall sollten wir ab jetzt netter zu unseren Mitschülerinnen sein. Denk mal darüber nach.«

Ich sehe ihr in die Augen und suche irgendwo in den Tiefen nach meinem schattenhaften Ich. Vielleicht gibt es da draußen eine bessere Version von mir, und falls sie wirklich existiert, dann in Bries Gedanken. »Nett ist subjektiv.«

»Du sprichst wie ein echtes Bates-Girl. Wir sind so egozentrisch. Wie selbstsüchtig muss man sein, um nicht zu bemerken, wenn jemand vor einem Zusammenbruch steht?«

Für den Bruchteil einer Sekunde denke ich, dass sie von mir spricht.

Aber das tut sie nicht. Sie spricht von Jessica.

Ich atme wieder.

»Du kandidierst noch nicht als Präsidentin. Es ist nicht deine Aufgabe, jedermanns beste Freundin zu sein. Nur meine.« Ich packe sie in einer dicken Bärenumarmung.

Sie seufzt und schmiegt ihre Stirn an meinen Nacken. Ich erlaube mir einen Moment der Ruhe und nehme den Duft ihrer Haare wahr – ein Augenblick in einem anderen Universum, wo ich ein guter Mensch bin und Brie und ich zusammen sind.

Dann zwinge ich mich zu einer Frage. »Hast du versucht, Justine anzurufen?«

Sie holt ihr Handy aus der Tasche und wählt, während sie mir antwortet. »Sie geht nicht ran. Sie schläft samstags immer lange.«

Justine und Brie sind ein Paar. Brie und ich gehen grundsätzlich nicht mit Bates-Schülerinnen aus, deshalb landen wir meistens bei den Schülern von der Easterly, der hiesigen staatlichen Highschool. Ich habe mich kürzlich von meinem Easterly-Freund getrennt, dem »überaus Untreuen« Spencer Morrow. Tai hat sich den Namen für ihn ausgedacht, nachdem wir erfahren hatten, dass er fremdgegangen war, und wir leidenschaftlich über ihn herzogen. Aus irgendeinem Grund fand ich das zum Totlachen und es wurde sein Spitzname.

Ich höre eine schwache, raue Morgenstimme am anderen Ende der Leitung und Bries Gesicht hellt sich auf. Sie drückt mich weg und das Zimmer kommt mir plötzlich kälter und leerer vor, als sie aufsteht, sich ihren Kaffee nimmt und auf den Flur hinauseilt. Ich wünschte, Justine würde samstags noch länger schlafen. Ich wünschte, sie würde das ganze Wochenende schlafen. Ich bahne mir einen Weg zum Fenster, wobei ich aufpasse, nicht über die Landminen aus Klamotten und Lehrbüchern und Trainingssachen zu stolpern. Waschtag ist erst morgen.

Draußen wimmelt es von Menschen wie an einem Einzugstag, aber das sind nicht nur Schülerinnen und ihre Familien. Es stehen eine Reihe TV-Übertragungswagen am Straßenrand, davor hasten Frauen mit Clipboards ungeduldig umher und erteilen großen Kerlen Befehle, die Kameras um ihren Oberkörper geschnallt haben. Da sind auch Dutzende Leute mit den gleichen hellblauen T-Shirts, auf denen ein Logo abgebildet ist, das aussieht wie ein Unendlichkeitssymbol aus zwei verbundenen Herzen. Und überall drängen sich verwahrloste, obdachlos wirkende Städter mit trüben Blicken. Einige von ihnen weinen sogar. Es herrscht das totale Chaos. Die T-Shirt-Leute haben einen Tisch aufgestellt und bieten Kaffee und Bagels an. Vielleicht sollte ich dorthin gehen anstatt in die Mensa, wo ich bei diesem Gewühl wahrscheinlich sowieso nie ankomme.

Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, renne ich die Treppe hinunter und hoffe, dass ich nicht auf Jessicas Familie stoße, die bestimmt ihr Zimmer ausräumt. An der Vordertür treffe ich auf Jenny, die dort Wache steht, und lächle ihr kurz zu.

»Konntest du schlafen?«, frage ich.

Sie schüttelt den Kopf. »Pass auf dich auf, Kay.«

»Möchtest du einen Kaffee oder so?«

Sie lächelt schwach. »Das wäre toll.«

Ich hüpfe zum Tisch, wo die Leute in den blauen T-Shirts Kaffee ausschenken und Bagels verteilen, und greife nach zwei leeren Bechern. Ich will sie gerade füllen, als mir ein Typ hinter dem Tisch die Becher aus der Hand reißt. Ich starre ihn erschrocken an. Ich kenne sein Gesicht, aber nicht seinen Namen. Er geht auf die Easterly wie Spencer und Justine und ist regelmäßig auf ihren Cast-Partys. Weil Justine die Hauptrolle in den meisten Theaterstücken spielt, habe ich ihn ziemlich oft gesehen, aber nie auf der Bühne. Wahrscheinlich ist er für die Technik zuständig.

Sleeve-Tattoos bedecken seine nackten, muskulösen Arme vom Handgelenk bis zu den Ellbogen. Seine Unterlippe ist gepierct und seine lockigen, dunklen Haare fallen ihm über die Augen, als wäre er gerade aufgestanden. In der hautengen Jeans und dem zerrissenen schwarzen Sweater sieht er wie ein abgewrackter Rockstar aus, was die Koks-Schniefnase und die blutunterlaufenen Augen noch verstärken. Ich bemerke das zusammengeknüllte Papiertaschentuch in seiner Hand und frage mich, ob er nicht doch eher geweint hat, als sich in aller Frühe an einem Samstagmorgen ein paar Lines zu ziehen.

Doch meine vorübergehende Sympathie löst sich augenblicklich in Luft auf, als er den Mund aufmacht.

»Jetzt mach dich vom Acker.«

»Tut mir leid, hätte ich dafür bezahlen sollen?«

Er funkelt mich nur böse an.

Dieser Typ ist echt asozial, ein kompletter Spinner, auch wenn er ohne seine »Gequälter Künstler«-Ausstrahlung und sein selbstgefälliges Auftreten ziemlich heiß sein könnte.

»Der ist nicht für dich«, sagt er schließlich.

Ich schaue mich verwirrt um. »Für wen denn dann?«

Er deutet wortlos auf das Gedränge.

»Was?«

Er seufzt und seine dunklen Augen verengen sich, dann beugt er sich vor und flüstert verlegen: »Wir sind wegen Jessicas Leuten hier, den Obdachlosen.«

»Oh …« Ich richte mich auf. »Ich dachte, es geht um die Menschenmenge.«

»Ich meine die Menschenmenge.«

Ich blicke mich noch einmal um und mir wird klar, dass er recht hat. Die Leute, die den Parkplatz bevölkern, sehen nicht nur obdachlos aus, sie sind obdachlos. Die meisten hier sind wahrscheinlich aus Obdachlosenheimen.

Ich drehe mich wieder zum Sleeve-Tattoo-Typ um. »Warum?«

»Sie trauern um eine verlorene Freundin. Im Gegensatz zu anderen.« Er schnipst mit den Fingern. »Nun hau schon ab.«

Ich mustere die Kaffeebecher, die er mir weggenommen hat, und schaue dann zu Jenny hinüber. »Kann ich wenigstens einen haben?«

Er sieht mich verächtlich an. »Nein, kannst du nicht. Geh zu Starbucks.«

»Das ist ein Fünf-Meilen-Fußmarsch. Und der Kaffee ist nicht für mich.« Ich zeige auf Jenny. »Das ist Officer Jenny Biggs. Sie hatte Dienst, als die Leiche gefunden wurde, und hat seitdem nicht geschlafen. Kannst du dir vorstellen, so lange wach zu sein, nachdem ein Mädchen gestorben ist, das du geschworen hast zu beschützen?«

Er seufzt, gießt Kaffee ein und reicht mir den Becher. »Na gut. Aber wenn ich dich davon trinken sehe, setze ich dich auf die schwarze Liste.«

Ich verdrehe die Augen. »Von deinem Obdachlosenheim?«

»Das Glück kann sich schnell wenden, Kay Donovan.«

»Okay, Hank.«

Er wirkt irritiert. »Mein Name ist Greg.«

Ich zwinkere. »Gut zu wissen. Und zieh deine Ärmel runter, es ist eiskalt.«

Ich schlängele mich durch die Menge und bringe Jenny den Kaffee, die ihn wie Schnaps in einem Zug runterkippt.

»Ich hoffe, der Fall wird schnell gelöst, Kleine.« Sie wirft mir ein aufmunterndes Lächeln zu, sieht mir dabei aber nicht in die Augen, was mich ein wenig verunsichert. Ich bemerke, wie sie ihr Handy gegen den Oberschenkel drückt, und frage mich, ob sie etwas Neues erfahren hat, während ich mich mit Greg unterhalten habe.

»Sieht es denn danach aus?«, frage ich, obwohl ich weiß, dass sie nicht darauf antworten wird.

Sie zuckt mit den Schultern und deutet auf das Wohnheim. »Danke für den Kaffee.«

Ich gehe zurück in mein Zimmer, verschlinge ein paar Energieriegel und einen Vitamindrink, dann öffne ich meinen Laptop und googele nach den neuesten Nachrichten. Ich erfahre, dass Jessicas Familie aus der Gegend kommt und dass Jessica eine gemeinnützige Organisation gegründet hat, die Obdachlosen hilft, einen Job zu finden, und ihnen über ein von Jessica entwickeltes Online-Lernprogramm einen Computer-Grundkurs ermöglicht. Ziemlich beeindruckend für eine Highschoolschülerin, selbst an der Bates. Ansonsten finde ich nicht viel. In den Artikeln steht, dass sie kurz nach Mitternacht im See gefunden wurde, die Todesursache aber noch nicht geklärt ist. Ich lese noch ein paar weitere Beiträge. Nirgendwo werden ihre Handgelenke erwähnt.

Außerdem ist in keinem der Artikel von einer mutmaßlichen Fremdeinwirkung die Rede, nur in einem steht, dass ihr Tod untersucht wird. Ich werfe einen Blick auf die verbliebenen Spieltermine, die auf meinem Kalender eingekreist sind. Die Uhr tickt. Jedes Datum ist ungeheuer wichtig und es gibt keinen Grund davon auszugehen, dass die Ermittlungen rechtzeitig abgeschlossen sind, um die Saison fortzusetzen, damit ich von den Scouts entdeckt werde. Meine Eltern werden ausflippen.

Wie bestellt klingelt mein Handy. Es ist mein Vater. Ich zögere, doch dann gehe ich ran.

»Hey, Dad.«

»Wie war das Training, Sportsfreundin?«

»Das musste ich absagen.«

»Wieso?«

»Jemand ist gestorben. Eine Schülerin.«

»Oh. Eine Mitspielerin von dir?«

»Nein, jemand anderes.« Ich setze mich aufs Bett und ziehe die Knie an die Brust. Normalerweise telefoniere ich sonntags mit meinen Eltern und es macht mich ein wenig nervös, dass Dad außer der Reihe anruft. Als wolle er wegen irgendwas eine Bombe platzen lassen.

»Hmm.«

»Ist alles okay?«, frage ich.

»Vielleicht solltest du bei der gewohnten Routine bleiben. Dich nicht aus der Bahn werfen lassen. Du weißt schon, um der jüngeren Mädels willen. Um mit gutem Beispiel voranzugehen.«

Plötzlich dämmert mir, dass er wahrscheinlich schon von Jessicas Tod gehört hat und genau aus diesem Grund anruft. »Es war nicht meine Entscheidung, Dad. Die Schule hat alle sportlichen Aktivitäten abgesagt, solange der Todesfall untersucht wird.«

»Was?«, höre ich die Stimme meiner Mutter im Hintergrund. Na toll. Ich hätte wissen müssen, dass sie mithört. In Gegenwart meiner Mutter darf man nicht vom Tod sprechen. Ich grabe die Fingernägel in meinen Nacken, um mich für diesen Fehler zu bestrafen.

»Frag sie wegen Montag.« Ich höre, wie sie sich den Hörer schnappt. »Was ist mit dem Spiel am Montag?«

Ich rolle mich zu einem Ball zusammen und kneife die Augen zu. »Ist gestrichen. Ich kann absolut nichts dagegen tun. Ich bin auch nicht gerade froh darüber, genau wie ihr. Glaub mir.«

Mein Vater flucht im Hintergrund.

»Das ist nicht akzeptabel«, sagt meine Mutter. »Hast du mit Dr. Klein gesprochen?«

»Nein, Mom. Ich wende mich nicht an die Schulleiterin. Ich kann sie doch nicht einfach anrufen und nach irgendwas verlangen. Sie ist nicht der Kongress.«

»Du hast es nicht mal versucht? Soll ich es probieren? Es ist nicht der richtige Zeitpunkt, um sich einfach zurückzulehnen und auf das Beste zu hoffen. Wir müssen weiter an dem Plan festhalten.«

»Jemand ist gerade gestorben«, sage ich leise. Und mit Absicht. Denn ich muss dieses Gespräch beenden.

Sie will etwas sagen, aber ihre Worte gehen in einem tiefen Seufzen unter.

Ich beiße mir auf die Unterlippe. Ein langes Schweigen entsteht. Dann beginnt meine Mutter wieder zu sprechen, ihre Stimme bebt. »Gibt es sonst noch etwas, worüber du reden willst, Schatz?«

»Nein«, sage ich und halte den Atem an, bis es sich anfühlt, als würde mein Kopf jeden Moment platzen.

»Lass uns bald wieder telefonieren«, sagt sie.

Mein Vater kommt noch einmal ans Telefon. »Zeit für Brainstorming. Ruf die Leute an, schreib Briefe. Was auch immer nötig ist, um dir die Angebote zu sichern. Du hast viel zu hart gearbeitet, um dir jetzt etwas durch die Lappen gehen zu lassen. Du stehst das durch, wie alles andere. Alles klar?«

»Alles klar.«

Ich lege auf und stoße Luft mit einem enormen Zischen aus, dann schlage ich auf meine Matratze ein und drücke mein Kissen fest an die Brust. Ich wünschte, Spencer wäre nicht so überaus untreu. Ich wünschte, Justine wäre nicht aufgewacht, dann könnte ich Brie anrufen, um mich abzureagieren. Ich wünschte, meine Eltern würden nur ein Mal den Mund halten und zuhören. Nichts läuft so, wie ich es gern hätte. Ich kann am Montag nicht spielen. Mir sind die Hände gebunden. Zur Hölle mit dir, Jessica Lane.

Ich setze mich auf und zwinge mich zu einem tiefen, beruhigenden Atemzug. Ich kenne die Todesursache, ich habe die Leiche gesehen und ich weiß, dass ihre Familie und ihre Organisation aus der Umgebung sind. Aufgeschnittene Pulsadern, hoher Druck an der Schule. Wenn die Polizei keinen Selbstmordfall lösen kann, liegt das nur daran, dass die Beamten überfordert sind. Aber das bin ich nicht. Ich habe es schon erlebt. Ich musste hilflos mit ansehen, wie alles um mich herum zusammenbrach, war zu langsam, um es aufzuhalten, bis alles in Trümmern lag. Meine beste Freundin und mein Bruder sind tot, mein Vater war am Boden zerstört, meine Mutter stand kurz davor, ihr Leben ebenfalls wegzuwerfen. Und ich, eingeschlossen in Eis.

Ich schließe die Finger um mein Handy und stelle es auf stumm, die Stimme meiner Mutter hallt noch in meinem Kopf wider. Ich bringe das in Ordnung. Ich kann das. Bevor auch das nächste Spiel abgesagt wird.

Ein Ping kündigt eine neue E-Mail an und ich sehe zum Computerbildschirm hinüber. In der Betreffzeile steht »Update Sportstipendium«. Mein Herz beginnt zu rasen. Ich ziehe den Laptop zu mir und öffne die Nachricht.

Liebe Kay,

ich bedaure, dir mitteilen zu müssen, dass mir zweifelhafte Handlungen aus deiner Vergangenheit zu Ohren gekommen sind und deine Berechtigung, ein Sportstipendium zu erhalten, auf dem Spiel steht. Mir selbst wird es nicht möglich sein, ein College zu besuchen, deshalb hast du mein aufrichtiges Mitgefühl. Aus diesem Grund wäre ich vielleicht auch bereit, über deine Vergehen hinwegzusehen, aber nur, wenn du einverstanden bist, mir bei der Vollendung meines letzten Projektes zu helfen.

Klick auf den Link am Ende dieser E-Mail und folge meinen Anweisungen. Nach jeder Aufgabe, die du ausgeführt hast, wird ein Name aus der Liste verschwinden. Solltest du bei einer der Aufgaben innerhalb von vierundzwanzig Stunden versagen, wird ein Link dieser Website zusammen mit einem Beweis deines Verbrechens an deine Eltern, die Polizei und jede Schülerin der Bates Academy geschickt.

Solltest du es schaffen, wird niemand je erfahren, was du getan hast.

Ganz herzlich

deine Jessica Lane

PS: Auch auf die Gefahr hin, dass es klischeehaft klingt, Kay: Es wäre nicht gerade gut für dich, wenn du mit der Polizei sprichst. Das war es nie, stimmt’s?

Die E-Mail wurde von Jessicas Bates-Account verschickt. Für einen Moment schießt mir der Gedanke durch den Kopf, dass sie noch am Leben ist, und ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Vielleicht ist das alles nur ein gewaltiger, surrealer Irrtum. Was natürlich auch bedeuten würde, dass wir ein blutendes Opfer allein im See gelassen haben. Es wäre ein Wunder, aber wir wären wahrscheinlich des versuchten Mordes schuldig oder etwas in der Art. Oh Gott, ich bin erledigt. Dann beruhige ich mich wieder. Ich weiß ganz sicher, dass sie tot ist.

Es ist möglich, dass eine andere Person die E-Mail von ihrem Account gesendet hat. Aber der Gedanke ist so grotesk, dass ich mir das kaum vorstellen kann. Sie muss die Nachricht vor ihrem Tod geschrieben und zeitlich so geplant haben, dass sie erst jetzt bei mir angekommen ist. Anhand der Formulierung sieht es so aus, als hätte sie gewusst, dass sie sterben würde. Ihr letztes Projekt. Kein Collegebesuch. Vielleicht interpretiere ich aber auch nur zu viel hinein. Irgendwann steht immer ein letztes Projekt bevor und es gibt eine Menge Gründe, nicht aufs College zu gehen.

Diese E-Mail könnte die Cops davon überzeugen, dass sie doch nicht ermordet wurde. Ich könnte sie der Polizei weiterleiten und die Ermittlungen damit womöglich sofort beenden.

Aber der Nachtrag jagt mir einen kalten Schauer über den Rücken.

Am Ende der Seite steht der Link jessicalanefinalproject.com. Ich klicke darauf.

Der Bildschirm wird für eine Weile schwarz, dann erscheint die Abbildung einer rustikalen Landhausküche mit gusseisernem Backofen. Langsam tauchen Buchstaben auf der Scheibe des Ofens auf, bis der Name der Website glasklar vor mir steht:

Rache ist süß: Eine köstliche Anleitung

zum Beseitigen von Feinden.

Eine wie wir

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